front:text – Die Schriftstellerin Sandra Hoffmann berichtet über ihre Erfahrungen in Albanien
Albert Ostermaier, Kurator des forum:autoren beim vergangenen Literaturfest München, wollte mit seinem Programm front:text den aktiven Dialog mit Geflüchteten anstoßen und Perspektivwechsel anregen: Bereits im Vorfeld des Festivals waren Autorinnen und Autoren an aktuelle Brennpunkte gereist. Nuran David Calis, Davide Enia und Sandra Hoffmann fuhren an zentrale Ankunfts- und Herkunftsorte von Flüchtlingen und brachten ihre individuellen Eindrücke von dort nach Deutschland mit zurück. Ihre 'Fronttexte' stellten sie im Gespräch mit Albert Ostermaier am 22. November im Literaturhaus München vor. Wir publizieren den ungekürzten Beitrag der Schriftstellerin Sandra Hoffmann, die in Kooperation mit dem Goethe-Institut nach Tirana in Albanien reiste.
*
Wo du stehst
Darauf kommt es an, wo du stehst.
Wo du hineingeboren wirst, wer deine Mutter ist, wer dein Vater.
Nichts hast du dir ausgesucht, und dann stehst du da.
Und genau darauf kommt es an.
Und zuerst stehst du eigentlich nicht einmal da, du liegst da, du bist herausgefallen aus einem warmen weichen Körper, und dann liegst du da.
Und wenn das Schicksal es mit dir nicht so ganz gut meint, liegst du da an einem Fluss in einer Baracke, in der es keinen Strom gibt und kein fließendes Wasser. Nur den Fluss. Es gibt den Fluss, und der wird, wenn es regnet, ein Strom, und wenn es noch mehr regnet, erreicht der Fluss, der jetzt ein gewaltiger Strom ist, deine Baracke. Da liegst du. Und wenn du nicht mitgeschwemmt wirst, hast du schon einmal Glück.
Oder, wer weiß das?
Man darf es nicht denken, aber man denkt das: Man denkt, dass es sogar ein Glück sein kann, wenn der Fluss kommt und dich wegschwemmt, weil du dann nur diese ein-zwei Minuten noch mit dem Leben kämpfen musst und nicht ein ganzes Leben lang.
Das darf man nicht denken, das will man auch nicht denken, weil man keinen Tod denken will und keinen Tod wünschen will und schon gar nicht einem Menschen, der noch nichts von der Welt gesehen hat.
Aber es kommt darauf an, wo du stehst.
*
Und jetzt bist du dran. Denn du stehst dabei.
Du stehst an einem Fluss oder du stehst an einer der schönsten Wiesen der Welt im Abendlicht und du stehst in einer Pfütze und du stehst in einer Müllkippe und du stehst zwischen Baracken, und du stehst nicht einmal zwischen Baracken.
Du wagst dich nicht weiter.
Du stehst neben notdürftig gezimmerten Schutzräumen aus Decken, Pappen, Schnüren, Plastik und Reifen und ohne Dach. Du stehst da, und es ist dir weit mehr als nur unangenehm, dass du da stehst, weil du dich fühlst wie ein Eindringling. Weil du da stehst, mit deinen heilen Schuhen und sauberen Hosen, mit deiner wasserdichten Tasche samt Portemonnaie und Pass und einem Rückflugticket nach Deutschland. Weil du genau so da stehst neben Menschen in schmutzigen Kleider, mit braunen Zähnen oder zahnlosen Mündern, neben Frauen mit kranken Kindern und Kindern, die noch keine Frauen sind, aber schon Kinder haben. Weil du so leichtfüßig sauber da stehst, während alle, die vor dir stehen, sich die größte Mühe geben, nicht ganz schmutzig vor dir zu stehen oder wo auch immer. Da stehst du in einem Slum, der jenen in Indien in nichts nachsteht, mitten in Europa.
Da stehst du und du versprichst, ich werde von euch erzählen!
Da stehst du und der Älteste aus dem Lager brüllt seine Wut heraus, als du das sagst, seine Not, darüber, dass so viele schon da waren, aber dass sich keiner um ihn und seine Familie und um die anderen Leute der Kommune schert, auch du nicht. Und du denkst, dass du dich zum Teufel scheren solltest, weil du nichts besser machst, aber du stehst da, weil du es so entschieden hast.
