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03.01.2016, 20:10 Uhr
Fridolin Schley
Text & Debatte
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© Juliane Brückner

Eine Fluchtgeschichte (4): aufgeschrieben von Fridolin Schley

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© Max Kratzer

Im Vorfeld des Literaturfests München hat eine Reihe von Münchner Autorinnen und Autoren Flüchtlinge kennengelernt und gemeinsam mit ihnen ihre Fluchtgeschichten aufgeschrieben. Die Hoffnung im Gepäck hieß in der zweiten Festivalwoche die darauf aufbauende Veranstaltungsreihe des forum:autoren, und es ist zugleich der Titel einer Anthologie, die auf Anregung von REFUGIO München im Allitera Verlag erschienen ist. Darin finden sich Texte u.a. von Albert Ostermaier, Tilman Spengler, Friedrich Ani, Lena Gorelik, Doris Dörrie oder Dagmar Leupold. Die entstandenen Porträts, Reportagen, Interviews und Berichte wurden vom 23. bis 27.11.2015 im Lyrik Kabinett vorgestellt, meist auch mit Beteiligung der Geflüchteten. Wir publizieren einen Auszug aus dem Beitrag des Schriftstellers Fridolin Schley

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Gesichter sehen sie an 

Später scheint es fast so, aber die Veränderungen kommen nicht über Nacht wie ein Albtraum, aus dem es kein Erwachen gibt, sondern allmählich, über einen längeren Zeitraum, all die Vorschriften und Verbote, die Patronenmänner, die Gewalt und die Toten, was manches noch schwerer zu verstehen macht – dass es da eine Zeit gibt, ganze Wochen und Monate, in der das alte und das neue Leben gleichzeitig da sind, übereinanderliegen, und das Dunkle erst nach und nach die Oberhand gewinnt, wie ein langsam eindämmernder Himmel, an dem sich zuletzt nur noch die winzigen Lichter der Sterne behaupten – wie der Alltag, der weiter vor sich geht, die Schule, die Amal vier oder fünf Stunden am Tag besucht, es gefällt ihr, wenn sie morgens alle aufstehen, um die somalische Hymne zu singen, Somaliyaay toosoo, Toosoo isku tiirsada ee, und nach der Schule hilft sie ihrer Mutter im Haus und mit den kleinen Geschwistern, die es wie die meisten Kinder gewöhnt sind, dass es für alles Regeln gibt und diese sich ändern, je älter man wird – und so nehmen Amal und ihre Freunde vieles erst einmal hin und zucken mit den Schultern oder kichern manchmal sogar darüber, dass die Väter jetzt auf der Straße keinen Kat mehr kauen sollen, bestimmte Frisuren von den Köpfen verschwinden und die Männer sich nach und nach alle dichte Bärte wachsen lassen, irgendwann sogar Amals Vater, dem die Stoppeln zunächst bloß auf Oberlippe und Kinn sprießen, nur langsam und vereinzelt auch an den Wangen – andere Männer, darunter Nachbarn und Freunde, scheinen mit ihren Bärten auch ihr Wesen zu verändern, tragen sie bald stolz in der Moschee zur Schau, schreiten plötzlich aufrechter und selbstbewusster durch den Ort und wissen über jede neue Regel immer als Erste Bescheid – einige von ihnen gehen mit ihren Familien zu den öffentlichen Auspeitschungen und stülpen ihren Frauen dafür Socken über die Hände, um sie ganz zu bedecken, und ein paar Witwen und Alte bekommen etwas Geld von den Patronenmännern und grüßen sie fortan freundlich auf der Straße – aber am meisten stört Amals Brüder und Cousins eigentlich zunächst nur, dass sie draußen nicht mehr Fußball spielen dürfen, während Amal und ihre Freundinnen in der Nähe seilhüpfen, manchmal noch in Schuluniform, in der sie mehrmals die Woche aus dem Nachmittagsunterricht kommt, und es ärgert die Kinder, dass das örtliche Al-Furqan-Kino geschlossen wird, wo sie samstags nach dem Einkaufen oft hingehen, und dass in den Regalen keine 2Pac-CDs mehr stehen und ihre ersten Büstenhalter jetzt im Schrank bleiben müssen, wenn sie mit der Mutter zum Markt gehen, um Gemüse zu verkaufen – mit den bunten Gewändern der Frauen, die sie, wenn sie es sich leisten können, nun gegen dunkle Abayas und Schleier einzutauschen