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10.11.2013, 11:06 Uhr
Redaktion
Spektakula

Literaturfest München: Ein Abend mit Teju Cole

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Teju Cole während seiner Lesung im Literaturhaus München; links Stefan Hunstein (Lesung), rechts Tobias Döring (Moderation). © Literaturportal Bayern

„Eines der elegantesten Prosa-Essays über das komplexe Zusammenspiel von Identität und Erinnerung seit W. G. Sebald“ urteilt die FAZ über Teju Coles Roman Open City, der seit letztem Jahr auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen ist. Teju Cole stellte ihn vergangenen Donnerstag im Literaturhaus im Rahmen des Literaturfests München vor. Open City ist ein Roman, der die Figur des Flaneurs des 19./20. Jahrhunderts wiederaufnimmt, aber auch ein moderner zeitgenössischer Roman über Kosmopolitismus und Multikulturalismus. Im Sommer 2013 erhielt Teju Cole, 1975 in Michigan geboren, in Nigeria aufgewachsen, seit 1992 wieder in den USA und in New York, Brooklyn, lebend, für Open City den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt zusammen mit seiner Übersetzerin Christine Richter-Nilsson.

„Ich fahre nicht Auto“, sagt Teju Cole. „Ich bin immer auf öffentliche Verkehrsmittel, Freunde, die Auto fahren können, oder meine beiden Beine angewiesen, die mich von einem Ort zu einem anderen bringen. Ich laufe sehr viel. Eben deshalb erkundet die Hauptfigur meines Romans die Stadt zu Fuß und deshalb ist es ein Flaneur-Roman geworden. Alle Wege, die Julius abläuft, bin ich auch selbst gegangen und alle Orte, die er sieht, habe ich auch selbst besucht.“ Open City ist nur vordergründig ein Roman über einen Psychiater, der durch die Straßen der Weltmetropole New York zieht, nicht weiß, wohin ihn seine Schritte tragen, und der über seine vor Kurzem zerbrochene Liebesbeziehung, seine Kindheit und Isolation sinniert.

Es ist die „Sinfonie einer Großstadt“, komponiert aus den unzähligen Geschichten ihrer Einwohner und Besucher, zugleich aus den Spuren der Gewalt, die seit jeher historisch in sie eingeschrieben sind. Entscheidend ist deshalb nicht das, was explizit auf der Oberfläche des Textes geboten wird, die Klangräume der Alltagsstadt, sondern die Andeutungen und scheinbaren Nebensächlichkeiten, die sich mit ihnen vermischen. Cole sieht sein Buch eigentlich als einen Roman, der die Tragödie des 11. Septembers zu verarbeiten versucht, der aber auch das dunkle Kapitel des zwanzigsten Jahrhunderts, den zweiten Weltkrieg, anspricht wie auch das Trauma der Versklavung der schwarzen Bevölkerung in den USA zwischen dem siebzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Die Metropole als „Echokammer der Geschichte, voller Resonanzen der Gewalt, die in sie eindringt, aber auch der Gewalt, auf die sie sich in ihrer eigenen Geschichte selber gründet“, so fasste Tobias Döring, Anglistikprofessor an der LMU München, das Thema von Teju Coles schriftstellerischem Werk, insbesondere von Open City zusammen.

Auf die Frage, wie der Roman entstanden sei, welcher Gedanke bzw. welches Bild dazu geführt habe, antwortete Cole: „Es begann alles mit der Figur. Und ich habe ihr gesagt: ‚Julius, erzähl' mir deine Geschichte.‘“ Verträumt und gleichzeitig sehr genau beobachtend ist Julius' Blick auf seine Umgebung, seine Stadt New York. Visuelle Eindrücke häufen sich, sind aber immer wieder anders und neu. Der Blick, etwas nicht nur zu sehen, sondern auch zu erkennen, ist seine besondere Fähigkeit. Cole ist sehr vertraut mit dem visuellen Medium, der Fotografie. Er ist nicht umsonst Autor und Journalist, Kunsthistoriker und Fotograf. Er erzählte eingehend, wie er früher diese verschiedenen Berufe getrennt habe und erst später zu der Erkenntnis gekommen sei, dass sie zusammen sein Künstlerprofil ausmachten.

Unerwartet war dagegen Teju Coles Antwort auf die Frage, warum seine Hauptfigur deutsche Wurzeln habe. Zum einen wollte er an die lange deutsche Geschichte heranreichen, wie auch an das vielfältige kulturelle und wissenschaftliche Erbe. Zum anderen hatte Cole sich vor vielen Jahren in eine deutsche Frau verliebt. Wichtiger als dieses Eingeständnis waren jedoch andere Aspekte für das Verständnis von Open City an diesem Abend.

Allein der Titel ruft die unterschiedlichsten Assoziationen hervor: das „Offene“, das Kosmopolitische der Stadt New York, aber auch die militärische Bedeutung von Offenheit. Eine „offene Stadt“ ist eine, die sich den fremden Invasoren ergibt, ohne dafür zerstört zu werden, wie das bei Rom, Brüssel oder Paris im Zweiten Weltkrieg der Fall gewesen ist. Open City greift diese Situation auf und spiegelt genau die psychische Befangenheit wider, die nach 09/11 in New York vorlag.

Darüber hinaus gibt es in dem Roman eine sehr starke Verbindung zwischen dem Trauma des 20. Jahrhunderts, dem Holocaust, und dem Trauma der Sklaverei, nicht zuletzt deshalb, weil letzteres in der amerikanischen Geschichte immer noch nicht aufgearbeitet ist. Die Szene des Massengrabes unter den Bürogebäuden von Manhattan sei, so Teju Cole, ein Protest gegen dieses Vergessen und Verschweigen der eigenen Gewaltgeschichte. Open City sei heimgesucht von den Geistern, von der unerledigten Geschichte, den unerledigten Geschäften, die man sonst nur in Europa vermutet.

© Literaturhaus München/Foto: C. P. Schmieder

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