Du bleibst.
Da stehst du und der Alte sagt, du siehst, wie es hier aussieht, und du siehst, wie wir leben, und du siehst diese Pfütze und du siehst die kranken Kinder und du siehst die Villen dort droben und du siehst die Häuser da hinter uns, sie stehen leer. Siehst du das? Und du siehst den brüllenden schönen Alten, fast ohne Zähne, siehst seine wutdunklen Augen und du drehst dich um. Und du siehst die leerstehenden Häuser.
Und du willst sagen, warum könnt ihr da nicht einziehen? Und bevor du es sagst, weißt du es schon.
Und der Alte brüllt, weil sie uns nicht haben wollen, weil wir Dreck sind, weil wir kein Geld haben, weil wir keine Arbeit bekommen, weil wir stinken, weil wir keinen Strom haben, weil wir Zigeuner sind. Weil wir Zigeuner sind, bekommen wir keine Arbeit, haben wir kein Geld, haben wir keinen Strom, haben wir kein fließendes Wasser, haben wir nur den Müll und wir stinken.
Du stehst da, und du verstehst, dass du etwas hörst, was wahr ist, und es macht dich sprachlos: Weil wir Zigeuner sind, sind wir Zigeuner.
Und du spürst dieses Gefühl der Ausweglosigkeit, spürst, dass der Korridor, durch den das Licht hier kommt, nur ein sehr schmaler ist und jetzt ohne Regen in der Abendsonne vielleicht noch etwas heller aussieht als in ein oder zwei Monaten, wenn der Winter kommt und der Regen, die Kälte.
Du stehst da und der Alte brüllt, er werde den Bürgermeister umbringen, wenn er komme, und du nickst, und du stehst da, und jemand fragt nach Ibuprufen. Und du stehst da und jemand fragt nach Geld und jemand fragt nach Essen für die Kinder. Und du stehst da, und nicht weit entfernt fällt eine alte Frau in den Dreck neben ihrer Hütte. Und du stehst da, und die sechszehnjährige Mutter neben dir stillt ihr etwa zwanzig Monate altes Kind, und du siehst, wie liebevoll sie mit ihm umgeht, und du denkst, dass dieses Kind es gut hat, weil es noch von nichts etwas weiß. Und du denkst auch, dass niemand von diesem Kind weiß, weil niemand von ihm wissen will. Weil wir mitten in Europa sind und Albanien lieber behauptet, es leben darin achttausend Roma, als es wissen will, dass es mehr als einhundertausend sind. Einhunderttausend Roma.
Roma sitzen in Müllcontainern, weil sie auf den Müll warten. Roma sitzen neben Müllcontainern. Roma stehen neben Müllcontainern. Roma stehen auf Müllkippen und warten auf neuen Müll. Roma ziehen Karren mit sortiertem Müll durch die Stadt. Roma sitzen zwischen Altkleidern an Straßenrändern der Vorstadt. Dreißigtausend Roma in Tirana leben vom Müll. Plastik ist silber. Blech ist gold. Gebrauchte Kleider sind auch etwas wert.
Roma wohnen in Hütten, in Baracken und selten in Hütten, die fast schon Häuser sind. In diesen Häusern kann man vom Boden essen, so sauber ist es darin.
*
Die Kommune am Fluss besuche ich zwei Mal. Ihre wilden Hunde stehen am Wasser und glotzen hinein und hinüber auf eine gigantische Müllkippe. Es ist der Arbeitsplatz. Die Katzenkinder ziehen mit den Hunden umher. Es gibt Hühner, die hält jemand auf einem Gelände, das einer Familie gehört, die es für mehrere Monate vermietet hat, um mit dem Geld Bustickets nach Deutschland zu kaufen.
Vielleicht kommen sie nie wieder. Der Junge, der das erzählt, strahlt. Deutschland. Fussball. Er hebt den Daumen.