haben, verschwinden langsam die Farben aus den Straßen, aus dem Alltag, so dass es selbst bei gutem Wetter wirkt, als liege eine dunkle Trübung über dem Dorf, und so richtig versteht Amal nicht, woher diese neuen Regeln kommen oder wo sie geschrieben stehen, aber ihr genügt schon der Anblick der Männer, die streng ihre Einhaltung überwachen – Soldaten in Tarnfleckhosen oder mit langen grünen Gewändern und bis unter die Knie aufgebauschten Hosen, dazu Sandalen und Patronenschärpen, schwere Gewehre und schwarze oder rot-weiße Tücher über den Gesichtern – am Ende der Dorfstraße stehen sie oft auf einer Anhöhe und überblicken das Treiben, kontrollieren Fuhrwerke, schicken Mädchen und Frauen nach Hause, die ohne Begleitung eines männlichen Vormundes unterwegs sind, bellen ihre Befehle in einer eigenen Mischsprache aus Somali und Arabisch, das Gewehr wie der Querbalken eines Kreuzes in den Nacken geklemmt, die Arme links und rechts darübergelegt, so dass am Nachmittag die Sonnenstrahlen auf ihren silbernen Digitaluhren blitzen – immer weht irgendwo eine tiefschwarze Fahne mit der weißen Schrift, dem ersten Teil der Schahada, darunter das Siegel Mohammeds, die Inschriften kann Amal entziffern, seit sie in der Schule etwas Arabisch gelernt hat, doch die Erwachsenen sprechen nicht viel über die neuen Herren des Dorfes, und wenn, dann flüsternd, die Blicke zu Boden gerichtet, und nur selten vor den Kindern – neue Gesetze, heißt es … Sharia ... Al-Shabaab, das gehe vorüber, bald werde die Armee zurückschlagen, das sagen sie im Radio, auf den Sendern, die jetzt verboten sind, aber bis die Armee vordrängt, müssen sie gut aufpassen, denn mit den Soldaten, die draußen patrouillieren, erst vereinzelt, dann bald systematisch und rund um die Uhr, sei nicht zu verhandeln, die Brutalsten unter ihnen hätten schon Krieg gegen die Äthiopier geführt, und seit Jahren kämpfen sie um die Hauptstadt Mogadischu, die nur fünfzig Kilometer von Amals Dorf entfernt ist – trotzdem sind sie bisher von alldem fast ganz verschont geblieben, der Krieg, das ist für Amal lange nur der Vater vor dem Radiogerät, der die Frontberichte hört und immer wieder für Minuten, in denen er ganz im schweren Rauschen verschütteter Kanäle und dem statischen Fiepen der Frequenzen zu versinken scheint, am Regler dreht, nachmittags um zwei und abends um sieben und um neun hört er BBC, so gebannt und ungeteilt aufmerksam wie sonst keinem Menschen hört er der Sprecherin zu, bis Amal irgendwann beschließt, auch Reporterin zu werden und über den Bürgerkrieg zu berichten, obwohl in der Schule Biologie und Chemie ihre besten Fächer sind – der Krieg, das sind manche Nächte, in denen donnernd schwere Transporterkolonnen über die Hauptstraße rasen auf dem Weg nach Mogadischu, und Amal stellt sich dann im Halbschlaf schwitzende, blutrünstig grinsende Milizionäre mit Goldzähnen vor, die ihr bedrohlich zuzwinkern, und einmal, als sie mit ihrer Mutter am Shabeelle-Ufer Wäsche gewaschen hat, ist der merkwürdig aufgequollene, rücklings im Wasser liegende Körper eines Uniformmannes ganz langsam und friedlich an ihnen vorbeigetrieben – zu spät hat die Mutter Amal die Hand vor die Augen gelegt, und die Wangen des Toten waren so aufgebläht, dass es aussah, als wollte er jeden Moment einen Mund voll Wasser nach ihnen spucken, viel mehr aber hat sie vom Krieg lange nicht mitbekommen, bis ihr Herz beginnt, immer öfter zu stolpern, kurz auszusetzen, bis

zu den Geldbußen, der Prügel, bis

zu den Urteilen ohne Gericht, bis

zu stöhnenden Blutknäueln im Staub, bis

zu den kahlen Schädeln, rasiert zum Zeichen der Schande, bis

zu den abgehackten Händen, bis

zu dem Liebespaar am Strick, das dort baumelt, bis

Amal fünfzehn ist und die Männer zu ihrem Vater kommen.

 

Fluchtgeschichten im Lyrik Kabinett: Roya Karimi & Asta Scheib. Mit Fridolin Schley (25.11.2015) © Juliana Krohn

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