Ein Auszug aus dem neuen Roman von Tilman Spengler
Der neue Roman des Schriftstellers Tilman Spengler erzählt von dem verstorbenen Jörg Immendorf, von Deutschlands Künstlern und Politikern und nicht zuletzt von der besonderen Freundschaft, die Tilman Spengler mit dem Maler Immendorf verband. „Ein wunderschöner, zärtlich-trauriger, poetischer, unnachahmlicher Spengler-Text", so Sten Nadolny über das Buch Waghalsiger Versuch, in der Luft zu kleben (Berlin Verlag, 2015), das er zusammen mit dem Autor am 30.9.2015 in München vorstellt. Wir publizieren das erste Kapitel des Romans.
*
Abschied
Bei seiner Totenfeier blickt Immendorff, der übrigens heute, wir schreiben den 14. Juni 2007, Geburtstag hat, aus seinem Selbstporträt, genauer betrachtet, aus dem Schnabel eines silbernen Vogels, vielleicht dem eines Kakadus, keinesfalls eines Adlers, auf Abschiednehmende und Trauerredner. Man kann bei diesem Schnabel auch an ein hochgeklapptes Visier denken, dargestellt wie übereinandergelegte Scherenschnitte einer mittelalterlichen Rüstung.
Recht besehen schaut Immendorff zunächst auf eine fast unbenutzte Palette, die von einer Kerze beleuchtet wird. Diese Kerze verschenkt ihr Licht auf hellgelbem Grund, dessen halbes Rund wiederum an einen Heiligenschein erinnert, wenn Gerhard Schröder, Markus Lüpertz und andere Würdenträger an das Rednerpult unter seinem Bild treten.
Immendorff hat sich sein Gesicht zum Antlitz eines melancholischen Pierrots geschminkt, allerdings mit einem knallroten Mal auf der rechten Wange, ein wenig Commedia, ein wenig Tragedia dell’arte, doch kein Zweifel: der Künstler verfolgt das Geschehen mit gespannter Aufmerksamkeit. Denn der Tod ist immer auch Abrechnung.
Die zahlreichen Gäste in der Alten Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel sitzen dicht gedrängt. Es ist das erste Staatsbegräbnis, das die Republik für einen Künstler ausrichtet, entsprechend spürbar ist die Nachfrage nach den nicht vom Protokoll mit kleinen Zetteln und großen Buchstaben in Beschlag genommenen Plätzen. Den Pierrot im Schnabel des silbernen Kakadus freut das Gedränge. Oben, bei ihm an der Wand, ist die Luft sehr viel besser temperiert als im Publikum. Deutsche Museen schützen ihre wertvollsten Besitzungen.
Sind auch viele Künstler unter den Anwesenden? Nicht auf den ersten Blick, selbst nicht, wenn nur nach der Garderobe gefragt wird. Der unauffällige grauschwarze Zwei- oder Dreiteiler ist auch hier das Maß aller modischen Dinge, exakt geknüpfte Schlipse behaupten ihren traditionell rätselhaften Zauber. Das Schuhwerk glänzt auffällig matt.
Markus Lüpertz, naturgemäß, ist die bedeutende Ausnahme, doch er bleibt heute der Malerfürst ohne einen einzigen Untertan, ohne einen Adepten, der seinen modischen Vorbildern Anerkennung und vielleicht sogar den Tribut der Nachahmung zu zollen bereit wäre. Dass nur ein dunkler, silbern schimmernder Gehrock die einzig angemessene Bekleidung für eine feierliche Veranstaltung am Vormittag sein kann, mehr noch, dass auch ein Gewand tröstliche Signale aussendet, all diese Gedanken bleiben so klug wie folgenlos.
Da predigst du eben ständig blinden, absolut verständnislosen Taubstummen, überlegt Lüpertz und reibt an dem großen bunten Stein über seinem Ringfinger, und um dich herum bleibt alles kärgste Diaspora. Künstlerische, philosophische, sentimentale Diaspora.
