Zur Eröffnung des Bamberger Literaturfestivals 2024: Jüdische Stimmen aus den Jahrhunderten
Mit Lesungen und Gesprächen zum Thema „Jüdisches Bamberg. Stimmen aus den Jahrhunderten“ fand am 21. Januar die Auftaktveranstaltung des 9. Bamberger Literaturfestivals in den Harmoniesälen der Stadt Bamberg statt. Das Bamberger Literaturfestival, kurz #BamLit, findet alljährlich statt und vermittelt zeitgenössische Literatur auf hohem Niveau. Renommierte Autorinnen und Autoren werden im Rahmen des Festivals zu Lesungen und Diskussionsrunden in die Region eingeladen. Dass das diesjährige Programm das jüdische Bamberg eröffnend in den Fokus stellt, ist durchaus bemerkenswert. Ein symbolträchtiger Akt, der die Bedeutung der jüdischen Stimmen für den Bamberger Kultur- und Literaturraum würdigt. Das Literaturportal war vor Ort und hat nach der Veranstaltung zudem Gespräche mit den Beteiligten führen können.
*
„Zuckerwerk wird gleich verteilt, so lange die Gäste noch nüchtern sind.“ – Wie das zahlreich erschienene Publikum an diesem Sonntagvormittag zur allgemeinen Erheiterung erfuhr, war dies eine jener praktischen Festregeln, zu der man sich auf jüdischen Hochzeiten im 17. Jahrhundert schließlich entschloss; nach einschlägigen Erfahrungen mit der ausgeprägten Feier- und Trinklaune der Gäste. Ob diese Regelung dem obligatorischen „Tanz der Schwiegermütter“ dann eher dienlich oder hinderlich war, bleibt dabei einmal dahingestellt.
In den Genuss dieses und anderer, bislang ungeahnter Bonmots kam die ganz gegenwärtige Zuhörerschaft jedenfalls reichlich. Oder wussten Sie bereits, dass sich das kuschelige Wörtchen „schmusen“ vom jiddischen „Schmus“ ableiten lässt? Also jener kleinen, mehr oder auch weniger netten Unwahrheit – dem Schmarrn, Schmonzes verwandt –, mit der man dem potentiellen Handelspartner durch verlockende, gekonnt um den Finger wickelnde Worte ein gutes Gefühl vermitteln wollte?
Jenseits von Schmus und Schmarrn
Ein gutes Gefühl, jenseits von Schmus und Schmarrn, vermittelten jedenfalls die warmen Begrüßungsworte des Schriftstellers Nevfel Cumart, der das Publikum zu einer gemeinsamen Rückschau auf mehr als ein Jahrtausend jüdischer Geschichte und Gegenwart in Bamberg einlud.
Dieses Zurückschauen gestaltete sich allerdings eher auditiv; es glich einem Nachlauschen jüdischer Geschichte und Geschichten, die in Gestalt vorgetragener Auszüge aus Briefwechseln, Erlässen, Dokumenten und offiziellen Gesuchen einen polyphonen Resonanzraum jüdischer Stimmen im Wechsel der Zeiten erzeugten.
Die Lesung aus den historischen Dokumenten wurde von Nevfel Cumart und der Autorin Tanja Kinkel wechselnd und teilweise auch im Dialog vorgetragen; sehr anrührend hier etwa der gemeinsame Vortrag der Korrespondenz eines Liebespaares aus der späten Aufklärungszeit.
Dieser O-Ton-Charakter verlieh dem retrospektiven, historisch-resümierenden Charakter der Veranstaltung eine angenehme, bisweilen sogar mitreißende Lebendigkeit und Anschaulichkeit, die bei der Zuhörerschaft gut ankam.
Durch alle Stände, gesellschaftliche Stellungen und Themen des Lebenserhalts, der Familienplanung, durch all die umfassenderen gesellschaftlichen wie privaten bescheidenden Lebensentwürfe hindurch hörte man den in den offiziellen Gesuchen und Briefen sich zu Wort meldenden Personen dabei stets ihr Ringen um ein möglichst würdiges Dasein zwischen Integration und Ausgrenzung an.