Vor den Häusern oder Hütten stehen vor allem Frauen und Kinder. Wer hier wohnt, wohnt illegal. Hier, das meint das Flussbett am Rande der Stadt. Hier wohnt der Fluss. Je weiter entfernt vom Fluss sie wohnen, desto besser sind sie dran. Je weiter vom Fluss entfernt, desto befestigter sind die Hütten. Die Frauen einer Großfamilie stehen vor einer besseren Hütte. Auch sie strahlen. Sie sind aus Deutschland zurück seit drei Tagen. Sie sind nach drei Monaten abgewiesen worden.
So viele Menschen aus Syrien, sagen sie. Krieg, sagen sie.
Das stimmt, sage ich, aber wen der Fluss fast wegschwemmt und wer so leben muss wie ihr, hat auch Asyl verdient. Sie zucken mit den Schultern.
Deutschland ist gut, sagen sie.
Das schwer kranke Kind hat in Deutschland eine Operation bekommen, das ihm das Leben rettete. Es ist jetzt vollkommen gesund. Die Menschen in Deutschland sind höflich. In Deutschland war man freundlich. Du kommst aus Deutschland? Bravo. Bravo.
Zwei Tage später hat Deutschland beschlossen, Albanien als sicheres Herkunftsland einzustufen.
Und du stehst da und du weißt, all jene Familien, die jetzt oder vor nicht allzu langer Zeit nach Deutschland gereist sind, die ihre Hütten gegen Bustickets eingetauscht haben, ihr Wohnrecht verkauft haben, werden bald zurück kommen, weil sie nicht die winzigste Chance auf Asyl haben in Deutschland, weil Dreck und Hunger und Diskriminierung nicht im Massnahmenkatalog für Asyl steht. Und sie werden hier stehen oder anderswo am Rande dieser Stadt und gar nichts mehr haben, wenn nicht irgendjemand sich ihrer annimmt. Irgendjemand bedeutet in Albanien niemand.
Die Großfamilie steht im Hof ihrer Einzimmerhütte ohne Strom, aber mit Brunnen, und bittet mich herein. Ich bin ein Überraschungsgast, aber als sie mich auf dem Weg zwischen den Häusern mit meinem Dolmetscher und umringt von wenigstens zwanzig Menschen gesehen haben, wollen sie, dass ihre Kinder mit mir Deutsch sprechen. Auch sie sind gerade zurückgekommen. Und wieder ist Deutschland wunderbar. Alle sind sehr höflich. Alle sind sehr nett gewesen zu ihnen.
Warum ist Deutschland so toll, frage ich?
Man bekommt Unterkunft und Essen und etwas Geld zum Leben, sagen sie.
Dass das nicht für immer sein würde, wenn sie blieben, verstehen sie nicht.
Sechs Monate haben sie nicht davon abbringen können, dass Deutschland das Paradies ist.
Warum, frage ich noch einmal.
Und es gibt eine überzeugende Antwort von Cristina, der Tochter der Familie, die auf Deutsch antwortet: Wir konnten in die Schule gehen, und die Lehrerin war nett zu uns.
In Albanien ist niemand nett zu ihnen. Roma stinken, Roma tragen löchrige Schuhe, Roma sind Diebe. Die Familie hat etwas Geld gespart, während sie in Deutschland war und auf Asyl hoffte. Davon haben sie sich jetzt eine riesige Couch für die Großfamilie gekauft und ein Küchenbuffet. Sie wünschen sich Normalität. Sie sind stolz, und besonders die Großmutter ist stolz, und sie ist sehr, sehr schön. Sie leben ohne Strom, und das Wasser kommt aus einem Brunnen. Man kann es nicht trinken.
Und du stehst da, und sie fragen, ob du einen Tee haben möchtest, und du denkst an deine Typhus-Impfung und an deine Hepatitisimpfung und du schämst dich, dass du jetzt daran denkst, und freundlich sagst du, nein danke, und du denkst, dass du ein Feigling bist. Und alle stehen sie um dich herum, als du wieder gehst, nach ein oder zwei Stunden, und winken: „tschüß", rufen sie. So wie sie es rufen, klingt das wie eine Liebkosung. „Tschüß" ist ein Sehnsuchtswort in der Roma-Sprache.
