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04.08.2015, 14:43 Uhr
Lena Gorelik
Text & Debatte
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© Gerald von Foris

Ein Essay von Lena Gorelik über Antisemitismus in Hoch- und Populärkultur (1)

 

"Man wird jawohl noch sagen dürfen ..."

von Lena Gorelik

 

Das mit dem Antisemitismus ist so eine Sache. Eine fortwährende, langfristig angelegte, sich im Wandel befindende, aber eben auch eine unausrottbare Sache. Man kann als politischer, hinterfragender, bewusster Bürger einer demokratischen, meinungsfreien Gesellschaft, man muss sogar auf antisemitische Tendenzen hinweisen, gesellschaftliche Entwicklungen beobachten, kommentieren und den Antisemitismus – ebenso wie den Rassismus – zu bekämpfen versuchen. Und man darf sich, während man mit all dem beschäftigt ist, nicht darüber hinwegtäuschen lassen, dass es Antisemitismus, in unterschiedlicher Form oder Quantität, immer geben wird. Dass Antisemitismus unausrottbar ist. Oder um es mit dem Lyriker Stanisław Jerzy Lec zu sagen: "Und der arme Hitler dachte, der Antisemitismus wäre allein Sache des Nationalsozialismus." Das nur schon einmal vorweg.

Wandelbarkeit des Antisemitismus

Von seiner Wandelbarkeit Gebrauch machend, verändert sich der Antisemitismus, passt sich den jeweiligen politischen Gesellschaftsformen, aktuellen Sprachcodes und der jeweils diskutierten Themen an, nimmt Strukturen an, mit denen er sich am besten tarnen kann – als das, was er niemals ist: Gesellschaftskritik beispielsweise, eine einzelne Meinungsäußerung, ein Ausdruck der Angst oder ein konstruktiver Beitrag zu einer politischen Debatte. Kurzum, er macht das, was Antisemiten den Juden seit jeher vorwerfen: sich heimtückisch anpassen, um sich dann, gemeinerweise, von hinten anzuschleichen.

Nach dem Holocaust stellten die Philosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer berühmten Schrift Elemente des Antisemitismus die These auf, nach Auschwitz werde es nicht mehr möglich sein, sich offen zum Antisemitismus zu bekennen, und wiesen sogleich darauf hin, dass dies nicht gleichbedeutend mit einem Aussterben des Antisemitismus sei. Antisemitismus müsse sich also fortan, nach dem schrecklichsten aller schrecklichen Ereignisse, als unterdrücktes beziehungsweise nicht offen ausgelebtes Gefühl entfalten, als Wut und Ressentiment hinter verschlossenen Türen, vielleicht nur als unausgesprochenes Gedankengut. Ein Potpourri an Gefühlen, die von Verunsicherung über Angst bis hin zu Abscheu reichen und gerade durch die Notwendigkeit der Unterdrückung eine explosive und gefährliche Mischung darstellen. Es kommt sozusagen zu einer Privatisierung des Antisemitismus, der sich nur eruptiv, situativ und häufig subtil im öffentlichen Raum zeigt, deshalb so schwer zu greifen und deshalb auch gefährlich ist. Die tief verankerten Stereotype über Juden und Judentum tauchen beispielsweise in Sprechakten innerhalb des privaten Raums wie am berühmt-berüchtigten Stammtisch, in der Familie und vermehrt auf Schulhöfen auf, sind aber nicht als Bewegung fassbar.

Wie tief der Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft verankert ist, zeigt jede neue Studie, die zu diesem Thema vorgelegt wird. Es gibt den Antisemitismus der Rechtsradikalen, es gibt den Antisemitismus der extremistischen Muslime, es gibt den Antisemitismus der Linken, die sich alle dank des Internets mit beunruhigender Schnelligkeit verbreiten. Es gibt aber auch eine "bis weit in die Mitte der Gesellschaft verbreitete Gewöhnung an alltägliche judenfeindliche Tiraden und Praktiken", wie aus dem Bericht Antisemitismus in Deutschland hervorgeht, den ein unabhängiger Expertenkreis im Auftrag des Deutschen Bundestages erstellt hat. Auswertungen unterschiedlicher Untersuchungen, die auf Meinungsumfragen unter der Bevölkerung basieren, ergeben, dass etwa 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland "latent" antisemitisch eingestellt sind. Damit nimmt Deutschland im europaweiten Vergleich einen Mittelplatz ein. Studien zeigen außerdem, dass negative Einstellungen gegenüber Juden in den vergangenen Jahren eher angestiegen als gesunken sind.

