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27.11.2015, 14:35 Uhr
Katja Huber
Text & Debatte
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© Edward Beierle

Eine Fluchtgeschichte (1): aufgeschrieben von der Autorin Katja Huber

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© Max Kratzer

Im Vorfeld des Literaturfests München hat eine Reihe von Münchner Autorinnen und Autoren Flüchtlinge kennengelernt und gemeinsam mit ihnen ihre Fluchtgeschichten aufgeschrieben. Die Hoffnung im Gepäck hieß in der zweiten Festivalwoche die darauf aufbauende Veranstaltungsreihe des forum:autoren, und es ist zugleich der Titel einer Anthologie, die auf Anregung von REFUGIO München im Allitera Verlag erschienen ist. Darin finden sich Texte u.a. von Albert Ostermaier, Tilman Spengler, Friedrich Ani, Lena Gorelik, Doris Dörrie oder Uwe Timm. Die entstandenen Porträts, Reportagen, Interviews und Berichte wurden vom 23. bis 27.11. im Lyrik Kabinett vorgestellt, meist auch mit Beteiligung der Geflüchteten. Wir publizieren einen Auszug aus der Geschichte von Fatima L. aus dem Irak – aufgeschrieben von Katja Huber.


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Auch angekommen ausgeliefert

Sommer 2015: Mohamad, Fatimas Bruder, hat gerade das erste Jahr seiner Schreinerlehre hinter sich. Er ist 18 Jahre alt, die Flucht liegt 12 Jahre zurück, und eigentlich hat er nur eine einzige Erinnerung an sie, die er selbst als eine sehr schöne bezeichnet: Winter, Nacht, zu viele Menschen in einem Schlauchboot. Das Schlauchboot kentert, außer dem Vater kann keiner aus der Familie schwimmen, wie durch ein Wunder aber überleben alle,  werden von der Polizei aufgegriffen und auf die Wache gebracht. Dort bieten freundliche Menschen den Kindern Cola und Tee an. Weil sich seine Schwestern für Cola entscheiden, trinkt Mohamad Tee. Fühlt sich so viel älter und größer als Fatima und Zahraa und wiederholt auf der Wache immer wieder: „Schaut, ich bin schon erwachsen“.

Sommer 2015: Fatima absolviert ein Praktikum bei einem Hausarzt, sie bemüht sich außerdem darum, ihre Doktorarbeit vorziehen zu können.

Fatima ist im Hitzesommer 2015  im Sommer, in dem die Regionalnachrichten mit der Meldung „Der Flüchtlingsstrom nach Bayern reißt nicht ab“ aufmachen  24 Jahre alt. Ihre Erinnerung an die Flucht besteht aus sehr vielen Bildern, die oft im Nirgendwo verortet sind, und aus etwas weniger konkreten Ereignissen, die sich im Irgendwo abspielen: Als sie sich elfjährig, mitten in der Nacht bei Eiseskälte ins Schlauchboot setzt, hat sie Angst, denkt sich: zu viele Menschen, wir können nicht schwimmen, das kann nicht gut gehen.

Nur wenige Tage zuvor, in Istanbul, in einem von dutzenden Verstecken der letzten Jahre, hat sie dem Vater erzählt, wie gerne sie schwimmen lernen würde. Bald, hat der gesagt und ihr schon mal auf einer Matratze Schwimmbewegungen vorgemacht. Als das Schlauchboot dann tatsächlich kentert, sinkt Fatima sofort ab. Doch dann schießen ihr die Trockenübungen in den Kopf. Sie versucht sie zu wiederholen, taucht wieder auf, kommt voran und wird schließlich von einem Mann gerettet.

Es gibt auch einige wenige Tage auf der Flucht, an denen Fatima es fast schafft, all die schrecklichen Erlebnisse ihrer schon viel zu lange dauernden Reise zu vergessen. Diese Tage beginnen voller Hoffnung. Einer dieser Tage spielt sich in Fatimas Erinnerung wie viele andere Tage zwischen Irgendwo und Nirgendwo ab: Die Eltern werden ihr später erzählen, dass es kurz vor der türkisch-griechischen Grenze gewesen sein muss: Die Familie sitzt in einem Bus, mit dem sie die Grenze passieren will. Alle sind guter Dinge, denn diesmal haben sie schon eine ziemlich lange Strecke ohne Hindernisse hinter sich gebracht und fühlen sich ihrem Ziel ganz nahe. Schließlich spricht der Busfahrer aus, was keiner zu sagen wagt. „Wir haben's geschafft.“ Doch die Grenze ist noch nicht passiert, plötzlich wird der Bus angehalten, Polizisten stürmen ihn, Schüsse fallen. Die Familie wird mit dem Polizeiauto nach Izmir gefahren.

