„All Abled Arts“ an den Münchner Kammerspielen
Zwischen dem 11.1. und 14.1.2024 fand unter dem Titel „All Abled Arts“ das Festival inklusiver Theaterformen in den Räumen der Münchner Kammerspiele statt. Das Performance-Konzept bietet Raum für die Einbindung mental oder körperlich beeinträchtigter Schauspielerinnen und Schauspieler ins fest engagierte Ensemble.
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Wir befinden uns in der zweiten Januarwoche 2024. Ganz München ist von einer Kälte-, Trauer- und Proteststreikwelle betroffen. Ganz München? Nein! Denn ein von unbeugsamen Kulturermöglicherinnen und Kulturermöglichern betriebenes städtisches Sprechtheater hört nicht auf, der um sich greifenden Resignation Widerstand zu leisten. Es positioniert charmante Studierende in orangefarbenen Shirts mit veganen Snack-Kreationen und bunten Infobroschüren an all seinen Pforten und Foyers zwischen Maximilians- und Hildegardstraße.
Mit treibenden Hard-Rock-Beats erweckt es gruselige Untote auf der Bühne des Werkraums zum Leben, und es lässt eine Truppe von britischen Drag Queens in der Therese-Giehse-Halle ihre schrille Idee von Weiblichkeit zelebrieren. Es lädt zu Gesprächen, Diskussionen und Fragestunden und öffnet die Kantine der Falkenbergschüler für einen Gitarren-Pop-Auftritt des Mutter-Tochter-Duos „blind & lame“. Denn: es ist nicht irgendeine fröhliche Feier künstlerischer Daseinsfreude, sondern ein durchaus herausforderndes „Festival inklusiver Theaterformen“, das sich unter dem Namen „All Abled Arts“ zwischen 11. und 14.1. 2024 in den Räumen der Münchner Kammerspiele vollzieht. Ein nicht-abelistisches Performance-Konzept, welches Raum für die Einbindung mental oder körperlich beeinträchtigter Schauspielerinnen und Schauspieler ins fest engagierte Theaterkollektiv schafft, liegt all den bunt schillernden Veranstaltungen zu Grunde.
Zugleich wird auf organisatorischer Ebene alles dafür getan, um unterschiedlich talentierten Zuschauenden die Chance auf das gemeinsame Durchleben intensiver Theatermomente zu geben. Leichte Sprache. Übertitel. Audio-Deskriptionen. Barrierefreiheit. Zugänglichkeit allüberall. Was auf diese Art entsteht, ist in seinen besten Situationen ein befreiter, radikal innovativer Raum, der das Spiegeln und Ineinandergleiten unterschiedlicher Erfahrungswelten, mitunter gar ein luzides Sich-Erkennen im Lebensthema einer anderen Person zulässt.
Wer „Libido Romantico“ miterlebte, wer also dabei war, als an den beiden letzten Festival-Tagen sieben junge Darstellerinnen und Darsteller von Teatr 21 aus Warschau im Werkraum ihre Sehnsucht nach Intimität, Erotik und Zärtlichkeit in bühnenwirksame Bilder übersetzten, wer sah, wie die 24-jährige Maja Kowalczyk als anrührende, blütenbekränzte Kindfrau im Fake Fur die Angreifbarkeit ihres Körpers auf einem Kitsch-Diwan darbot, wer hörte, wie die Aktivistin Aleksandra Skotarek mit rauen, gutturalen Tönen ihre Verzweiflung beschwor, als DS-Betroffene im aktuellen gesellschaftlichen Konsens Polens NICHT begehrt und NICHT Mutter werden zu dürfen, wer die High Heels, die Stoff-Orchideen, die Soft-Porno-Requisiten sah, konnte sich mühelos ins eigene sexuell unterdrückte Coming of Age jenseits von Trisomie 21 zurückversetzt fühlen und mit der Wut des Performer-Teams verbinden.
Antigone, die Sophokles-Tragödie der eigensinnigen, grenzgängerischen Königstochter aus dem fluchbeladenen Haus der Lapdakiden wird im Repertoire der Kammerspiele bereits seit einem Jahr als Anti-gone in Leichter Sprache aufgeführt. Und von der visuell und kognitiv beeinträchtigten Künstlerin Johanna Kappauf als dezidiert andersfähige Person nahezu idealtypisch gegeben. Seherisch anstatt sehend. In recycleter Ethno-Couture, auf dem Kopf eine Krone aus Weidengeflecht, traumwandlerisch sicher inneren Leitlinien folgend.