Einfühlsam, klug und kenntnisreich moderierte Tanja Kinkel dann jene die historischen O-Töne flankierenden Gespräche mit der Historikerin und Autorin Karin Dengler-Schreiber, der Rabbinerin und Ärztin Antje Yael Deusel sowie mit dem Literaturkritiker und Autor Rolf-Bernhard Essig.
Trotz der Detailgenauigkeit, die sowohl ihre Fragen als auch die Antworten ihres jeweiligen Gegenübers kennzeichneten, behielt die Moderation dabei ein Gefühl fürs Timing, sodass trotz der Fülle an Informationen zu keinem Moment ein Gefühl der Überfrachtung aufkam und sich tatsächlich auch keine Langatmigkeit einstellte.
Links: Nevfel Cumart. Rechts: Antje Yael Deusel und Tanja Kinkel.
Auf der Suche nach Sichtbarkeit
Karin Dengler-Schreibers Ausführungen zur frühen jüdischen Stadtgeschichte waren ebenso kurzweilig vorgetragen wie informativ. Zugleich machten sie klarer, warum es in der Rückschau auf das jüdische Bamberg tatsächlich wohl im Vergleich zu früher weniger zu sehen als zu hören gibt: Nicht nur ist die ehemalige Synagoge seit Jahrhunderten ein christliches Gotteshaus; auch von dem Judenhof nahe beim Markt ist heute nichts mehr zu sehen; war er aber doch das Zeichen, dass sich die Urbanisierung der Juden, die Präsenz der jüdischen Bevölkerung bereits im Stadtgrundriss spiegelte. Die Judenstraße ist noch erhalten.
Aber wo das Kollektiv – stadtarchitektonisch gesehen – verblasst, tritt das Individuum hervor: Der zum Katholizismus konvertierte Jude Adalbert Friedrich Marcus hat mit seinen zahlreichen Gründungen der Stadt seine Konturen verliehen: Im Revolutionsjahr 1789 gründete er nicht nur das Bamberger Krankenhaus und damit verbunden auch die erste moderne Nervenklinik, sondern auch das Bamberger Theater sowie 1802 die Harmoniegesellschaft, in deren Sälen diese Veranstaltung auch stattfand.
Und dass er bereits im 18. Jahrhundert auf die Idee kam, Gehaltsprämien für besonders gut arbeitende Krankenschwestern auszuloben, würde man sich heute sofort zurückwünschen. Dengler-Schreiber jedenfalls sprach so lebhaft von ihm, dass man fast das Gefühl hatte, er käme jeden Augenblick höchstpersönlich zur Tür herein, um den Applaus für seine Wohltaten entgegenzunehmen.
Wie bestellt man Kaffee auf Neuhebräisch?
Rolf-Bernhard Essig wiederum „übersetzte“ nicht nur das Schmusen für uns sozusagen zurück bis zum „Schmus“; er unterhielt auch mit so viel Wortwitz und Wortwissen, dass man ihn eigentlich gerne das gesamte Alphabet des Jiddischen abgefragt hätte – zu jedem Buchstaben eine Geschichte, eine Herleitung bitte. Oder ein Lied!
Denn er war nicht allein gekommen: Zusammen mit Franz Tröger, der die Spieluhr sehr stimmungsvoll zum Klingen brachte, gab er jiddische und hebräische Lieder zum Besten, die sich wie ein klangvoller Faden durch diesen Lesungs- und Gesprächsvormittag zogen und sicherlich jeden im Saal das Nachhorchen und Lauschen genießen ließen.
Antje Yael Deusel nun hätte man sehr gerne noch viel länger zugehört. Die erste sowohl in Deutschland geborene als auch hier ausgebildete Rabbinerin, die neben der Leitung und Betreuung ihrer Gemeinde zudem bis heute als niedergelassene Ärztin arbeitet, erzählte so viele eindrückliche, lehrreiche und auch lustige Anekdoten aus ihrer Ausbildungszeit, die sie auch an das Rabbinerkolleg nach Jerusalem führte, dass man sich gar nicht entscheiden kann, welche hier zu erwähnen oder auszuwählen wäre.