(c) Juliana Krohn

Auf der stundenlangen Fahrt wird klar, dass die Polizei eigentlich auf der Suche nach Drogenschmugglern war. Ein Polizist versucht die Kinder zu beruhigen, hält unterwegs an und kauft ihnen Eis. In Izmir allerdings landen sie – nicht zum ersten Mal während ihrer Flucht – im Gefängnis.

24 Stunden lang bekommen sie nichts zu essen. Weder der Vater, der in einer Männerzelle untergebracht ist, noch Fatima, ihre beiden Geschwister oder die Mutter. Mit vielen anderen Frauen und Kindern teilen sie eine Zelle. Die Männer verrichten ihr Geschäft in der Zelle, Frauen und Kinder dürfen, beaufsichtigt vom Wärter, zur Toilette gehen. Einmal, als Fatima auf die Toilette geht, reicht ihr der Vater durchs Zellengitter eine leere Wasserflasche, die sie auffüllt. Als sie sie zurück bringt, sieht sie nur noch ausgestreckte Hände und leere Flaschen. Sie läuft so schnell und so lange es geht zwischen Toilette und Zelle hin und her, um möglichst viele Männer zu versorgen, selbst als sie von einem der Wärter angeschrien wird. Schließlich wird sie gepackt und wieder eingesperrt.

Nach acht Tagen Gefängnis wird die Familie in den Nordirak abgeschoben, für die „Busfahrt“ dorthin muss sie allerdings 150 Euro Kosten aufbringen.

Das Schlimmste während all dieser Zeit, so reflektiert Fatima – im Hitzesommer 2015, in dem viele Neuankömmlinge in Deutschland mit Brandanschlägen empfangen werden – war die Erkenntnis: Wir sind ausgeliefert. Unser Schicksal liegt in den Händen anderer. Sie entscheiden, ob sie uns im Polizeiauto mit Eis füttern, uns auf der Wache mit Cola und Tee trösten und wie viel Brot wir täglich im Gefängnis zugewiesen bekommen, während wir auf die Abschiebung warten. Am meisten und am längsten aber war die Familie den Schleppern ausgeliefert. Fatima erinnert sich nicht, mit wie vielen Schleppern und deren Untermännern sie während der Flucht zu tun hatte. Sie erinnert sich an Schlepper, die Geld verlangt haben, bevor sie überhaupt angefangen haben, etwas zu unternehmen, und dann auch gleich für immer verschwunden sind.

Sie erinnert sich, von Schlepper zu Schlepper „verkauft“ worden zu sein. Sie erinnert sich an Schlepper, die eine neunzigminütige Autofahrt ankündigten und die Familie dann auf vierundzwanzigstündige Fußmärsche schickten – im Winter, in den Bergen, bei Schnee und bei Eis.

Als sich Fatima und ihre Familie an einem Abend im Hitzesommer 2015 – jenem Sommer, in dem ehrenamtliche Flüchtlingshelfer und Kämpfer gegen den Rassismus vielerorts resigniert aufgeben, ihr Engagement niederlegen oder verstummen – bei Tee und Gebäck im Wohnraum der hellen Vierzimmerwohnung in Messestadt Riem versammeln, um Fatimas Geschichte zu erzählen, beschwören sie gemeinsam eine Erinnerung herauf: eine Szene, die für sie alle zum Sinnbild der Flucht geworden ist: Mal wieder von Schleppern „zwischengelagert“, landet die Familie in einer Baracke. Für Fatima und ihre Geschwister ist sie im Rückblick ein fast kafkaesker Raum an der Grenze von Nirgendwo zu Nirgendwo, für die Eltern eine Baracke an der Grenze zwischen Iran und Irak.