*
Die Familien T. sind verwandt, weil die beiden Männer der Familie Brüder sind. Sie stehen auf einer Betonplattform neben einem Abgrund, auf dem einmal Häuser standen. Ein Bagger steht im Loch. Eine Katze kommt vorbei. Eine Frau mit Harke steht hinter mir und schimpft laut. Die Tochter wäscht Teppiche. Jemand gibt ihr dafür Geld. Der, den ich Titi T. nenne, weil er mich sehr an den Geiger Titi Winterstein erinnert, ist wenige Tage zuvor mit seiner Familie aus Deutschland zurückgekehrt. Der Asylantrag wurde abgelehnt. Aber seine Frau hat eine Brustoperation bekommen und ist gesund.
Dafür bin ich unendlich dankbar, sagt Titi. Und er zieht aus einem großen Rucksack, der der Aktenordner der Familie ist, einen Arztbrief mit der Diagnose.
Ist sie wirklich gesund, will er wissen.
Fibroadenom lese ich. Sie sind wirklich gesund, sage ich zu Titis Frau, und dass das kein Krebs sei.
Ihr Haus ist abgerissen worden, während sie weg waren.
Wo sie jetzt hingehen? Sie zucken mit den Schultern.
Ich sitze auf zusammengenagelten Stühlen. Die Frau, die wohl nicht zur Familie gehört und viel jünger ist, als ich denke, steht mit der Harke noch immer hinter mir, und als ich sie am übernächsten Tag zum zweiten Mal erlebe, weiß ich, sie tut nichts, sie ist nur ein bisschen verrückt.
Der Bruder von Titi T. zeigt mir beim zweiten Besuch eine Liste von 1993, auf der sein Haus verzeichnet ist, als eines, für das er Entschädigung bekommen soll, falls es abgerissen wird. Darunter ein Stempel samt Unterschrift von der damaligen Regierung. Und jetzt soll auch sein Haus in den nächsten Tagen abgerissen werden. Deshalb weichen er und seine Familie keinen Schritt von der Stelle.
Lassen wir es einen Tag allein, kommen die Bagger, sagt Herr T..
Sie haben das ja gerade am Haus von Titi erlebt. Sie wollen bleiben oder Entschädigung. Entschädigung bekommen nur die, die keine Roma sind, sagt Herr T.. Die Regierung ist korrupt, und jede Regierung macht neue Gesetze, die alten treten außer Kraft. Versprechen gelten nichts. Und Versprechen an Roma gelten am allerwenigsten.
Warum, frage ich, können Sie sich das erklären?
Weil wir nichts wert sind. Sagt Herr T., der ein großgewachsener, imposanter Mann ist, und als ich beim zweiten Mal zu ihnen komme, um mich für das erste Gespräch zu bedanken und nach den Töchtern zu fragen, die Asyl in Deutschland beantragt haben, schaut er mich an, wenn er mit mir spricht.
Warum seid ihr Roma nichts wert, warum ist das so, frage ich ihn?
Weil die sagen, wir stinken, wir stehlen, wir wollen nicht arbeiten. Er macht eine wegwerfende Handbewegung. Wir stinken aber nicht. Wir waschen uns und schicken die Kinder in die Schule. Sie müssen lernen, sie müssen es besser haben. Bei der letzten Regierung war ich staatlicher Maler, sagt er. Die neue Regierung hat allen Angestellten der alten Regierung gekündigt.
Das stehen wir nun zusammen auf der Plattform, die bald eine große Straße sein wird, Herr T. und seine Frau und mein Dolmetscher und ich, und ein bisschen sind wir wie ratlose Freunde. Als ich wir gehen und schon fast am Auto sind, ruft jemand nach uns. Es ist Titi, er wollte „Tschüß" sagen.