Wie bestellt man einen Kaffee auf Neuhebräisch? Wie verzweifelt kann man sein, wenn man in einem Haushaltswarengeschäft in Jerusalem dringend eine Schüssel kaufen will und einem aber das Wort auf Hebräisch nicht einfällt. Was nützt einem da das verbale Wissen von Worten wie „Teller“, „Tasse“ und „Topf“? Sie versuchte es mit allen möglichen Umschreibungen und mit Gesten den Tränen nah, bis jemand aus dem Hinterzimmer des Geschäfts plötzlich entnervt auf Deutsch rief: „Mensch, die Frau will eine Schissel!“
Oder die, dass Frauen beim gemeinsamen Lesen und Lernen der Thora von den Männern nicht angesehen werden; wie aber sollte sie wissen, wo genau sie lesen sollte? „Wo“, fragte sie mehrfach und erhielt ein vages, da im wahrsten Sinne des Wortes undeutbares „Na da…“ Schließlich hieß es fast verzweifelt: „Ach Moischele, lies du!“ Oder der Reinigungsmann, der eines Tages vor dem Raumputzen die Gruppe der Studierenden schüchtern fragt: „Lernen Sie hier zusammen?“ – „Ja.“ „Auch die Frau?“ – „Ja.“ – „Ach, dass ich das noch erleben darf!“ – Da kommt der Rabbiner: „Gehen Sie raus, die hier stehen alle über Ihnen.“ Und sie, die den Mann nie vergessen hat und diese Begegnung.
Ebenso anzumerken war dieser wortgewandten Rabbinerin jedoch auch, dass sie sich Zeit ihres Lebens in einer reinen Männerdomäne behaupten musste.
Links: Karin Dengler-Schreiber. Rechts: Rolf-Bernhard Essig und Franz Tröger.
Es geht weiter.
Dass die Zeiten nicht nur heute, seit dem Terrorangriff der Hamas, besonders sensibel sind für eine jüdische Minderheitengemeinde in der Diaspora, versteht sich von selbst. Aber Deusel betonte im Gespräch mit Tanja Kinkel die tiefe Ambivalenz des derzeitigen Daseins: Zum einen gäbe sehr viel Unterstützung und Solidarität. Zum anderen jene Menschen, die ihr plötzlich unverhüllt antisemitische Dinge sagen, die sie schon immer dachten, sich jetzt aber erst trauen; während sich die Gemeinde kaum traut zu sagen, wo sie sich trifft, aus Angst vor Übergriffen.
Den Lockdown zu Corona bezeichnete sie für sich und ihre Gemeinde als eine „arge Herausforderung“. Wie zusammenkommen und zusammen Schabbes feiern, wie die Menschen betreuen?
Antje Yael Deusels Kernsatz: Es geht weiter.
Und auch die Lesung ging weiter. Das sicherlich unterschiedlich informierte Publikum erfuhr nämlich auch aus den besagten historischen „O-Tönen“, den Quellen, allerlei Wissenswertes. Das verbriefte Auftauchen der Jüdin Esther Samuel auf der Leipziger Messe im 17. Jahrhundert etwa zeugt davon, dass es damals durchaus auch Frauen gab, die den Händlerberuf ausübten.
Oder der Umstand, dass Juden neben dem üblichen „Schutzgeld“ zu Sankt Martin auch ein „Gansgeld“ zahlen mussten oder dass Rabbi Minz im 15. Jahrhundert in einem Erlass die Sitte abschaffte, die vom Straßenschlamm und Schmutz besudelten Holzschuhe vor der Synagoge stehenzulassen, da diese riesige schmutzige Ansammlung von Schuhen wie „eine Herde ohne Hirte“ sei. Oder dass der bekannte Rabbiner Samuel von Bamberg aus dem 11. Jahrhundert von seinen Schülern als „zu wenig streng“ bezeichnet wurde und außerdem wortstark dafür plädierte, dass „eine Frau nicht wie eine Magd zu behandeln“ sei. Oder oder oder …
„In Bamberg konnten wir aus Angst nicht schlafen.“
Neben all den Räumen, die sich die wachsende jüdische Gemeinde in Bamberg im Laufe der Jahrhunderte erschloss – die erste jüdische Ansiedlung in Bamberg wurde 1097 erwähnt – spiegelt sich aber auch die düstere Seite, die zahlreichen Progrome und Verfolgungen, in den vorgetragenen Dokumenten wider. So starben im Jahr 1298 während der sogenannten „Rindfleischverfolgung“ wohl etwa 130 Juden der damals schon recht großen jüdischen Gemeinde, die für das 13. Jahrhundert auf 3.000-5.000 Personen geschätzt wird.
