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11.01.2024, 09:00 Uhr
Katrin Hillgruber
Spektakula

Der ukrainische Schriftsteller Olesandr Irwanez stellt sich heute als Stipendiat der Villa Concordia vor

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Foto: Maria Svidryk

Wer Oleksandr Irwanez ist, wie er nach Deutschland kam und was der ukrainische Schriftsteller in seinem Leben bereits zur Literatur beigetragen hat, zeigt dieses Porträt. Irwanez, geboren 1961 in Lwiw, lebt zur Zeit in Bamberg. In Deutschland bekannt wurde unter anderem sein Roman Pralinen vom roten Stern.

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Vor dem Eingang zum Bamberger Wasserschloss Villa Concordia sitzt dieser Januartage eine auffallend schöne weiße Katze. Ein handgeschriebenes Schild gibt sie als E.T.A. Hoffmanns Romankater Murr aus, der gefüttert werden möchte. Ob der begeisterte Hoffmann-Leser Oleksandr Irwanez dahintersteckt? Das Buch Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern aus dem Jahr 1819 ist ihm als Übersetzung bekannt; gerade liest er Goethes Faust I in seiner Muttersprache. Seit zehn Monaten gehört der Romancier, Lyriker, Übersetzer, Dramaturg und in Deutschland mit Stücken wie Lügner erfolgreiche Dramatiker Oleksandr Irwanez zu den zwölf ukrainischen Sonderstipendiatinnen und -stipendiaten des Künstlerhauses. Der Aufenthalt im „fränkischen Rom“ hat ihn nachhaltig inspiriert: „Ich habe viel über die Stadtgeschichte gelesen, über Brücken, das Mittelalter, und auch über E.T.A. Hoffmann. Ich schreibe kürzere Gedichte über Bamberg. In einem der ersten erzähle ich, wie ich dort drei Freunde treffe: Der erste ist Ernst Hoffmann, ein Bankangestellter. Der zweite ist Theodor Hoffmann, Student, und der dritte ist Amadeus Hoffmann, ein Künstler. Die drei treffe ich in der Stadt. Es geht dabei sehr abenteuerlich zu, und Kater Murr ist ebenfalls mit von der Partie.“

Wer sich mit Oleksandr Irwanez verabredet, darf sich auf seine sprühenden Einfälle und überraschenden Perspektiven freuen. Die Villa Concordia hat ihren Gast aus dem westukrainischen Riwne in einem barocken rosa Palais mit Blick auf den Dom einquartiert. Die goldene Madonna auf dem Dach mit dem Jesuskind im Arm sehe von hinten aus, als ob sie Gitarre spiele, befindet Irwanez. Zurzeit arbeitet er an einer Fortsetzung seines Romans Hexenhimmel Berlin. In diesem von allerhand slawischen und germanischen Sagengestalten bevölkerten Fantasy-Thriller setzt er sich behutsam mit den Traumata ukrainischer Kriegsflüchtlinge in Berlin auseinander. Im Zentrum der Handlung tritt die gute ukrainische Hexe Taissa gegen eine russische Hexe an. Sie trägt den sprechenden Namen Rimska Korsakowa und will unter anderem ein ukrainisches Flüchtlingskind entführen. „Der finale Kampf findet im Treptower Park statt, wo einst die Sowjetsoldaten mit den deutschen Mädchen standen“, erläutert Oleksandr Irwanez.

Hexenhimmel Berlin wird im Frühsommer in der Edition fotoTAPETA erscheinen, deren exquisites Programm auf Literatur aus Polen, Belarus und der Ukraine spezialisiert ist. Die Übersetzung stammt von dem Münchner Slawisten Alexander Kratochvil, der bereits Irwanez‘ prophetischen, 2002 verfassten Roman Pralinen vom roten Stern (Haymon Verlag) ins Deutsche übertrug. Das geteilte Berlin spielt darin eine wichtige Rolle als Vorbild für die fiktive Doppelstadt „Riwne/Rowno“, wie der Titel im Original lautet. Darin sieht sich Riwne als Hauptstadt einer fortschrittlichen West-Ukraine namens WUR von einer sowjetisch geprägten Sozialistischen Republik Ukraine SRU umzingelt. Der Schriftsteller Schlojma Ezirvan (ein Anagramm des Autorennamens) will seine Verwandten im sozialistischen Rowno besuchen und gerät dabei zwischen die ideologischen Fronten. Diese faszinierende Anti-Utopie einer geteilten Ukraine, die lange vor der Orangenen Revolution entstand, liest sich mit dem Wissen von heute mit einem gewissen Schaudern. Der „süße“ Titel der deutschen Übersetzung bezieht sich auf die in Riwne ansässige Schokoladenfabrik, die zu Sowjetzeiten „Roter Stern“ hieß. Beim stundenlangen Warten auf seine Rezitier-Einsätze als Komsomolze habe er ausgiebig von den Likörpralinen genascht, erinnert sich Oleksandr Irwanez schmunzelnd.