Unter dem Schutzmantel des Tabubruchs

Seit einigen Jahren lässt sich eine Entwicklung beobachten, die nicht nur antisemitische, sondern auch rassistische, nationalistische und fremdenfeindliche Einstellungen betrifft: Es scheint, als würden sie sich an die Oberfläche kämpfen, aus dem Privaten in die Öffentlichkeit ausbrechen wollen unter dem Schutzmantel des Tabubruchs und der Meinungsfreiheit. Gut erkennbar an dem einleitenden Satz: "Man wird doch noch mal sagen dürfen …" Oder auch, perfider noch, weil dieser postuliert, dass man ahnungslos und interessiert wie ein kleines Kind nur die Welt verstehen wolle: "Man wird doch noch mal fragen dürfen …" Dieses auftrumpfende "Man-wird-doch-noch-mal …" legt sich aber nicht wirklich kritisch mit dem Zeitgeist, mit dem Mainstream an, sondern profiliert sich an Vorurteilen, an Randgruppen, an denjenigen, die aus anderen Ländern kommen, anders aussehen, anders beten, anders leben, ihre Kinder anders zeugen, andere sexuelle Neigungen haben als die Mehrheit der Gesellschaft. Denn was anders – oder vermeintlich anders – ist, so scheint es manchmal, ist hierzulande nicht akzeptabel.

Da wundert es nicht, dass der Europarat rügt, Deutschland gehe nicht vehement genug gegen Rassismus und Intoleranz vor. Neu sind diese Debatten nicht, deren Semantik auch nicht. Neu sind jedoch die Angegriffenen und auch die Angreifer. Es sind nicht allein Stammtischler, die neuerdings diese Reden schwingen, nicht bloß Anhänger rechtsradikaler Parteien: Es sind einige von Deutschlands führenden Intellektuellen. "Man wird doch noch mal sagen dürfen" – ein Klassiker verlogener Selbstverteidigung, der aufkommende Empörung zur Seite wischen will, harmlos tuend und halbherzig entschuldigend, am besten den Spieß umdrehend, dass einem kritischen Geist wohl der Mund verboten werden solle.

Mit diesem Satz lässt sich auch hervorragend Kritik an der Politik und am Staat Israel einleiten, die knapp an der Grenze zu antisemitischen Ressentiments vorbeischrammt oder diese übertritt. Voraussetzung hierfür ist die These beziehungsweise der Vorwurf, man dürfe in Deutschland, als Deutscher, als Nachfahre des Tätervolks, die Politik eines Landes, das der Juden, nicht kritisieren, dürfe keine Meinung dazu äußern oder sogar haben, weil man für alle Ewigkeit als Schuldiger gekennzeichnet sei. Unfrei sei man in seiner politischen Meinung, könne nicht Kritik üben, wie man das bei anderen Ländern auch tue, auch an der eigenen Regierung.

Eine These, die spätestens widerlegt wird, wenn man einen Blick in die deutsche Presselandschaft wirft: Kaum ein Tag, an dem sich nicht ein Kommentar zu Ereignissen und Entscheidungen im Nahen Osten findet, kaum ein außenpolitischer Journalist, der seine Meinung zu diesem Thema noch nicht geäußert hat. Kaum jemand, der sich in privaten Diskussionen nicht zu Konflikten rund um Israel äußert. In diesen Diskussionen wird immer häufiger und mit immer mehr Selbstverständlichkeit eine Verknüpfung zwischen den Vorkommnissen im Nahen Osten und den Verbrechen der Nationalsozialisten hergestellt, immer mehr allgemeine Stereotype über Juden, die nichts mit der israelischen Regierung und deren Entscheidungen zu tun haben, und die teils die Schärfe rechtsradikaler Äußerungen erreichen, mischen sich in die Argumentationen, so verschiedene Studien.

Entlastungsantisemitismus

Es geht um die Wortwahl, es geht um die Art der Argumentation, es geht um eine ganz dünne Linie zwischen berechtigter und notwendiger Kritik an der Politik eines Landes und der Vermischung der Politik eines Landes mit Eigenschaften, die den in diesem Land lebenden Menschen zugeschrieben werden. Diese dünne Linie zu übertreten, ist ein Schritt Richtung Antisemitismus. Der wohl prominenteste und deshalb auch machtvollste Übertreter dieser Linie in den vergangen Jahren war der Literaturnobelpreisträger Günter Grass, der am 4. April 2012 in den Tageszeitungen Süddeutsche Zeitung, La Repubblica und El País ein Prosagedicht mit dem vielsagenden Titel Was gesagt werden muss veröffentlichte. Ein Titel, der sich wie ein Surrogat liest für "Man wird doch noch mal sagen dürfen". In dem Prosagedicht (eine Literaturgattung übrigens, mit der sich der zurecht hoch verehrte Schriftsteller bis dato nicht befasst hatte) führt Günter Grass außerordentlich klug vor, wie man nicht nur Israel auf antisemitische Weise kritisieren kann, sondern auch Kritikern gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen versuchen kann, indem man bereits im veröffentlichten Gedicht darauf hinweist, ein Tabu zu brechen, sich der Gefahr, als Antisemit abgestempelt zu werden, bewusst zu sein. Grass geht sogar einen Schritt weiter und erinnert selbst daran, dass er Bürger und Nachfahre eines Landes ist, "das von ureigenen Verbrechen, die ohne Vergleich sind, Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird". Man könnte in diesem Zusammenhang also von Entlastungsantisemitismus sprechen.