„In Bamberg konnten wir aus Angst nicht schlafen.“ – Auch dies kam zur Sprache: Als in der Progromnacht, der sogenannten „Reichskristallnacht“, 1938 alle jüdischen Bamberger zwischen 15 und 65 Jahren verhaftet und in das Gestapo-Gefängnis in der Sandstraße gebracht wurden und von dort für einige Wochen in das Konzentrationslager Dachau, wurde ihnen vor dem Gefängnis noch von einer Menschenansammlung, bestehend aus Bamberger Bürgern, ins Gesicht geschlagen.
Zwar kamen sie zunächst wieder zurück zu ihren Familien, doch der Weg unter den Nationalsozialisten führte in Bamberg ebenso wie in ganz Deutschland für alle Jüdinnen und Juden entweder in die Shoa oder ins Exil.
Der zutiefst bewegende Briefwechsel der Familie Kuhn, aus dem Tanja Kinkel und Nevfel Cumart abschließend für diese Zeit exemplarisch vorlasen, führte daher auch für die Familie des Bamberger Wurstmachers und Metzgermeisters Kuhn seitens der Kinder und Geschwister ins Exil nach London und die USA; für Helene und Philipp Kuhn selbst aber nach Osten in die Vernichtungslager, wo sie umkamen. Und es blieb einem das Lachen geradezu im Hals stecken, als Kuhns Worte an seinen Sohn Klaus vorgelesen hörbar wurden: „Heute wurde in der Jüdischen Zeitung eine Stelle für einen Wurstmacher inseriert: in Indien.“
Und auch diese Worte hallten im gesamten, höchst konzentrierten Publikum spürbar nach: „Wenn es Gott will, wird es eine Zeit geben, in der wir auch glücklich sein werden.“
Ja, es wurde viel Tacheles geredet und keinerlei Schmonzes gehört auf dieser in vielerlei Hinsicht nachhaltigen Auftaktveranstaltung des diesjährigen Bamberger Literaturfestivals.
Zur Eröffnung des Bamberger Literaturfestivals 2024: Jüdische Stimmen aus den Jahrhunderten>
Mit Lesungen und Gesprächen zum Thema „Jüdisches Bamberg. Stimmen aus den Jahrhunderten“ fand am 21. Januar die Auftaktveranstaltung des 9. Bamberger Literaturfestivals in den Harmoniesälen der Stadt Bamberg statt. Das Bamberger Literaturfestival, kurz #BamLit, findet alljährlich statt und vermittelt zeitgenössische Literatur auf hohem Niveau. Renommierte Autorinnen und Autoren werden im Rahmen des Festivals zu Lesungen und Diskussionsrunden in die Region eingeladen. Dass das diesjährige Programm das jüdische Bamberg eröffnend in den Fokus stellt, ist durchaus bemerkenswert. Ein symbolträchtiger Akt, der die Bedeutung der jüdischen Stimmen für den Bamberger Kultur- und Literaturraum würdigt. Das Literaturportal war vor Ort und hat nach der Veranstaltung zudem Gespräche mit den Beteiligten führen können.
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„Zuckerwerk wird gleich verteilt, so lange die Gäste noch nüchtern sind.“ – Wie das zahlreich erschienene Publikum an diesem Sonntagvormittag zur allgemeinen Erheiterung erfuhr, war dies eine jener praktischen Festregeln, zu der man sich auf jüdischen Hochzeiten im 17. Jahrhundert schließlich entschloss; nach einschlägigen Erfahrungen mit der ausgeprägten Feier- und Trinklaune der Gäste. Ob diese Regelung dem obligatorischen „Tanz der Schwiegermütter“ dann eher dienlich oder hinderlich war, bleibt dabei einmal dahingestellt.
In den Genuss dieses und anderer, bislang ungeahnter Bonmots kam die ganz gegenwärtige Zuhörerschaft jedenfalls reichlich. Oder wussten Sie bereits, dass sich das kuschelige Wörtchen „schmusen“ vom jiddischen „Schmus“ ableiten lässt? Also jener kleinen, mehr oder auch weniger netten Unwahrheit – dem Schmarrn, Schmonzes verwandt –, mit der man dem potentiellen Handelspartner durch verlockende, gekonnt um den Finger wickelnde Worte ein gutes Gefühl vermitteln wollte?
