Die junge Autorin Laura Worsch berichtet über die Lage der Geflüchteten in Ungarn (2)
Laura Worsch, 20 Jahre alt, wuchs in München auf und studiert European Studies in Passau. Sie schreibt sowohl Prosa als auch journalistische Texte. Im Sommer 2012 nahm sie an einem Schreibworkshop des Literaturhauses München teil. 2013 und 2015 las sie im Farbenladen in München für die Süddeutsche Zeitung zum Thema „Mein München“. Mehrere ihrer Kurzgeschichten wurden in Magazinen publiziert. Im Herbst 2014 wurde sie mit ihrer Kurzgeschichte „Verschränkt" zum Treffen junger Autoren nach Berlin eingeladen. Derzeit arbeitet sie an dem Blog „It’s Buda and Pest" über die Situation der Geflüchteten in Budapest. Wir veröffentlichen diese Chronik laufender Ereignsse in Auszügen. Alle Texte und Fotos stammen von der Autorin.
*
17.9.2015
Was fehlt
Es gibt noch Spuren, dass die Geflüchteten tatsächlich hier waren, am Bahnhof Keleti. An den Wänden sind noch Überreste von Kreide zu sehen, mit denen sie Nachrichten an die ungarische Bevölkerung und ihre Hoffnungen für die Weiterfahrt geschrieben haben. Die letzten 50 Menschen sind in der Nacht von Montag auf Dienstag abgereist. Seitdem bauen die Ogranisationen hier auch nach und nach ihre Zelte ab: SOS Remas, eine spanische Hilfsorganisation, ist als erstes verschwunden, gemeinsam mit dem Wifi-Zelt von Greenpeace. Seit Dienstagabend hat auch die Essensausgabe geschlossen. Sie hatte bereits in den Nächten davor vor allem die Budapester Obdachlosen versorgt.
Nun packt auch Migration Aid ein. Die Organisation, die aus Privatpersonen besteht, hat noch immer zwei Räume im Mittelgeschoss des Bahnhofs gemietet. „Das wird auch so bleiben”, sagt Tamas, einer derjenigen, die das Packen koordinieren. „Wir lagern die Dinge in einem Keller ein paar Minuten von hier. Innerhalb von vier Stunden können wir wieder einsatzbereit sein.” Sie lagern Zelte, Matratzen, gespendete Klamotten, Medizin. Rechnet er denn damit, dass Ungarn die Grenzen wieder öffnet und neue Geflüchtete nach Budapest kommen?
„Nein”, sagt Tamas. „Aber es kann sein, dass sie durchbrechen.” Niemand könne so eine Situation auf Dauer ertragen, sagt er und spielt damit auf die Situation der Menschen an, die zwischen Serbien und dem Grenzzaun festhängen. Migration Aid habe bereits gestern einen Tross von 20 Trucks zu ihnen geschickt, berichtet er. „Vor allem Zelte und Kleidung.” Essen dürfe nicht nach Serbien importiert werden. In den Facebook-Gruppen berichten Privatpersonen, dass sie mit ihren Autos voller Nahrungsmittel für die Geflüchteten von der serbischen Polizei abgewiesen wurden. „Es ist sehr schwer, die Menschen dort richtig zu unterstützen”, sagt Tamas. Die Hilfe hängt derzeit vor allem von privaten Spenden ab, die großen Organisationen sind kaum vor Ort.
Letzte Plakate, die Geflüchtete vor Schleppern warnen und Reisetipps geben
Die Geflüchteten werden sich neue Wege suchen, um in die EU einzureisen. Bereits jetzt werden sie mit Bussen von Serbien an die kroatische Grenze gebracht, um über Kroatien nach Österreich einzureisen. Dieser Weg scheint plausibler als der lange Umweg über Rumänien, an dessen Grenze Ungarn jetzt die nächste Mauer hochziehen möchte.