*
Ich wollte sehr gerne Herrn T.s große Tochter in einem Aufnahmelager in der Nähe von Frankfurt besuchen, ich habe es versprochen. Aber es gelingt nicht, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Sie meldet sich nicht zurück. Und ich denke, am Ende steht man hier oder dort, und nur wenn man sich traut, ganz ganz nah heranzutreten, kann man für einen Moment gemeinsam irgendwo stehen. Eine Stimme am Telefon aber ist niemand.
front:text – Die Schriftstellerin Sandra Hoffmann berichtet über ihre Erfahrungen in Albanien>
Albert Ostermaier, Kurator des forum:autoren beim vergangenen Literaturfest München, wollte mit seinem Programm front:text den aktiven Dialog mit Geflüchteten anstoßen und Perspektivwechsel anregen: Bereits im Vorfeld des Festivals waren Autorinnen und Autoren an aktuelle Brennpunkte gereist. Nuran David Calis, Davide Enia und Sandra Hoffmann fuhren an zentrale Ankunfts- und Herkunftsorte von Flüchtlingen und brachten ihre individuellen Eindrücke von dort nach Deutschland mit zurück. Ihre 'Fronttexte' stellten sie im Gespräch mit Albert Ostermaier am 22. November im Literaturhaus München vor. Wir publizieren den ungekürzten Beitrag der Schriftstellerin Sandra Hoffmann, die in Kooperation mit dem Goethe-Institut nach Tirana in Albanien reiste.
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Wo du stehst
Darauf kommt es an, wo du stehst.
Wo du hineingeboren wirst, wer deine Mutter ist, wer dein Vater.
Nichts hast du dir ausgesucht, und dann stehst du da.
Und genau darauf kommt es an.
Und zuerst stehst du eigentlich nicht einmal da, du liegst da, du bist herausgefallen aus einem warmen weichen Körper, und dann liegst du da.
Und wenn das Schicksal es mit dir nicht so ganz gut meint, liegst du da an einem Fluss in einer Baracke, in der es keinen Strom gibt und kein fließendes Wasser. Nur den Fluss. Es gibt den Fluss, und der wird, wenn es regnet, ein Strom, und wenn es noch mehr regnet, erreicht der Fluss, der jetzt ein gewaltiger Strom ist, deine Baracke. Da liegst du. Und wenn du nicht mitgeschwemmt wirst, hast du schon einmal Glück.
Oder, wer weiß das?
Man darf es nicht denken, aber man denkt das: Man denkt, dass es sogar ein Glück sein kann, wenn der Fluss kommt und dich wegschwemmt, weil du dann nur diese ein-zwei Minuten noch mit dem Leben kämpfen musst und nicht ein ganzes Leben lang.
Das darf man nicht denken, das will man auch nicht denken, weil man keinen Tod denken will und keinen Tod wünschen will und schon gar nicht einem Menschen, der noch nichts von der Welt gesehen hat.
Aber es kommt darauf an, wo du stehst.
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Und jetzt bist du dran. Denn du stehst dabei.
Du stehst an einem Fluss oder du stehst an einer der schönsten Wiesen der Welt im Abendlicht und du stehst in einer Pfütze und du stehst in einer Müllkippe und du stehst zwischen Baracken, und du stehst nicht einmal zwischen Baracken.
Du wagst dich nicht weiter.
Du stehst neben notdürftig gezimmerten Schutzräumen aus Decken, Pappen, Schnüren, Plastik und Reifen und ohne Dach. Du stehst da, und es ist dir weit mehr als nur unangenehm, dass du da stehst, weil du dich fühlst wie ein Eindringling. Weil du da stehst, mit deinen heilen Schuhen und sauberen Hosen, mit deiner wasserdichten Tasche samt Portemonnaie und Pass und einem Rückflugticket nach Deutschland. Weil du genau so da stehst neben Menschen in schmutzigen Kleider, mit braunen Zähnen oder zahnlosen Mündern, neben Frauen mit kranken Kindern und Kindern, die noch keine Frauen sind, aber schon Kinder haben. Weil du so leichtfüßig sauber da stehst, während alle, die vor dir stehen, sich die größte Mühe geben, nicht ganz schmutzig vor dir zu stehen oder wo auch immer. Da stehst du in einem Slum, der jenen in Indien in nichts nachsteht, mitten in Europa.
Da stehst du und du versprichst, ich werde von euch erzählen!
Da stehst du und der Älteste aus dem Lager brüllt seine Wut heraus, als du das sagst, seine Not, darüber, dass so viele schon da waren, aber dass sich keiner um ihn und seine Familie und um die anderen Leute der Kommune schert, auch du nicht. Und du denkst, dass du dich zum Teufel scheren solltest, weil du nichts besser machst, aber du stehst da, weil du es so entschieden hast.