Akzentuiert von der vollkommen ungebremst ausgelebten Spielfreude ihrer beiden DS-betroffenen Bühnenpartner Dennis Fell-Hernandez und Frangiskos Kakoulakis sowie unterstützt durch ihre non-binär besetzten Kolleg:innen Johanna Eiworth, Nancy Mensah-Offei und Sebastian Brandes stellt diese Antigone-Version der Münchner Kammerspiele im Kontext des Festivals klar: ohne gehandicapte, beeinträchtigte, anders lernfähige oder besonders bedürftige Menschen, ohne deren Direktheit, Klarheit, Sensitivität war (Stadt)-Gesellschaft zu keinem Zeitpunkt in der Zivilisationshistorie zu denken. Nicht ohne die ihrer schweren SMA-Erkrankung abgetrotzte Musikalität einer singenden Großstadtnomadin wie Lucy Wilke. Nicht ohne die ins Hyperaktiv-Hysterische driftende Durchgedrehtheit einer (Volks)-Bühnen-Persona wie der von Karla Sengteller. Nicht ohne den unverhohlen zur Schau getragenen Narzissmus ihres Kollegen Robin Krakowski vom Berliner RambaZamba-Ensemble der, zusammen mit dem deutschlandweit bekannten Wetten-dass-Tetraplegiker Samuel Koch das Große Haus der Kammerspiele am Festival-Eröffnungsabend unter der Regie von Leander Hausmann mit allerlei inklusions-UN-sensiblen Kapriolen aufmischte. Nicht ohne all die Macken, Schäden, Knäckse, Fehlleistungen und Dysfunktionen, die die Facetten einer gemischt-befähigten Gesellschaft ausmachen.
Vor allem aber nicht ohne die Talente und Energien derer, die als sendbotenartige Wesen zwischen den diversen Erlebniswelten unterwegs sind. Jemand wie Anne Leichtfuß, Deutschlands erste Simultandolmetscherin für Leichte Sprache beispielsweise, die am Anti-gone-Abend des Festivals für das schnörkellos schöne, wahrhaft permeable Sprachkunstwerk gefeiert wurde, das sie aus Friedrich Hölderlins bühnendeutscher Version der Sophokles-Tragödie gemacht hatte. Oder jemand wie der Gebärdensprachdolmetscher Christian Pflugfelder, der, selbst Sohn gehörloser Eltern und Vater von gehörlosen Kindern, die Inszenierung der Zirkusrevue „Wer immer hofft, stirbt singend“ gestisch, mimisch und mundlautlich in den Zuschauerraum übertrug. Hochkonzentriert. Anmutig. Enorm bühnenpräsent. Und so zum Publikumsliebling jenes Abends aufstieg.
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Zwischen dem 11.1. und 14.1.2024 fand unter dem Titel „All Abled Arts“ das Festival inklusiver Theaterformen in den Räumen der Münchner Kammerspiele statt. Das Performance-Konzept bietet Raum für die Einbindung mental oder körperlich beeinträchtigter Schauspielerinnen und Schauspieler ins fest engagierte Ensemble.
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Wir befinden uns in der zweiten Januarwoche 2024. Ganz München ist von einer Kälte-, Trauer- und Proteststreikwelle betroffen. Ganz München? Nein! Denn ein von unbeugsamen Kulturermöglicherinnen und Kulturermöglichern betriebenes städtisches Sprechtheater hört nicht auf, der um sich greifenden Resignation Widerstand zu leisten. Es positioniert charmante Studierende in orangefarbenen Shirts mit veganen Snack-Kreationen und bunten Infobroschüren an all seinen Pforten und Foyers zwischen Maximilians- und Hildegardstraße.
Mit treibenden Hard-Rock-Beats erweckt es gruselige Untote auf der Bühne des Werkraums zum Leben, und es lässt eine Truppe von britischen Drag Queens in der Therese-Giehse-Halle ihre schrille Idee von Weiblichkeit zelebrieren. Es lädt zu Gesprächen, Diskussionen und Fragestunden und öffnet die Kantine der Falkenbergschüler für einen Gitarren-Pop-Auftritt des Mutter-Tochter-Duos „blind & lame“. Denn: es ist nicht irgendeine fröhliche Feier künstlerischer Daseinsfreude, sondern ein durchaus herausforderndes „Festival inklusiver Theaterformen“, das sich unter dem Namen „All Abled Arts“ zwischen 11. und 14.1. 2024 in den Räumen der Münchner Kammerspiele vollzieht. Ein nicht-abelistisches Performance-Konzept, welches Raum für die Einbindung mental oder körperlich beeinträchtigter Schauspielerinnen und Schauspieler ins fest engagierte Theaterkollektiv schafft, liegt all den bunt schillernden Veranstaltungen zu Grunde.