Ich habe das Gefühl, etwas fehlt in Budapest. Den Bahnhof Keleti habe ich im absolut chaotischen Zustand kennengelernt, mit Bergen an Klamotten überall und Gestank und Menschen, die auf Pappkartons geschlafen haben. Trotzdem haben sie die Stadt bereichert, weil niemand dem Missstand der ungarischen Politik aus dem Weg gehen konnte. Sie haben auch die Zivilgesellschaft hier bereichert, die es nun viel schwerer hat, von Budapest aus den Menschen an der serbischen Grenze zu helfen. Diese Versorgungslinie wird umso wichtiger sein, sobald es kälter wird. Und es ist zu befürchten, dass viele nun, da sich die Situation aus Budapest heraus verlagert hat, wieder viel leichter die Augen vor dem verschließen, was den Geflüchteten passiert.
*
19.9.2015
Drahtmenschen
Ich beobachte mein Leben
Von einem Fenster aus
Im ratternden Spiegel
Zittern wir zweimal
Weiße Sonne in unseren
Köpfen wie Steine im Wind
Gehen wir unter?
Blumen im Donner
Strahlen heller.
Vorne wie hinten sind wir
Frei Freiheit Feuer
Eigene Gefangene
Aus Draht.
*
29.9.2015
Programmkontrast
Es gibt Dinge, die dazu beitragen, Orte anders zu sehen. Walking Tours, ungarische Klaviermusik, Museumsbesuche, Zitadellen- und Burgbestiege. Vor allem liebe Menschen, die zu Besuch sind. Es ist einfach, dem Bahnhof und den Medien aus dem Weg zu gehen. War die Stadt vergangene Woche noch das Zentrum des Geschehens, ist sie nun nicht mehr als ein Urlaubsort. Was nicht schlecht ist, denn es ist auf Dauer nicht möglich, einen Ort immer nur aus einem bestimmten Blinkwinkel heraus zu betrachten. Diesen Anspruch zu haben, würde für mich von geheucheltem Moralismus zeugen, und es würde dieser Stadt auch nicht gerecht. Schöne Momente haben den Anspruch, einfach nur schön zu sein.
Die ganze Stadt strotzt vor historischer Bedeutsamkeit. An jeder Ecke begegnen wir ernst dreinschauenden, gusseisernen Männern, alles wichtige Menschen der ungarischen Geschichte. Auch wenn nicht immer klar ist, worin ihr Beitrag besteht: Beispielsweise thront im City Park George Washington „für seinen Verdienst am ungarischen Volk”. Am Donauufer vor dem Parlament stehen unkommentiert etwa dreißig Paar altmodische Schuhe aus Stahl, Männer-, Kinder-, Frauenpaare. Hier sind im Zweiten Weltkrieg Juden erschossen worden, die vorher ihre Schuhe ausziehen mussten. Als ich abends zum ersten Mal an den Ort komme, hat jemand eine Kerze neben ein paar Kinderstiefel gestellt.
Zum Anderen gab es in dieser Zeit Momente. Da ist die Freiheitsbrücke, über die die Geflüchteten auf ihrem March of Hope in Richtung Österreich zogen. Das House of Terror ist ein Museum, das an die Zeit des Nationalsozialismus und Kommunismus in Ungarn erinnert, ehemals die Verhör- und Folterzentrale der beiden Regime. „Ungarn befand sich im 20. Jahrhundert im Spannungsfeld zwischen zwei großen Ideologien”, lese ich auf einem der Zettel. Jeder Satz vermittelt den Eindruck, Ungarn sei lediglich Opfer zweier Mächte geworden, habe nur fremdbestimmt gehandelt. Es ist von 400.000 jüdischen Ungarn die Rede, die ermordet wurden. Dass diese Opfer waren, ist unbestreitbar. Das Handeln der ungarischen Regierung und der Behörden damals erscheint jedoch zu unreflektiert. Ich empfehle dieses Museum jedem, um zu sehen, wie man es nicht machen sollte. Da ist kaum Struktur, kaum Neutralität, kaum tatsächliche Wissensvermittlung.