Du bleibst.
Da stehst du und der Alte sagt, du siehst, wie es hier aussieht, und du siehst, wie wir leben, und du siehst diese Pfütze und du siehst die kranken Kinder und du siehst die Villen dort droben und du siehst die Häuser da hinter uns, sie stehen leer. Siehst du das? Und du siehst den brüllenden schönen Alten, fast ohne Zähne, siehst seine wutdunklen Augen und du drehst dich um. Und du siehst die leerstehenden Häuser.
Und du willst sagen, warum könnt ihr da nicht einziehen? Und bevor du es sagst, weißt du es schon.
Und der Alte brüllt, weil sie uns nicht haben wollen, weil wir Dreck sind, weil wir kein Geld haben, weil wir keine Arbeit bekommen, weil wir stinken, weil wir keinen Strom haben, weil wir Zigeuner sind. Weil wir Zigeuner sind, bekommen wir keine Arbeit, haben wir kein Geld, haben wir keinen Strom, haben wir kein fließendes Wasser, haben wir nur den Müll und wir stinken.
Du stehst da, und du verstehst, dass du etwas hörst, was wahr ist, und es macht dich sprachlos: Weil wir Zigeuner sind, sind wir Zigeuner.
Und du spürst dieses Gefühl der Ausweglosigkeit, spürst, dass der Korridor, durch den das Licht hier kommt, nur ein sehr schmaler ist und jetzt ohne Regen in der Abendsonne vielleicht noch etwas heller aussieht als in ein oder zwei Monaten, wenn der Winter kommt und der Regen, die Kälte.
Du stehst da und der Alte brüllt, er werde den Bürgermeister umbringen, wenn er komme, und du nickst, und du stehst da, und jemand fragt nach Ibuprufen. Und du stehst da und jemand fragt nach Geld und jemand fragt nach Essen für die Kinder. Und du stehst da, und nicht weit entfernt fällt eine alte Frau in den Dreck neben ihrer Hütte. Und du stehst da, und die sechszehnjährige Mutter neben dir stillt ihr etwa zwanzig Monate altes Kind, und du siehst, wie liebevoll sie mit ihm umgeht, und du denkst, dass dieses Kind es gut hat, weil es noch von nichts etwas weiß. Und du denkst auch, dass niemand von diesem Kind weiß, weil niemand von ihm wissen will. Weil wir mitten in Europa sind und Albanien lieber behauptet, es leben darin achttausend Roma, als es wissen will, dass es mehr als einhundertausend sind. Einhunderttausend Roma.
Roma sitzen in Müllcontainern, weil sie auf den Müll warten. Roma sitzen neben Müllcontainern. Roma stehen neben Müllcontainern. Roma stehen auf Müllkippen und warten auf neuen Müll. Roma ziehen Karren mit sortiertem Müll durch die Stadt. Roma sitzen zwischen Altkleidern an Straßenrändern der Vorstadt. Dreißigtausend Roma in Tirana leben vom Müll. Plastik ist silber. Blech ist gold. Gebrauchte Kleider sind auch etwas wert.
Roma wohnen in Hütten, in Baracken und selten in Hütten, die fast schon Häuser sind. In diesen Häusern kann man vom Boden essen, so sauber ist es darin.
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Die Kommune am Fluss besuche ich zwei Mal. Ihre wilden Hunde stehen am Wasser und glotzen hinein und hinüber auf eine gigantische Müllkippe. Es ist der Arbeitsplatz. Die Katzenkinder ziehen mit den Hunden umher. Es gibt Hühner, die hält jemand auf einem Gelände, das einer Familie gehört, die es für mehrere Monate vermietet hat, um mit dem Geld Bustickets nach Deutschland zu kaufen.
Vielleicht kommen sie nie wieder. Der Junge, der das erzählt, strahlt. Deutschland. Fussball. Er hebt den Daumen.