Dies irae, denkt Immendorff, der sich mit seinem Tod noch längst nicht ausgesöhnt hat, ist doch klar, dass ich zornig bin. Von seiner hohen Warte aus durchkämmt er mit funkelndem Blick das Publikum nach Freunden und Feinden.
»Der Markus schuldet mir immer noch ein repräsentatives Bild, also einen seiner Knaller«, sagt Immendorff in Richtung der Kerze auf seinem Porträt, »das war damals alles schon vereinbart. Und das nicht nur mündlich und außerdem wiederholt.«
Die erste Reihe der Trauernden ist mittlerweile so eng nach vorn bewegt worden, dass die drei Musiker, also der Hornist, der Bratschist und der Kontrabassist, mit ihren Instrumenten einen halben Meter zurück- und damit näher an Immendorff rücken. In Berlin weiß zwar jedes Orchestermitglied, wie wichtig der unmittelbare Kontakt mit politischen Entscheidungsträgern ist. Doch künstlerische Entfaltung, auch das wissen die Solisten, bedarf stets einer diskreten räumlichen Distanz. Das hängt mit Konzentration und kleineren, tropfenförmigen Ausscheidungen zusammen, von denen hier aber nicht die Rede sein soll.
»Der Baselitz steht auch noch in meiner Schuld«, sagt Immendorff und verfolgt das Stühlerücken seiner Gäste mit Wohlgefallen, »er ganz besonders, nur der Polke, der hat sich da immer korrekt verhalten.« Er haucht an den Docht, damit die Flamme höher aufsteigt. »Sind natürlich beide nicht gekommen, hätte ich mir denken können.«
Die Zuhörer, denkt Immendorff grimmig nach der zweiten Ansprache, müssen mir beipflichten, rhetorisch ist dieser Abschied ein absoluter Schmalhans für Gehirn oder Gemüt. Klar, Redner für Redner beschwört, wie deutlich er, der Verstorbene, »die Bruchstellen der deutschen Geschichte aufgezeigt« hat, wie »politisch, umstürzlerisch, zornig und provozierend« sein Werk gewesen, wie sehr es ihm »um das Wahre, nicht um das Schöne« gegangen sei. Anders gesagt, die meisten Ansprachen der Trauervertreter bemühen die Adjektive »umstürzlerisch« und »zornig« in der stufenlos schwarzgrauen Sprachform der tadellosen Zwei- bis Dreiteiler und des nachgerade provozierend matt polierten Schuhwerks.
Das Oberleder vermutlich erst kürzlich von irgendwelchen Eskimoweibern weichgekaut, denkt Immendorff, der zunehmend Freude an seinem Zorn gewinnt.
»Es ist nicht ohne Ironie«, sagt ein hoher Mandarin der sich noch nicht lange im Amt befindenden Regierungspartei, »dass gerade ich als Vertreter der Regierungspartei hier einen Mann würdige, dessen zorniges, dessen, ja, ich kann nur sagen umstürzlerisches …«
Bevor Immendorff das Visier des silbernen Schnabels schließt, aus dem er die Szene verfolgt, ruft er noch sehr vernehmlich: »Kappes!« Im Rheinland hat der Ausdruck verschiedene Bedeutungen, so recht schmeichelhaft sind die wenigsten.
»Kappes«, ruft er ein zweites Mal, es klingt jetzt etwas dumpfer, »was für mich zählt, ist allein, dass du so einen hohen Rang hast in der Politik, das allein ist die Ironie.«
Gut möglich, dass er noch weitere Bosheiten von sich geben will, doch gerade hat der Hornist sein Instrument beiseitegelegt und zu singen begonnen.
»Ich bin ausgegangen in stiller Nacht
wohl über die dunkle Heide,
hat mir niemand Ade gesagt.
Ade! Mein Gesell’ war Lieb und Leide …«,
singt der Musiker. Er heißt, als habe hier der Zufall Regie geführt, Wallendorff und berührt die Herzen der verständigeren Zuhörer durch sein Vortragen, das glücklicherweise in keinem Ton, in keiner Schwingung an einen Kammersänger erinnert, der gerade eine Opernrolle gibt.