Im Keller gibt es zwei Räume, die den Aufstand von 1956 behandeln. Damals erhoben sich die Menschen gegen das sowjetische Regime, der Aufstand wurde gewaltsam niedergeschlagen. Außen am Gebäude erinnern 300 Fotos an diejenigen, die sofort hingerichtet wurden. Langfristig flohen, nach Angaben der Infotafeln, etwa 200.000 Menschen Richtung Österreich und weiter gen Westen. In dem Raum hängen Monitore, die Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Flüchtenden damals zeigen. Die Lager, in denen ihnen Freiwillige Essen und warme Decken geben. Menschen, die mit ihren Kindern auf den Armen durch Flüsse waten. Es sind die gleichen Bilder, ein paar Jahrzehnte früher. „Es ist eine Schande, dass dieses Land vergessen hat, wie es damals in derselben Situation war”, hat mir eine ungarische Helferin gesagt, die ich beim March Of Hope getroffen habe. Sie hat zwei kleine Kinder, deren Spielsachen sie an die mitlaufenden Geflüchteten verteilte. „Sie haben Ungarn auf demselben Weg verlassen.”
Letztlich ist die Politik eines Landes in Bereichen erkennbar, in denen man es nicht erwartet hätte.
*
3.10.2015
Er ist nur
Der Mann steht reglos. Er hat nicht vergessen, wie lange er so steht. Es ist nur nicht mehr wichtig. Zeit, oder die Bedeutung davon, hat ihre Definition verloren, weil sie nicht mehr wichtig ist. Das gibt ihm ein Gefühl des Triumphes, als hätte er diese Zeit besiegt, die ihn in einen Rahmen einschließen wollte. Er hat aufgehört, einen Anfangspunkt zu haben, und er wird niemals enden. Er ist nur.
Eine Taube lässt sich auf seiner Schulter nieder. Er spürt ihren Kot an seinem Mantel herunterlaufen und den Regen den Kot wegspülen. Die Taube pickt an seinem Hut. Im Sommer sind Samen in der Hutkrause gelandet, und aus ihnen sind Pflanzen gesprossen. Auf nacktem Stahl, der so gar nicht Natur ist, ganz ohne Erde. Augenscheinlich sind Regen und Sonne auf einer horizontalen Ebene genug. In zwei Sekunden hat die Taube die Pflanzen weggepickt.
Nach der Taube der Hund. Herrchen und er pinkeln synchron gegen die Beine des Mannes. Herrchen seufzt, Hund hechelt. Sie sehen sich in trauter Erleichterung an. Dem Mann bleibt das Gefühl, zu etwas nutze zu sein. Der Hund hält ihn für einen Baum, der Betrunkene für eine Schulter. Er lehnt an ihr, legt seinen Arm um sie, und der Stahl darunter wird wärmer. Eine Weile stehen sie nur so da, den Blick gen Boden gesenkt. Ob er nicht Nackenschmerzen davon bekomme, fragt der Betrunkene. Er fängt an zu kichern und liest den Namen des Mannes von dem Schild neben ihm ab. Habe er noch nie gehört, aber verdammt nochmal, dieser Mann müsse ein super Leben gehabt haben, da sei er sich ganz sicher. Nur von Menschen, die ein super Leben gehabt haben, würden hinterher Statuen aufgestellt. Wie er das gemacht habe, will der Betrunkene wissen und klammert sich an die urinbegossenen Beine des Mannes.
Der Mann weiß nicht mehr, wen er darstellt. Touristen machen Fotos mit ihm. Sie stellen sich neben ihn und nehmen die gleiche Haltung ein, Blick nach unten, die Augen halb geschlossen, Hände in den Jackentaschen. Dann blitzt es, und die Menschen lachen, klopfen ihm zum Abschied auf die Schulter. Er vermutet, er habe einst eine Bedeutung gehabt. Der Stahl hat ihm seine Existenz genommen. Die Leute sehen ihn an und zitieren Sätze, die er nicht kennt. Er vermutet, sie seien von ihm, aber sicher ist er sich nicht. Trotzdem ist der Mann froh, denn er ist ein Teil dieser Welt in dieser Stadt, mit dem Parkplatz hinter und der großen Straße vor sich.