Vor den Häusern oder Hütten stehen vor allem Frauen und Kinder. Wer hier wohnt, wohnt illegal. Hier, das meint das Flussbett am Rande der Stadt. Hier wohnt der Fluss. Je weiter entfernt vom Fluss sie wohnen, desto besser sind sie dran. Je weiter vom Fluss entfernt, desto befestigter sind die Hütten. Die Frauen einer Großfamilie stehen vor einer besseren Hütte. Auch sie strahlen. Sie sind aus Deutschland zurück seit drei Tagen. Sie sind nach drei Monaten abgewiesen worden.
So viele Menschen aus Syrien, sagen sie. Krieg, sagen sie.
Das stimmt, sage ich, aber wen der Fluss fast wegschwemmt und wer so leben muss wie ihr, hat auch Asyl verdient. Sie zucken mit den Schultern.
Deutschland ist gut, sagen sie.
Das schwer kranke Kind hat in Deutschland eine Operation bekommen, das ihm das Leben rettete. Es ist jetzt vollkommen gesund. Die Menschen in Deutschland sind höflich. In Deutschland war man freundlich. Du kommst aus Deutschland? Bravo. Bravo.
Zwei Tage später hat Deutschland beschlossen, Albanien als sicheres Herkunftsland einzustufen.
Und du stehst da und du weißt, all jene Familien, die jetzt oder vor nicht allzu langer Zeit nach Deutschland gereist sind, die ihre Hütten gegen Bustickets eingetauscht haben, ihr Wohnrecht verkauft haben, werden bald zurück kommen, weil sie nicht die winzigste Chance auf Asyl haben in Deutschland, weil Dreck und Hunger und Diskriminierung nicht im Massnahmenkatalog für Asyl steht. Und sie werden hier stehen oder anderswo am Rande dieser Stadt und gar nichts mehr haben, wenn nicht irgendjemand sich ihrer annimmt. Irgendjemand bedeutet in Albanien niemand.
Die Großfamilie steht im Hof ihrer Einzimmerhütte ohne Strom, aber mit Brunnen, und bittet mich herein. Ich bin ein Überraschungsgast, aber als sie mich auf dem Weg zwischen den Häusern mit meinem Dolmetscher und umringt von wenigstens zwanzig Menschen gesehen haben, wollen sie, dass ihre Kinder mit mir Deutsch sprechen. Auch sie sind gerade zurückgekommen. Und wieder ist Deutschland wunderbar. Alle sind sehr höflich. Alle sind sehr nett gewesen zu ihnen.
Warum ist Deutschland so toll, frage ich?
Man bekommt Unterkunft und Essen und etwas Geld zum Leben, sagen sie.
Dass das nicht für immer sein würde, wenn sie blieben, verstehen sie nicht.
Sechs Monate haben sie nicht davon abbringen können, dass Deutschland das Paradies ist.
Warum, frage ich noch einmal.
Und es gibt eine überzeugende Antwort von Cristina, der Tochter der Familie, die auf Deutsch antwortet: Wir konnten in die Schule gehen, und die Lehrerin war nett zu uns.
In Albanien ist niemand nett zu ihnen. Roma stinken, Roma tragen löchrige Schuhe, Roma sind Diebe. Die Familie hat etwas Geld gespart, während sie in Deutschland war und auf Asyl hoffte. Davon haben sie sich jetzt eine riesige Couch für die Großfamilie gekauft und ein Küchenbuffet. Sie wünschen sich Normalität. Sie sind stolz, und besonders die Großmutter ist stolz, und sie ist sehr, sehr schön. Sie leben ohne Strom, und das Wasser kommt aus einem Brunnen. Man kann es nicht trinken.
Und du stehst da, und sie fragen, ob du einen Tee haben möchtest, und du denkst an deine Typhus-Impfung und an deine Hepatitisimpfung und du schämst dich, dass du jetzt daran denkst, und freundlich sagst du, nein danke, und du denkst, dass du ein Feigling bist. Und alle stehen sie um dich herum, als du wieder gehst, nach ein oder zwei Stunden, und winken: „tschüß", rufen sie. So wie sie es rufen, klingt das wie eine Liebkosung. „Tschüß" ist ein Sehnsuchtswort in der Roma-Sprache.