Zugleich wird auf organisatorischer Ebene alles dafür getan, um unterschiedlich talentierten Zuschauenden die Chance auf das gemeinsame Durchleben intensiver Theatermomente zu geben. Leichte Sprache. Übertitel. Audio-Deskriptionen. Barrierefreiheit. Zugänglichkeit allüberall. Was auf diese Art entsteht, ist in seinen besten Situationen ein befreiter, radikal innovativer Raum, der das Spiegeln und Ineinandergleiten unterschiedlicher Erfahrungswelten, mitunter gar ein luzides Sich-Erkennen im Lebensthema einer anderen Person zulässt.
Wer „Libido Romantico“ miterlebte, wer also dabei war, als an den beiden letzten Festival-Tagen sieben junge Darstellerinnen und Darsteller von Teatr 21 aus Warschau im Werkraum ihre Sehnsucht nach Intimität, Erotik und Zärtlichkeit in bühnenwirksame Bilder übersetzten, wer sah, wie die 24-jährige Maja Kowalczyk als anrührende, blütenbekränzte Kindfrau im Fake Fur die Angreifbarkeit ihres Körpers auf einem Kitsch-Diwan darbot, wer hörte, wie die Aktivistin Aleksandra Skotarek mit rauen, gutturalen Tönen ihre Verzweiflung beschwor, als DS-Betroffene im aktuellen gesellschaftlichen Konsens Polens NICHT begehrt und NICHT Mutter werden zu dürfen, wer die High Heels, die Stoff-Orchideen, die Soft-Porno-Requisiten sah, konnte sich mühelos ins eigene sexuell unterdrückte Coming of Age jenseits von Trisomie 21 zurückversetzt fühlen und mit der Wut des Performer-Teams verbinden.
Antigone, die Sophokles-Tragödie der eigensinnigen, grenzgängerischen Königstochter aus dem fluchbeladenen Haus der Lapdakiden wird im Repertoire der Kammerspiele bereits seit einem Jahr als Anti-gone in Leichter Sprache aufgeführt. Und von der visuell und kognitiv beeinträchtigten Künstlerin Johanna Kappauf als dezidiert andersfähige Person nahezu idealtypisch gegeben. Seherisch anstatt sehend. In recycleter Ethno-Couture, auf dem Kopf eine Krone aus Weidengeflecht, traumwandlerisch sicher inneren Leitlinien folgend.
Akzentuiert von der vollkommen ungebremst ausgelebten Spielfreude ihrer beiden DS-betroffenen Bühnenpartner Dennis Fell-Hernandez und Frangiskos Kakoulakis sowie unterstützt durch ihre non-binär besetzten Kolleg:innen Johanna Eiworth, Nancy Mensah-Offei und Sebastian Brandes stellt diese Antigone-Version der Münchner Kammerspiele im Kontext des Festivals klar: ohne gehandicapte, beeinträchtigte, anders lernfähige oder besonders bedürftige Menschen, ohne deren Direktheit, Klarheit, Sensitivität war (Stadt)-Gesellschaft zu keinem Zeitpunkt in der Zivilisationshistorie zu denken. Nicht ohne die ihrer schweren SMA-Erkrankung abgetrotzte Musikalität einer singenden Großstadtnomadin wie Lucy Wilke. Nicht ohne die ins Hyperaktiv-Hysterische driftende Durchgedrehtheit einer (Volks)-Bühnen-Persona wie der von Karla Sengteller. Nicht ohne den unverhohlen zur Schau getragenen Narzissmus ihres Kollegen Robin Krakowski vom Berliner RambaZamba-Ensemble der, zusammen mit dem deutschlandweit bekannten Wetten-dass-Tetraplegiker Samuel Koch das Große Haus der Kammerspiele am Festival-Eröffnungsabend unter der Regie von Leander Hausmann mit allerlei inklusions-UN-sensiblen Kapriolen aufmischte. Nicht ohne all die Macken, Schäden, Knäckse, Fehlleistungen und Dysfunktionen, die die Facetten einer gemischt-befähigten Gesellschaft ausmachen.
Vor allem aber nicht ohne die Talente und Energien derer, die als sendbotenartige Wesen zwischen den diversen Erlebniswelten unterwegs sind. Jemand wie Anne Leichtfuß, Deutschlands erste Simultandolmetscherin für Leichte Sprache beispielsweise, die am Anti-gone-Abend des Festivals für das schnörkellos schöne, wahrhaft permeable Sprachkunstwerk gefeiert wurde, das sie aus Friedrich Hölderlins bühnendeutscher Version der Sophokles-Tragödie gemacht hatte. Oder jemand wie der Gebärdensprachdolmetscher Christian Pflugfelder, der, selbst Sohn gehörloser Eltern und Vater von gehörlosen Kindern, die Inszenierung der Zirkusrevue „Wer immer hofft, stirbt singend“ gestisch, mimisch und mundlautlich in den Zuschauerraum übertrug. Hochkonzentriert. Anmutig. Enorm bühnenpräsent. Und so zum Publikumsliebling jenes Abends aufstieg.