Jenseits von Schmus und Schmarrn
Ein gutes Gefühl, jenseits von Schmus und Schmarrn, vermittelten jedenfalls die warmen Begrüßungsworte des Schriftstellers Nevfel Cumart, der das Publikum zu einer gemeinsamen Rückschau auf mehr als ein Jahrtausend jüdischer Geschichte und Gegenwart in Bamberg einlud.
Dieses Zurückschauen gestaltete sich allerdings eher auditiv; es glich einem Nachlauschen jüdischer Geschichte und Geschichten, die in Gestalt vorgetragener Auszüge aus Briefwechseln, Erlässen, Dokumenten und offiziellen Gesuchen einen polyphonen Resonanzraum jüdischer Stimmen im Wechsel der Zeiten erzeugten.
Die Lesung aus den historischen Dokumenten wurde von Nevfel Cumart und der Autorin Tanja Kinkel wechselnd und teilweise auch im Dialog vorgetragen; sehr anrührend hier etwa der gemeinsame Vortrag der Korrespondenz eines Liebespaares aus der späten Aufklärungszeit.
Dieser O-Ton-Charakter verlieh dem retrospektiven, historisch-resümierenden Charakter der Veranstaltung eine angenehme, bisweilen sogar mitreißende Lebendigkeit und Anschaulichkeit, die bei der Zuhörerschaft gut ankam.
Durch alle Stände, gesellschaftliche Stellungen und Themen des Lebenserhalts, der Familienplanung, durch all die umfassenderen gesellschaftlichen wie privaten bescheidenden Lebensentwürfe hindurch hörte man den in den offiziellen Gesuchen und Briefen sich zu Wort meldenden Personen dabei stets ihr Ringen um ein möglichst würdiges Dasein zwischen Integration und Ausgrenzung an.
Einfühlsam, klug und kenntnisreich moderierte Tanja Kinkel dann jene die historischen O-Töne flankierenden Gespräche mit der Historikerin und Autorin Karin Dengler-Schreiber, der Rabbinerin und Ärztin Antje Yael Deusel sowie mit dem Literaturkritiker und Autor Rolf-Bernhard Essig.
Trotz der Detailgenauigkeit, die sowohl ihre Fragen als auch die Antworten ihres jeweiligen Gegenübers kennzeichneten, behielt die Moderation dabei ein Gefühl fürs Timing, sodass trotz der Fülle an Informationen zu keinem Moment ein Gefühl der Überfrachtung aufkam und sich tatsächlich auch keine Langatmigkeit einstellte.
Links: Nevfel Cumart. Rechts: Antje Yael Deusel und Tanja Kinkel.
Auf der Suche nach Sichtbarkeit
Karin Dengler-Schreibers Ausführungen zur frühen jüdischen Stadtgeschichte waren ebenso kurzweilig vorgetragen wie informativ. Zugleich machten sie klarer, warum es in der Rückschau auf das jüdische Bamberg tatsächlich wohl im Vergleich zu früher weniger zu sehen als zu hören gibt: Nicht nur ist die ehemalige Synagoge seit Jahrhunderten ein christliches Gotteshaus; auch von dem Judenhof nahe beim Markt ist heute nichts mehr zu sehen; war er aber doch das Zeichen, dass sich die Urbanisierung der Juden, die Präsenz der jüdischen Bevölkerung bereits im Stadtgrundriss spiegelte. Die Judenstraße ist noch erhalten.
Aber wo das Kollektiv – stadtarchitektonisch gesehen – verblasst, tritt das Individuum hervor: Der zum Katholizismus konvertierte Jude Adalbert Friedrich Marcus hat mit seinen zahlreichen Gründungen der Stadt seine Konturen verliehen: Im Revolutionsjahr 1789 gründete er nicht nur das Bamberger Krankenhaus und damit verbunden auch die erste moderne Nervenklinik, sondern auch das Bamberger Theater sowie 1802 die Harmoniegesellschaft, in deren Sälen diese Veranstaltung auch stattfand.