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Die Familien T. sind verwandt, weil die beiden Männer der Familie Brüder sind. Sie stehen auf einer Betonplattform neben einem Abgrund, auf dem einmal Häuser standen. Ein Bagger steht im Loch. Eine Katze kommt vorbei. Eine Frau mit Harke steht hinter mir und schimpft laut. Die Tochter wäscht Teppiche. Jemand gibt ihr dafür Geld. Der, den ich Titi T. nenne, weil er mich sehr an den Geiger Titi Winterstein erinnert, ist wenige Tage zuvor mit seiner Familie aus Deutschland zurückgekehrt. Der Asylantrag wurde abgelehnt. Aber seine Frau hat eine Brustoperation bekommen und ist gesund.
Dafür bin ich unendlich dankbar, sagt Titi. Und er zieht aus einem großen Rucksack, der der Aktenordner der Familie ist, einen Arztbrief mit der Diagnose.
Ist sie wirklich gesund, will er wissen.
Fibroadenom lese ich. Sie sind wirklich gesund, sage ich zu Titis Frau, und dass das kein Krebs sei.
Ihr Haus ist abgerissen worden, während sie weg waren.
Wo sie jetzt hingehen? Sie zucken mit den Schultern.
Ich sitze auf zusammengenagelten Stühlen. Die Frau, die wohl nicht zur Familie gehört und viel jünger ist, als ich denke, steht mit der Harke noch immer hinter mir, und als ich sie am übernächsten Tag zum zweiten Mal erlebe, weiß ich, sie tut nichts, sie ist nur ein bisschen verrückt.
Der Bruder von Titi T. zeigt mir beim zweiten Besuch eine Liste von 1993, auf der sein Haus verzeichnet ist, als eines, für das er Entschädigung bekommen soll, falls es abgerissen wird. Darunter ein Stempel samt Unterschrift von der damaligen Regierung. Und jetzt soll auch sein Haus in den nächsten Tagen abgerissen werden. Deshalb weichen er und seine Familie keinen Schritt von der Stelle.
Lassen wir es einen Tag allein, kommen die Bagger, sagt Herr T..
Sie haben das ja gerade am Haus von Titi erlebt. Sie wollen bleiben oder Entschädigung. Entschädigung bekommen nur die, die keine Roma sind, sagt Herr T.. Die Regierung ist korrupt, und jede Regierung macht neue Gesetze, die alten treten außer Kraft. Versprechen gelten nichts. Und Versprechen an Roma gelten am allerwenigsten.
Warum, frage ich, können Sie sich das erklären?
Weil wir nichts wert sind. Sagt Herr T., der ein großgewachsener, imposanter Mann ist, und als ich beim zweiten Mal zu ihnen komme, um mich für das erste Gespräch zu bedanken und nach den Töchtern zu fragen, die Asyl in Deutschland beantragt haben, schaut er mich an, wenn er mit mir spricht.
Warum seid ihr Roma nichts wert, warum ist das so, frage ich ihn?
Weil die sagen, wir stinken, wir stehlen, wir wollen nicht arbeiten. Er macht eine wegwerfende Handbewegung. Wir stinken aber nicht. Wir waschen uns und schicken die Kinder in die Schule. Sie müssen lernen, sie müssen es besser haben. Bei der letzten Regierung war ich staatlicher Maler, sagt er. Die neue Regierung hat allen Angestellten der alten Regierung gekündigt.
Das stehen wir nun zusammen auf der Plattform, die bald eine große Straße sein wird, Herr T. und seine Frau und mein Dolmetscher und ich, und ein bisschen sind wir wie ratlose Freunde. Als ich wir gehen und schon fast am Auto sind, ruft jemand nach uns. Es ist Titi, er wollte „Tschüß" sagen.
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Ich wollte sehr gerne Herrn T.s große Tochter in einem Aufnahmelager in der Nähe von Frankfurt besuchen, ich habe es versprochen. Aber es gelingt nicht, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Sie meldet sich nicht zurück. Und ich denke, am Ende steht man hier oder dort, und nur wenn man sich traut, ganz ganz nah heranzutreten, kann man für einen Moment gemeinsam irgendwo stehen. Eine Stimme am Telefon aber ist niemand.