»Alles! Alles. Lieb und Leid
und Welt und Traum.«
»Denn nur, wenn man beim Betrachten oder Hören oder meinetwegen auch beim Lesen eines Werkes der Kunst nicht an Kunst denken muss, und zwar keine einzige, nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde lang, erst dann begreift man Kunst«, ruft Immendorff. Er redet in eine kurze Pause des Geschehens. Auf dem Stehpult, der Sänger hat soeben aus Des Knaben Wunderhorn zu Ende gesungen, werden vor einer noch vollgefüllten Karaffe aus geschliffenem Kristall unbenutzte Wassergläser ausgetauscht. Der Verstorbene hat inzwischen das Gewand des Pierrots abgelegt und sich in seiner Gestalt als Malerteufel auf den seit kurzem verwaisten Platz neben einer berühmten blonden und wohlriechenden Schauspielerin gesetzt.
»Da wußt’ ich nicht, wie das Leben tut …«
»Aber selbst wenn man weiß, wie das Leben tut, hilft es einem beim Sterben auch nicht weiter«, sagt Immendorff, streicht sich mit dem buschigen Ende seines Teufelsschwanzes eine Träne von der Wange und tupft den Tropfen auf die Bluse über der ausdrucksvollen Brust der Schauspielerin. »Versteh’, man darf einfach nie an Kunst denken, man muss einfach immer mehr wollen als Kunst.«
»Das Wahre und das Schöne eben«, erklärt daraufhin die Schauspielerin und zieht mit ansatzloser Geste eine Autogrammkarte aus der glitzernden Handtasche, »das wurde doch eben schon von einem der Herren angesprochen. Sehr eindrucksvoll. Ich persönlich bin ja ausgesprochen für beides. Natürlich auch für Grenzüberschreitungen.« Sie führt ihre Fingerkuppen über die schwarze Feder, die von ihrem Hütchen einen anmutigen Bogen um das linke Ohr beschreibt, wirft hauchdünne, kaum wahrnehmbare Linien in die hohe Stirn, hebt den Busen, wölbt noch einmal die sinnlichen, dunkelroten Lippen, redet dann aber nicht weiter.
»Würde mich freuen, dich nachher noch in der Paris Bar begrüßen zu dürfen«, sagt Immendorff unter vorgehaltener Hand, »Bushaltestelle vor der Tür. Du kennst den Laden. Erinner’ mich dort an die Parole: ›Kunst ist die Aufhebung von Schwerkraft‹. Nicht mehr und nicht weniger.«
Sagt es, hebt den Schwanz wie eine Peitsche und verschwindet mit einem gewaltigen Satz hinter dem zu einem kleinen Atompilz gedrechselten Buchsbaum neben dem Stehpult mit den Mikrofonen.
»Innovation war ihm mehr als bloßes Programm«, hört er dort aus dem Mund eines der letzten Redner, »Innovation war der mächtige innere Kompass seiner künstlerischen und auch seiner menschlichen Existenz, ein stets waches Auge auf das uns ständig umgebende Apokalyptische gerichtet, hat er begriffen und nie aus den Augen verloren, ein gewaltiges Leitmotiv, das …«
Immendorff springt zurück in sein Selbstbildnis und blickt wieder wie ein anfänglich noch grüblerischer, später zunehmend verzweifelter Kakadu. Kontrabass, Bratsche und Horn spielen jetzt jenen das Herz wieder aufrichtenden Walzer, den Schostakowitsch einmal komponierte, um zu zeigen, wie erfreulich Schwermut sein kann. In der Besetzung, die gerade musiziert, ist das Stück wohl noch nie erklungen, doch der Beifall ist heftig und kennerisch. »Gelungen innovativ«, lautet die treffende Formel, auf die ein leitender Ministerialrat sein Urteil bringt.