Und dass er bereits im 18. Jahrhundert auf die Idee kam, Gehaltsprämien für besonders gut arbeitende Krankenschwestern auszuloben, würde man sich heute sofort zurückwünschen. Dengler-Schreiber jedenfalls sprach so lebhaft von ihm, dass man fast das Gefühl hatte, er käme jeden Augenblick höchstpersönlich zur Tür herein, um den Applaus für seine Wohltaten entgegenzunehmen.
Wie bestellt man Kaffee auf Neuhebräisch?
Rolf-Bernhard Essig wiederum „übersetzte“ nicht nur das Schmusen für uns sozusagen zurück bis zum „Schmus“; er unterhielt auch mit so viel Wortwitz und Wortwissen, dass man ihn eigentlich gerne das gesamte Alphabet des Jiddischen abgefragt hätte – zu jedem Buchstaben eine Geschichte, eine Herleitung bitte. Oder ein Lied!
Denn er war nicht allein gekommen: Zusammen mit Franz Tröger, der die Spieluhr sehr stimmungsvoll zum Klingen brachte, gab er jiddische und hebräische Lieder zum Besten, die sich wie ein klangvoller Faden durch diesen Lesungs- und Gesprächsvormittag zogen und sicherlich jeden im Saal das Nachhorchen und Lauschen genießen ließen.
Antje Yael Deusel nun hätte man sehr gerne noch viel länger zugehört. Die erste sowohl in Deutschland geborene als auch hier ausgebildete Rabbinerin, die neben der Leitung und Betreuung ihrer Gemeinde zudem bis heute als niedergelassene Ärztin arbeitet, erzählte so viele eindrückliche, lehrreiche und auch lustige Anekdoten aus ihrer Ausbildungszeit, die sie auch an das Rabbinerkolleg nach Jerusalem führte, dass man sich gar nicht entscheiden kann, welche hier zu erwähnen oder auszuwählen wäre.
Wie bestellt man einen Kaffee auf Neuhebräisch? Wie verzweifelt kann man sein, wenn man in einem Haushaltswarengeschäft in Jerusalem dringend eine Schüssel kaufen will und einem aber das Wort auf Hebräisch nicht einfällt. Was nützt einem da das verbale Wissen von Worten wie „Teller“, „Tasse“ und „Topf“? Sie versuchte es mit allen möglichen Umschreibungen und mit Gesten den Tränen nah, bis jemand aus dem Hinterzimmer des Geschäfts plötzlich entnervt auf Deutsch rief: „Mensch, die Frau will eine Schissel!“
Oder die, dass Frauen beim gemeinsamen Lesen und Lernen der Thora von den Männern nicht angesehen werden; wie aber sollte sie wissen, wo genau sie lesen sollte? „Wo“, fragte sie mehrfach und erhielt ein vages, da im wahrsten Sinne des Wortes undeutbares „Na da…“ Schließlich hieß es fast verzweifelt: „Ach Moischele, lies du!“ Oder der Reinigungsmann, der eines Tages vor dem Raumputzen die Gruppe der Studierenden schüchtern fragt: „Lernen Sie hier zusammen?“ – „Ja.“ „Auch die Frau?“ – „Ja.“ – „Ach, dass ich das noch erleben darf!“ – Da kommt der Rabbiner: „Gehen Sie raus, die hier stehen alle über Ihnen.“ Und sie, die den Mann nie vergessen hat und diese Begegnung.
Ebenso anzumerken war dieser wortgewandten Rabbinerin jedoch auch, dass sie sich Zeit ihres Lebens in einer reinen Männerdomäne behaupten musste.
Links: Karin Dengler-Schreiber. Rechts: Rolf-Bernhard Essig und Franz Tröger.
Es geht weiter.
Dass die Zeiten nicht nur heute, seit dem Terrorangriff der Hamas, besonders sensibel sind für eine jüdische Minderheitengemeinde in der Diaspora, versteht sich von selbst. Aber Deusel betonte im Gespräch mit Tanja Kinkel die tiefe Ambivalenz des derzeitigen Daseins: Zum einen gäbe sehr viel Unterstützung und Solidarität. Zum anderen jene Menschen, die ihr plötzlich unverhüllt antisemitische Dinge sagen, die sie schon immer dachten, sich jetzt aber erst trauen; während sich die Gemeinde kaum traut zu sagen, wo sie sich trifft, aus Angst vor Übergriffen.