Die junge Autorin Laura Worsch berichtet über die Lage der Geflüchteten in Ungarn (2)>
Laura Worsch, 20 Jahre alt, wuchs in München auf und studiert European Studies in Passau. Sie schreibt sowohl Prosa als auch journalistische Texte. Im Sommer 2012 nahm sie an einem Schreibworkshop des Literaturhauses München teil. 2013 und 2015 las sie im Farbenladen in München für die Süddeutsche Zeitung zum Thema „Mein München“. Mehrere ihrer Kurzgeschichten wurden in Magazinen publiziert. Im Herbst 2014 wurde sie mit ihrer Kurzgeschichte „Verschränkt" zum Treffen junger Autoren nach Berlin eingeladen. Derzeit arbeitet sie an dem Blog „It’s Buda and Pest" über die Situation der Geflüchteten in Budapest. Wir veröffentlichen diese Chronik laufender Ereignsse in Auszügen. Alle Texte und Fotos stammen von der Autorin.
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17.9.2015
Was fehlt
Es gibt noch Spuren, dass die Geflüchteten tatsächlich hier waren, am Bahnhof Keleti. An den Wänden sind noch Überreste von Kreide zu sehen, mit denen sie Nachrichten an die ungarische Bevölkerung und ihre Hoffnungen für die Weiterfahrt geschrieben haben. Die letzten 50 Menschen sind in der Nacht von Montag auf Dienstag abgereist. Seitdem bauen die Ogranisationen hier auch nach und nach ihre Zelte ab: SOS Remas, eine spanische Hilfsorganisation, ist als erstes verschwunden, gemeinsam mit dem Wifi-Zelt von Greenpeace. Seit Dienstagabend hat auch die Essensausgabe geschlossen. Sie hatte bereits in den Nächten davor vor allem die Budapester Obdachlosen versorgt.
Nun packt auch Migration Aid ein. Die Organisation, die aus Privatpersonen besteht, hat noch immer zwei Räume im Mittelgeschoss des Bahnhofs gemietet. „Das wird auch so bleiben”, sagt Tamas, einer derjenigen, die das Packen koordinieren. „Wir lagern die Dinge in einem Keller ein paar Minuten von hier. Innerhalb von vier Stunden können wir wieder einsatzbereit sein.” Sie lagern Zelte, Matratzen, gespendete Klamotten, Medizin. Rechnet er denn damit, dass Ungarn die Grenzen wieder öffnet und neue Geflüchtete nach Budapest kommen?
„Nein”, sagt Tamas. „Aber es kann sein, dass sie durchbrechen.” Niemand könne so eine Situation auf Dauer ertragen, sagt er und spielt damit auf die Situation der Menschen an, die zwischen Serbien und dem Grenzzaun festhängen. Migration Aid habe bereits gestern einen Tross von 20 Trucks zu ihnen geschickt, berichtet er. „Vor allem Zelte und Kleidung.” Essen dürfe nicht nach Serbien importiert werden. In den Facebook-Gruppen berichten Privatpersonen, dass sie mit ihren Autos voller Nahrungsmittel für die Geflüchteten von der serbischen Polizei abgewiesen wurden. „Es ist sehr schwer, die Menschen dort richtig zu unterstützen”, sagt Tamas. Die Hilfe hängt derzeit vor allem von privaten Spenden ab, die großen Organisationen sind kaum vor Ort.
Letzte Plakate, die Geflüchtete vor Schleppern warnen und Reisetipps geben
Die Geflüchteten werden sich neue Wege suchen, um in die EU einzureisen. Bereits jetzt werden sie mit Bussen von Serbien an die kroatische Grenze gebracht, um über Kroatien nach Österreich einzureisen. Dieser Weg scheint plausibler als der lange Umweg über Rumänien, an dessen Grenze Ungarn jetzt die nächste Mauer hochziehen möchte.