»War doch mal ganz angenehm anders«, sagt Gerhard Schröder, der sich zu den Gästen in der Paris Bar gesellt hat, »ich frage mich bloß, wer dem Typen aus dem Kanzleramt die Rede geschrieben hat. Ich kenn’ die doch noch alle. Da hat keiner auch nur einen blassen Schimmer von moderner Kunst oder zeitgenössischen Künstlern.«
Die Gäste, es sind leider weniger gekommen als erwartet, hören aufmerksam zu und nippen an ihrem Wein, dessen Qualität deutlich über dem Angebot der Getränke liegt, die ihnen nach dem Staatsakt serviert wurden.
»Sehr berührt hat mich auch der Text über das Innovative als, wie hieß es, als Leitmotiv«, sagt die blonde Schauspielerin, »wer war das noch, der den vorgetragen hat? Jörg war richtig bewegt.«
»Jörg war überhaupt nicht bewegt«, ruft Immendorff, der plötzlich, niemand, nicht einmal Michel Würth, hat ihn eintreten sehen, auf der roten Bank neben Schröder sitzt. »Ich hasse das Wort ›Innovation‹, das ist ein überflüssiger Knallkörper, eine Stinkbombe, ein niederträchtiger Schlagring der Kunstkritik.« Er ist jetzt wieder Malerteufel und bläst Rauch aus den Nasenlöchern wie früher den Qualm seiner Zigaretten. »Wenn einer, ich sag mal qualitativ, in der Klasse von Dürer oder Baldung Grien malt oder zeichnet, dann ist er nicht innovativ, dann ist diese Person einfach auf dem Weg, ein großer Künstler zu werden. Über die Aussagen können wir uns dann immer noch unterhalten. Jede Scheiße kann innovativ sein und sagt dir trotzdem nichts.« Immendorff blickt, das ist aus seiner Position auf der Bank unvermeidlich, auf den wie mit einem Brillantenschleier überzogenen Schädel in der Auslage unter der Theke. »Besonders wenig innovativ ist übrigens der Tod«, ruft er, bevor seine Erscheinung wieder zu rotem Leder wird.
Darüber lächelt der Schädel mit den Brillanten.
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Der neue Roman des Schriftstellers Tilman Spengler erzählt von dem verstorbenen Jörg Immendorf, von Deutschlands Künstlern und Politikern und nicht zuletzt von der besonderen Freundschaft, die Tilman Spengler mit dem Maler Immendorf verband. „Ein wunderschöner, zärtlich-trauriger, poetischer, unnachahmlicher Spengler-Text", so Sten Nadolny über das Buch Waghalsiger Versuch, in der Luft zu kleben (Berlin Verlag, 2015), das er zusammen mit dem Autor am 30.9.2015 in München vorstellt. Wir publizieren das erste Kapitel des Romans.
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Abschied
Bei seiner Totenfeier blickt Immendorff, der übrigens heute, wir schreiben den 14. Juni 2007, Geburtstag hat, aus seinem Selbstporträt, genauer betrachtet, aus dem Schnabel eines silbernen Vogels, vielleicht dem eines Kakadus, keinesfalls eines Adlers, auf Abschiednehmende und Trauerredner. Man kann bei diesem Schnabel auch an ein hochgeklapptes Visier denken, dargestellt wie übereinandergelegte Scherenschnitte einer mittelalterlichen Rüstung.
Recht besehen schaut Immendorff zunächst auf eine fast unbenutzte Palette, die von einer Kerze beleuchtet wird. Diese Kerze verschenkt ihr Licht auf hellgelbem Grund, dessen halbes Rund wiederum an einen Heiligenschein erinnert, wenn Gerhard Schröder, Markus Lüpertz und andere Würdenträger an das Rednerpult unter seinem Bild treten.
Immendorff hat sich sein Gesicht zum Antlitz eines melancholischen Pierrots geschminkt, allerdings mit einem knallroten Mal auf der rechten Wange, ein wenig Commedia, ein wenig Tragedia dell’arte, doch kein Zweifel: der Künstler verfolgt das Geschehen mit gespannter Aufmerksamkeit. Denn der Tod ist immer auch Abrechnung.