Wie vom Urheber und den veröffentlichenden Blattmachern bereits im Vorfeld vermutet und gewollt, löste das Gedicht eine internationale, kontroverse Diskussion darüber aus, ob man den Staat Israel kritisieren darf und wann diese Kritik die Grenze zum Antisemitismus überschreitet. Auffällig war dabei die Diskrepanz zwischen den meist kritischen Stellungnahmen zum Gedicht in den Medien, den Kommentaren in den Leserbriefen, die Grass als einem Deutschen, der endlich einen Tabubruch gewagt hat, applaudierten, sowie den offen antisemitischen Äußerungen unter Artikeln im Internet, die auf die Debatte Bezug nahmen. Während Günter Grass von zahlreichen Literatenkollegen kritisiert wurde (so sagte zum Beispiel die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, die das Gedicht auch formal auseinandernahm: "Er ist ja nicht ganz neutral. Wenn man mal in der SS-Uniform gekämpft hat, ist man nicht mehr in der Lage, neutral zu urteilen.") und auch seitens der deutschen Leitmedien angefochten wurde (so warf FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher dem "Meister der Sprache" vor, Begriffe wie zum Beispiel "Überlebende" "assoziativ" aufzurufen), wurde er von einem prominenten Meinungsmacher dieses Landes verteidigt, dem ein paar Monate später selbst Antisemitismus vorgeworfen werden sollte.

Jakob Augstein, Journalist und Verleger, anerkannter Sohn des Spiegel-Begründers Rudolf Augstein und leiblicher Sohn des Schriftstellers Martin Walser, Chefredakteur der Wochenzeitung Der Freitag und Kolumnist auf Spiegel Online, befand zwar, dass das Gedicht Was gesagt werden muss aus literarischer Sicht nicht groß sei, kommentierte aber folgende Zeile von Grass – "Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden" – mit den Worten: "Dieser Satz hat einen Aufschrei ausgelöst. Weil er richtig ist. Und weil ein Deutscher ihn sagt, ein Schriftsteller, ein Nobelpreisträger, weil Günter Grass ihn sagt. Darin liegt ein Einschnitt. Dafür muss man Grass danken. Er hat es auf sich genommen, diesen Satz für uns alle auszusprechen. Ein überfälliges Gespräch hat begonnen." Der Journalist, der sich beim Literaten für einen vermeintlichen Tabubruch bedankte, landete auf der Negativliste des Simon-Wiesenthal-Centers, in der "Top-Ten" antisemitischer und antiisraelischer Verunglimpfungen für 2012 auf dem neunten Rang, was zu Empörung in der deutschen Presselandschaft führte. Diese Empörung – neben Augstein fanden sich auf der Liste unter anderem Führer der ägyptischen Muslimbruderschaft und die iranische Regierung um Mahmud Ahmadinedschad – ist verständlich.

Die dünne Linie zwischen den Begriffen

Nichtsdestotrotz kann und muss man diskutieren, warum Jakob Augstein bei der Beschreibung von Gaza auf aus anderen Zusammenhängen entliehene Begriffe wie "Lager" zurückgreifen muss. Bei Literaturnobelpreisträgern, Journalisten und Publizisten, die, so möchte man annehmen, das Wort und das Spiel mit Worten lieben und auch beherrschen, darf man erwarten, dass sie sich genau, und zwar ganz genau, überlegen, mit welchen Begriffen sie, erst recht bei brisanten Themen, um sich werfen. Auch hier gibt es eine dünne Linie zwischen Begriffen, die akzeptabel sind, und jenen, die den Eigenschaftszuschreibungen zuzurechnen sind, die den Antisemitismus kennzeichnen, wenn sie die Juden (und hierfür muss vorab der Staat Israel mit dem jüdischen Volk gleichgesetzt werden) als machthungrig, gefährlich, hinterhältig, zerstörerisch, verschwörerisch, nachtragend oder geldgierig beschreiben. Dazwischen, auf der ganz dünnen Linie, stehen all jene Begriffe und Bilder, die nicht per se antisemitisch sind, aber jederzeit so aufgeladen, interpretiert und aufgenommen werden können.

 

Zur Fortsetzung des Essays

(Zuerst erschienen bei der Bundeszentrale für politische Bildung.)