Den Lockdown zu Corona bezeichnete sie für sich und ihre Gemeinde als eine „arge Herausforderung“. Wie zusammenkommen und zusammen Schabbes feiern, wie die Menschen betreuen?
Antje Yael Deusels Kernsatz: Es geht weiter.
Und auch die Lesung ging weiter. Das sicherlich unterschiedlich informierte Publikum erfuhr nämlich auch aus den besagten historischen „O-Tönen“, den Quellen, allerlei Wissenswertes. Das verbriefte Auftauchen der Jüdin Esther Samuel auf der Leipziger Messe im 17. Jahrhundert etwa zeugt davon, dass es damals durchaus auch Frauen gab, die den Händlerberuf ausübten.
Oder der Umstand, dass Juden neben dem üblichen „Schutzgeld“ zu Sankt Martin auch ein „Gansgeld“ zahlen mussten oder dass Rabbi Minz im 15. Jahrhundert in einem Erlass die Sitte abschaffte, die vom Straßenschlamm und Schmutz besudelten Holzschuhe vor der Synagoge stehenzulassen, da diese riesige schmutzige Ansammlung von Schuhen wie „eine Herde ohne Hirte“ sei. Oder dass der bekannte Rabbiner Samuel von Bamberg aus dem 11. Jahrhundert von seinen Schülern als „zu wenig streng“ bezeichnet wurde und außerdem wortstark dafür plädierte, dass „eine Frau nicht wie eine Magd zu behandeln“ sei. Oder oder oder …
„In Bamberg konnten wir aus Angst nicht schlafen.“
Neben all den Räumen, die sich die wachsende jüdische Gemeinde in Bamberg im Laufe der Jahrhunderte erschloss – die erste jüdische Ansiedlung in Bamberg wurde 1097 erwähnt – spiegelt sich aber auch die düstere Seite, die zahlreichen Progrome und Verfolgungen, in den vorgetragenen Dokumenten wider. So starben im Jahr 1298 während der sogenannten „Rindfleischverfolgung“ wohl etwa 130 Juden der damals schon recht großen jüdischen Gemeinde, die für das 13. Jahrhundert auf 3.000-5.000 Personen geschätzt wird.
„In Bamberg konnten wir aus Angst nicht schlafen.“ – Auch dies kam zur Sprache: Als in der Progromnacht, der sogenannten „Reichskristallnacht“, 1938 alle jüdischen Bamberger zwischen 15 und 65 Jahren verhaftet und in das Gestapo-Gefängnis in der Sandstraße gebracht wurden und von dort für einige Wochen in das Konzentrationslager Dachau, wurde ihnen vor dem Gefängnis noch von einer Menschenansammlung, bestehend aus Bamberger Bürgern, ins Gesicht geschlagen.
Zwar kamen sie zunächst wieder zurück zu ihren Familien, doch der Weg unter den Nationalsozialisten führte in Bamberg ebenso wie in ganz Deutschland für alle Jüdinnen und Juden entweder in die Shoa oder ins Exil.
Der zutiefst bewegende Briefwechsel der Familie Kuhn, aus dem Tanja Kinkel und Nevfel Cumart abschließend für diese Zeit exemplarisch vorlasen, führte daher auch für die Familie des Bamberger Wurstmachers und Metzgermeisters Kuhn seitens der Kinder und Geschwister ins Exil nach London und die USA; für Helene und Philipp Kuhn selbst aber nach Osten in die Vernichtungslager, wo sie umkamen. Und es blieb einem das Lachen geradezu im Hals stecken, als Kuhns Worte an seinen Sohn Klaus vorgelesen hörbar wurden: „Heute wurde in der Jüdischen Zeitung eine Stelle für einen Wurstmacher inseriert: in Indien.“
Und auch diese Worte hallten im gesamten, höchst konzentrierten Publikum spürbar nach: „Wenn es Gott will, wird es eine Zeit geben, in der wir auch glücklich sein werden.“
Ja, es wurde viel Tacheles geredet und keinerlei Schmonzes gehört auf dieser in vielerlei Hinsicht nachhaltigen Auftaktveranstaltung des diesjährigen Bamberger Literaturfestivals.