Die zahlreichen Gäste in der Alten Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel sitzen dicht gedrängt. Es ist das erste Staatsbegräbnis, das die Republik für einen Künstler ausrichtet, entsprechend spürbar ist die Nachfrage nach den nicht vom Protokoll mit kleinen Zetteln und großen Buchstaben in Beschlag genommenen Plätzen. Den Pierrot im Schnabel des silbernen Kakadus freut das Gedränge. Oben, bei ihm an der Wand, ist die Luft sehr viel besser temperiert als im Publikum. Deutsche Museen schützen ihre wertvollsten Besitzungen.
Sind auch viele Künstler unter den Anwesenden? Nicht auf den ersten Blick, selbst nicht, wenn nur nach der Garderobe gefragt wird. Der unauffällige grauschwarze Zwei- oder Dreiteiler ist auch hier das Maß aller modischen Dinge, exakt geknüpfte Schlipse behaupten ihren traditionell rätselhaften Zauber. Das Schuhwerk glänzt auffällig matt.
Markus Lüpertz, naturgemäß, ist die bedeutende Ausnahme, doch er bleibt heute der Malerfürst ohne einen einzigen Untertan, ohne einen Adepten, der seinen modischen Vorbildern Anerkennung und vielleicht sogar den Tribut der Nachahmung zu zollen bereit wäre. Dass nur ein dunkler, silbern schimmernder Gehrock die einzig angemessene Bekleidung für eine feierliche Veranstaltung am Vormittag sein kann, mehr noch, dass auch ein Gewand tröstliche Signale aussendet, all diese Gedanken bleiben so klug wie folgenlos.
Da predigst du eben ständig blinden, absolut verständnislosen Taubstummen, überlegt Lüpertz und reibt an dem großen bunten Stein über seinem Ringfinger, und um dich herum bleibt alles kärgste Diaspora. Künstlerische, philosophische, sentimentale Diaspora.
Dies irae, denkt Immendorff, der sich mit seinem Tod noch längst nicht ausgesöhnt hat, ist doch klar, dass ich zornig bin. Von seiner hohen Warte aus durchkämmt er mit funkelndem Blick das Publikum nach Freunden und Feinden.
»Der Markus schuldet mir immer noch ein repräsentatives Bild, also einen seiner Knaller«, sagt Immendorff in Richtung der Kerze auf seinem Porträt, »das war damals alles schon vereinbart. Und das nicht nur mündlich und außerdem wiederholt.«
Die erste Reihe der Trauernden ist mittlerweile so eng nach vorn bewegt worden, dass die drei Musiker, also der Hornist, der Bratschist und der Kontrabassist, mit ihren Instrumenten einen halben Meter zurück- und damit näher an Immendorff rücken. In Berlin weiß zwar jedes Orchestermitglied, wie wichtig der unmittelbare Kontakt mit politischen Entscheidungsträgern ist. Doch künstlerische Entfaltung, auch das wissen die Solisten, bedarf stets einer diskreten räumlichen Distanz. Das hängt mit Konzentration und kleineren, tropfenförmigen Ausscheidungen zusammen, von denen hier aber nicht die Rede sein soll.
»Der Baselitz steht auch noch in meiner Schuld«, sagt Immendorff und verfolgt das Stühlerücken seiner Gäste mit Wohlgefallen, »er ganz besonders, nur der Polke, der hat sich da immer korrekt verhalten.« Er haucht an den Docht, damit die Flamme höher aufsteigt. »Sind natürlich beide nicht gekommen, hätte ich mir denken können.«
Die Zuhörer, denkt Immendorff grimmig nach der zweiten Ansprache, müssen mir beipflichten, rhetorisch ist dieser Abschied ein absoluter Schmalhans für Gehirn oder Gemüt. Klar, Redner für Redner beschwört, wie deutlich er, der Verstorbene, »die Bruchstellen der deutschen Geschichte aufgezeigt« hat, wie »politisch, umstürzlerisch, zornig und provozierend« sein Werk gewesen, wie sehr es ihm »um das Wahre, nicht um das Schöne« gegangen sei. Anders gesagt, die meisten Ansprachen der Trauervertreter bemühen die Adjektive »umstürzlerisch« und »zornig« in der stufenlos schwarzgrauen Sprachform der tadellosen Zwei- bis Dreiteiler und des nachgerade provozierend matt polierten Schuhwerks.