Ich habe das Gefühl, etwas fehlt in Budapest. Den Bahnhof Keleti habe ich im absolut chaotischen Zustand kennengelernt, mit Bergen an Klamotten überall und Gestank und Menschen, die auf Pappkartons geschlafen haben. Trotzdem haben sie die Stadt bereichert, weil niemand dem Missstand der ungarischen Politik aus dem Weg gehen konnte. Sie haben auch die Zivilgesellschaft hier bereichert, die es nun viel schwerer hat, von Budapest aus den Menschen an der serbischen Grenze zu helfen. Diese Versorgungslinie wird umso wichtiger sein, sobald es kälter wird. Und es ist zu befürchten, dass viele nun, da sich die Situation aus Budapest heraus verlagert hat, wieder viel leichter die Augen vor dem verschließen, was den Geflüchteten passiert.
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19.9.2015
Drahtmenschen
Ich beobachte mein Leben
Von einem Fenster aus
Im ratternden Spiegel
Zittern wir zweimal
Weiße Sonne in unseren
Köpfen wie Steine im Wind
Gehen wir unter?
Blumen im Donner
Strahlen heller.
Vorne wie hinten sind wir
Frei Freiheit Feuer
Eigene Gefangene
Aus Draht.
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29.9.2015
Programmkontrast
Es gibt Dinge, die dazu beitragen, Orte anders zu sehen. Walking Tours, ungarische Klaviermusik, Museumsbesuche, Zitadellen- und Burgbestiege. Vor allem liebe Menschen, die zu Besuch sind. Es ist einfach, dem Bahnhof und den Medien aus dem Weg zu gehen. War die Stadt vergangene Woche noch das Zentrum des Geschehens, ist sie nun nicht mehr als ein Urlaubsort. Was nicht schlecht ist, denn es ist auf Dauer nicht möglich, einen Ort immer nur aus einem bestimmten Blinkwinkel heraus zu betrachten. Diesen Anspruch zu haben, würde für mich von geheucheltem Moralismus zeugen, und es würde dieser Stadt auch nicht gerecht. Schöne Momente haben den Anspruch, einfach nur schön zu sein.
Die ganze Stadt strotzt vor historischer Bedeutsamkeit. An jeder Ecke begegnen wir ernst dreinschauenden, gusseisernen Männern, alles wichtige Menschen der ungarischen Geschichte. Auch wenn nicht immer klar ist, worin ihr Beitrag besteht: Beispielsweise thront im City Park George Washington „für seinen Verdienst am ungarischen Volk”. Am Donauufer vor dem Parlament stehen unkommentiert etwa dreißig Paar altmodische Schuhe aus Stahl, Männer-, Kinder-, Frauenpaare. Hier sind im Zweiten Weltkrieg Juden erschossen worden, die vorher ihre Schuhe ausziehen mussten. Als ich abends zum ersten Mal an den Ort komme, hat jemand eine Kerze neben ein paar Kinderstiefel gestellt.
Zum Anderen gab es in dieser Zeit Momente. Da ist die Freiheitsbrücke, über die die Geflüchteten auf ihrem March of Hope in Richtung Österreich zogen. Das House of Terror ist ein Museum, das an die Zeit des Nationalsozialismus und Kommunismus in Ungarn erinnert, ehemals die Verhör- und Folterzentrale der beiden Regime. „Ungarn befand sich im 20. Jahrhundert im Spannungsfeld zwischen zwei großen Ideologien”, lese ich auf einem der Zettel. Jeder Satz vermittelt den Eindruck, Ungarn sei lediglich Opfer zweier Mächte geworden, habe nur fremdbestimmt gehandelt. Es ist von 400.000 jüdischen Ungarn die Rede, die ermordet wurden. Dass diese Opfer waren, ist unbestreitbar. Das Handeln der ungarischen Regierung und der Behörden damals erscheint jedoch zu unreflektiert. Ich empfehle dieses Museum jedem, um zu sehen, wie man es nicht machen sollte. Da ist kaum Struktur, kaum Neutralität, kaum tatsächliche Wissensvermittlung.