Am 24. Januar feiert Irwanez seinen 63. Geburtstag. Dem begnadeten Satiriker sitzt normalerweise stets der Schalk im Nacken. Das zeigte sich etwa beim Weimarer Treffen der von Verena Nolte ins Leben gerufenen deutsch-ukrainischen Schriftstellerinitiative „Eine Brücke aus Papier“ im November 2022. Dort trug Irwanez ein Spottgedicht auf „das Putin“ vor, das sich, vom Westen unbeachtet, überall in der russischen Kultur eingenistet habe: „Im Rollstuhl in der berühmten Treppenszene von Odessa / Und das heulende Putinbaby quengelt / Als Reiher zieht das geflügelte Putin seine Kreise / Mit einem Palmenzweig aus Cannes im Schnabel.“

Doch der für Oleksandr Irwanez typische anarchische Übermut wirkt derzeit gedämpft. Die seit dem Jahreswechsel intensivierten russischen Angriffe auf seine Heimat belasten ihn wie alle anderen ukrainischen Landsleute in der Villa Concordia massiv, wie beim Besuch zu spüren ist: „In den vergangenen Tagen gab es heftige Angriffe auf die großen Städte der Ukraine – Charkiw, Kijiw, Odessa. Alles wurde bombardiert, sogar das Schuchewytsch-Museum, Roman Schuchewytsch war ein General der Partisanen. Und auf die Landwirtschaftsakademie in Dubljany bei Lwiw, wo Stepan Bandera studiert hat und die auch mein Vater absolviert hat, ist eine Bombe gefallen. Es liegt so nah zu Lwiw wie Berlin zu Köpenick. Ich schaue das ukrainische Fernsehen im Internet, das ist alles wirklich sehr traurig.“

Im März 2022 musste der Autor mit seiner Frau, Schwiegermutter und Katze unter dramatischen Umständen das schwer verwüstete Irpin bei Kijiw verlassen. Kurz zuvor schrieb er den hellsichtigen Aufsatz „Es fehlt ein russischer Jaspers“ (taz vom 7.3.22). Ausgehend von Karl Jaspers‘ Schrift Die Schuldfrage, in der sich der Philosoph 1946 mit der Verantwortung der Deutschen an den NS-Verbrechen befasste, beklagte Irwanez das fehlende russische Schuldbewusstsein und ging von einem Sieg der Ukraine aus. „Mittlerweile sehe ich die Dinge anders“, erklärt er: „Den Artikel habe ich in den ersten Tagen des Krieges geschrieben und hatte gehofft, Russland würde Einsicht zeigen und um Vergebung bitten. Aber jetzt sehe ich, dass die Russen das gar nicht wollen. Sie beharren auf ihrem Standpunkt, dass sie gegen die westliche Welt kämpfen. Und die Ukraine gehört für sie zum Westen.“

Oleksandr Irwanez verfügt über eine intime Kenntnis Russlands und der Mentalität seiner Einwohner. Anfang der 1980er-Jahre diente er zwei Jahre in der Sowjetarmee, anschließend studierte er am Moskauer Maxim-Gorki-Literaturinstitut, wie sein Freund Juri Andruchowytsch – mit dem er 2001 zur gleichen Zeit Stipendiat der Villa Waldberta war. Dieser ging in seinem furiosen Institutsroman Moscoviada (Suhrkamp) auf die Studienzeit im „fauligen Herzen des halbtoten Imperiums“ ein. Gemeinsam mit Wiktor Neborak gründeten die beiden 1985 in Lemberg das legendäre Dichtertrio Bu-Ba-Bu: Die Abkürzung steht für Burleske, Balahan, eine Art Jahrmarkt, und Buffonade. Irwanez erinnert sich: „Da gibt es eine zeitliche Übereinstimmung: Am 15. April 1985 hat Gorbatschow die Perestrojka ausgerufen, und wir hatten unser erstes Treffen am 17. April. Wir haben uns als literarische Gruppe deklariert, hatten aber keine öffentlich angekündigten Lesungen. Die ersten anderthalb Jahre haben wir nur in Küchen gelesen, Küchen in Riwne, Lwiw und so weiter. 1987 folgte dann die erste offizielle Lesung in Kiew, das war der Beginn unserer Karriere.“

Stolz verweist der Philologe Oleksandr Irwanez auf seine Schüler wie den Charkiwer Dichterkollegen Serhij Zhadan: „Er ist nicht nur mein Freund, sondern auch mein Schüler, der sich häufig auf Bu-Ba-Bu-Gedichte bezieht. Charkiw ist eine sehr energetische Stadt, die bis 2022 russischsprachig war. Jetzt ist es anders, jetzt sprechen viele dort Ukrainisch.“

Gegen Ende seines Bamberger Aufenthalts zieht Oleksandr Irwanez ein gemischtes Fazit. Zum einen ist er Deutschland und dessen Regierung dankbar, denn diese hätten ihre Lektion gelernt: „Die meiste Hilfe kommt aus Deutschland. Denn die deutsche Regierung hat verstanden: Wenn die Ukraine nicht gewinnt, kommen die Russen nach Polen, nach Posen und Słubice und schließlich nach Frankfurt an der Oder und hierher.“ Andererseits betrachtet er das Interesse an seinem Land nicht ohne Bitterkeit: „Der 24. Februar 2022 hat Westeuropa die Augen für die Ukraine geöffnet: Oh, sie haben ja eine eigene Literatur, sie haben Kunst und Musik. Aber das war erst nach Kriegsbeginn. Jetzt freue ich mich, wenn meine jüngeren Kolleginnen und Kollegen Bücher in Deutschland veröffentlichen oder ein Stück auf die Bühne bringen. Die befreundete ukrainische Journalistin Natalia Yakymowich hat gerade eine Kunstgalerie in Berlin eröffnet, Serpen (= August) in der Auguststraße. Das ist sehr gut und freut mich, aber der Preis für diese Neuigkeiten ist Blut.“

Oleksandr Irwanez liest am 11. Januar ab 19 Uhr aus seinem Roman Pralinen vom roten Stern und unveröffentlichten Texten, begleitet von seinem Übersetzer Alexander Kratochvil und dem Schauspieler Valentin Bartzsch.