Das Oberleder vermutlich erst kürzlich von irgendwelchen Eskimoweibern weichgekaut, denkt Immendorff, der zunehmend Freude an seinem Zorn gewinnt.
»Es ist nicht ohne Ironie«, sagt ein hoher Mandarin der sich noch nicht lange im Amt befindenden Regierungspartei, »dass gerade ich als Vertreter der Regierungspartei hier einen Mann würdige, dessen zorniges, dessen, ja, ich kann nur sagen umstürzlerisches …«
Bevor Immendorff das Visier des silbernen Schnabels schließt, aus dem er die Szene verfolgt, ruft er noch sehr vernehmlich: »Kappes!« Im Rheinland hat der Ausdruck verschiedene Bedeutungen, so recht schmeichelhaft sind die wenigsten.
»Kappes«, ruft er ein zweites Mal, es klingt jetzt etwas dumpfer, »was für mich zählt, ist allein, dass du so einen hohen Rang hast in der Politik, das allein ist die Ironie.«
Gut möglich, dass er noch weitere Bosheiten von sich geben will, doch gerade hat der Hornist sein Instrument beiseitegelegt und zu singen begonnen.
»Ich bin ausgegangen in stiller Nacht
wohl über die dunkle Heide,
hat mir niemand Ade gesagt.
Ade! Mein Gesell’ war Lieb und Leide …«,
singt der Musiker. Er heißt, als habe hier der Zufall Regie geführt, Wallendorff und berührt die Herzen der verständigeren Zuhörer durch sein Vortragen, das glücklicherweise in keinem Ton, in keiner Schwingung an einen Kammersänger erinnert, der gerade eine Opernrolle gibt.
»Alles! Alles. Lieb und Leid
und Welt und Traum.«
»Denn nur, wenn man beim Betrachten oder Hören oder meinetwegen auch beim Lesen eines Werkes der Kunst nicht an Kunst denken muss, und zwar keine einzige, nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde lang, erst dann begreift man Kunst«, ruft Immendorff. Er redet in eine kurze Pause des Geschehens. Auf dem Stehpult, der Sänger hat soeben aus Des Knaben Wunderhorn zu Ende gesungen, werden vor einer noch vollgefüllten Karaffe aus geschliffenem Kristall unbenutzte Wassergläser ausgetauscht. Der Verstorbene hat inzwischen das Gewand des Pierrots abgelegt und sich in seiner Gestalt als Malerteufel auf den seit kurzem verwaisten Platz neben einer berühmten blonden und wohlriechenden Schauspielerin gesetzt.
»Da wußt’ ich nicht, wie das Leben tut …«
»Aber selbst wenn man weiß, wie das Leben tut, hilft es einem beim Sterben auch nicht weiter«, sagt Immendorff, streicht sich mit dem buschigen Ende seines Teufelsschwanzes eine Träne von der Wange und tupft den Tropfen auf die Bluse über der ausdrucksvollen Brust der Schauspielerin. »Versteh’, man darf einfach nie an Kunst denken, man muss einfach immer mehr wollen als Kunst.«
»Das Wahre und das Schöne eben«, erklärt daraufhin die Schauspielerin und zieht mit ansatzloser Geste eine Autogrammkarte aus der glitzernden Handtasche, »das wurde doch eben schon von einem der Herren angesprochen. Sehr eindrucksvoll. Ich persönlich bin ja ausgesprochen für beides. Natürlich auch für Grenzüberschreitungen.« Sie führt ihre Fingerkuppen über die schwarze Feder, die von ihrem Hütchen einen anmutigen Bogen um das linke Ohr beschreibt, wirft hauchdünne, kaum wahrnehmbare Linien in die hohe Stirn, hebt den Busen, wölbt noch einmal die sinnlichen, dunkelroten Lippen, redet dann aber nicht weiter.