Im Keller gibt es zwei Räume, die den Aufstand von 1956 behandeln. Damals erhoben sich die Menschen gegen das sowjetische Regime, der Aufstand wurde gewaltsam niedergeschlagen. Außen am Gebäude erinnern 300 Fotos an diejenigen, die sofort hingerichtet wurden. Langfristig flohen, nach Angaben der Infotafeln, etwa 200.000 Menschen Richtung Österreich und weiter gen Westen. In dem Raum hängen Monitore, die Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Flüchtenden damals zeigen. Die Lager, in denen ihnen Freiwillige Essen und warme Decken geben. Menschen, die mit ihren Kindern auf den Armen durch Flüsse waten. Es sind die gleichen Bilder, ein paar Jahrzehnte früher. „Es ist eine Schande, dass dieses Land vergessen hat, wie es damals in derselben Situation war”, hat mir eine ungarische Helferin gesagt, die ich beim March Of Hope getroffen habe. Sie hat zwei kleine Kinder, deren Spielsachen sie an die mitlaufenden Geflüchteten verteilte. „Sie haben Ungarn auf demselben Weg verlassen.”
Letztlich ist die Politik eines Landes in Bereichen erkennbar, in denen man es nicht erwartet hätte.
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3.10.2015
Er ist nur
Der Mann steht reglos. Er hat nicht vergessen, wie lange er so steht. Es ist nur nicht mehr wichtig. Zeit, oder die Bedeutung davon, hat ihre Definition verloren, weil sie nicht mehr wichtig ist. Das gibt ihm ein Gefühl des Triumphes, als hätte er diese Zeit besiegt, die ihn in einen Rahmen einschließen wollte. Er hat aufgehört, einen Anfangspunkt zu haben, und er wird niemals enden. Er ist nur.
Eine Taube lässt sich auf seiner Schulter nieder. Er spürt ihren Kot an seinem Mantel herunterlaufen und den Regen den Kot wegspülen. Die Taube pickt an seinem Hut. Im Sommer sind Samen in der Hutkrause gelandet, und aus ihnen sind Pflanzen gesprossen. Auf nacktem Stahl, der so gar nicht Natur ist, ganz ohne Erde. Augenscheinlich sind Regen und Sonne auf einer horizontalen Ebene genug. In zwei Sekunden hat die Taube die Pflanzen weggepickt.
Nach der Taube der Hund. Herrchen und er pinkeln synchron gegen die Beine des Mannes. Herrchen seufzt, Hund hechelt. Sie sehen sich in trauter Erleichterung an. Dem Mann bleibt das Gefühl, zu etwas nutze zu sein. Der Hund hält ihn für einen Baum, der Betrunkene für eine Schulter. Er lehnt an ihr, legt seinen Arm um sie, und der Stahl darunter wird wärmer. Eine Weile stehen sie nur so da, den Blick gen Boden gesenkt. Ob er nicht Nackenschmerzen davon bekomme, fragt der Betrunkene. Er fängt an zu kichern und liest den Namen des Mannes von dem Schild neben ihm ab. Habe er noch nie gehört, aber verdammt nochmal, dieser Mann müsse ein super Leben gehabt haben, da sei er sich ganz sicher. Nur von Menschen, die ein super Leben gehabt haben, würden hinterher Statuen aufgestellt. Wie er das gemacht habe, will der Betrunkene wissen und klammert sich an die urinbegossenen Beine des Mannes.
Der Mann weiß nicht mehr, wen er darstellt. Touristen machen Fotos mit ihm. Sie stellen sich neben ihn und nehmen die gleiche Haltung ein, Blick nach unten, die Augen halb geschlossen, Hände in den Jackentaschen. Dann blitzt es, und die Menschen lachen, klopfen ihm zum Abschied auf die Schulter. Er vermutet, er habe einst eine Bedeutung gehabt. Der Stahl hat ihm seine Existenz genommen. Die Leute sehen ihn an und zitieren Sätze, die er nicht kennt. Er vermutet, sie seien von ihm, aber sicher ist er sich nicht. Trotzdem ist der Mann froh, denn er ist ein Teil dieser Welt in dieser Stadt, mit dem Parkplatz hinter und der großen Straße vor sich.