»Würde mich freuen, dich nachher noch in der Paris Bar begrüßen zu dürfen«, sagt Immendorff unter vorgehaltener Hand, »Bushaltestelle vor der Tür. Du kennst den Laden. Erinner’ mich dort an die Parole: ›Kunst ist die Aufhebung von Schwerkraft‹. Nicht mehr und nicht weniger.«
Sagt es, hebt den Schwanz wie eine Peitsche und verschwindet mit einem gewaltigen Satz hinter dem zu einem kleinen Atompilz gedrechselten Buchsbaum neben dem Stehpult mit den Mikrofonen.
»Innovation war ihm mehr als bloßes Programm«, hört er dort aus dem Mund eines der letzten Redner, »Innovation war der mächtige innere Kompass seiner künstlerischen und auch seiner menschlichen Existenz, ein stets waches Auge auf das uns ständig umgebende Apokalyptische gerichtet, hat er begriffen und nie aus den Augen verloren, ein gewaltiges Leitmotiv, das …«
Immendorff springt zurück in sein Selbstbildnis und blickt wieder wie ein anfänglich noch grüblerischer, später zunehmend verzweifelter Kakadu. Kontrabass, Bratsche und Horn spielen jetzt jenen das Herz wieder aufrichtenden Walzer, den Schostakowitsch einmal komponierte, um zu zeigen, wie erfreulich Schwermut sein kann. In der Besetzung, die gerade musiziert, ist das Stück wohl noch nie erklungen, doch der Beifall ist heftig und kennerisch. »Gelungen innovativ«, lautet die treffende Formel, auf die ein leitender Ministerialrat sein Urteil bringt.
»War doch mal ganz angenehm anders«, sagt Gerhard Schröder, der sich zu den Gästen in der Paris Bar gesellt hat, »ich frage mich bloß, wer dem Typen aus dem Kanzleramt die Rede geschrieben hat. Ich kenn’ die doch noch alle. Da hat keiner auch nur einen blassen Schimmer von moderner Kunst oder zeitgenössischen Künstlern.«
Die Gäste, es sind leider weniger gekommen als erwartet, hören aufmerksam zu und nippen an ihrem Wein, dessen Qualität deutlich über dem Angebot der Getränke liegt, die ihnen nach dem Staatsakt serviert wurden.
»Sehr berührt hat mich auch der Text über das Innovative als, wie hieß es, als Leitmotiv«, sagt die blonde Schauspielerin, »wer war das noch, der den vorgetragen hat? Jörg war richtig bewegt.«
»Jörg war überhaupt nicht bewegt«, ruft Immendorff, der plötzlich, niemand, nicht einmal Michel Würth, hat ihn eintreten sehen, auf der roten Bank neben Schröder sitzt. »Ich hasse das Wort ›Innovation‹, das ist ein überflüssiger Knallkörper, eine Stinkbombe, ein niederträchtiger Schlagring der Kunstkritik.« Er ist jetzt wieder Malerteufel und bläst Rauch aus den Nasenlöchern wie früher den Qualm seiner Zigaretten. »Wenn einer, ich sag mal qualitativ, in der Klasse von Dürer oder Baldung Grien malt oder zeichnet, dann ist er nicht innovativ, dann ist diese Person einfach auf dem Weg, ein großer Künstler zu werden. Über die Aussagen können wir uns dann immer noch unterhalten. Jede Scheiße kann innovativ sein und sagt dir trotzdem nichts.« Immendorff blickt, das ist aus seiner Position auf der Bank unvermeidlich, auf den wie mit einem Brillantenschleier überzogenen Schädel in der Auslage unter der Theke. »Besonders wenig innovativ ist übrigens der Tod«, ruft er, bevor seine Erscheinung wieder zu rotem Leder wird.
Darüber lächelt der Schädel mit den Brillanten.