Präsentation des Astrid Lindgren Memorial Award 2023 mit Preisträgerin Laurie Halse Anderson
Traditionell richtet die Internationale Jugendbibliothek München einen Festakt zur Verleihung des vielleicht renommiertesten Preises für Kinder- und Jugendliteratur Astrid Lindgren Memorial Award (ALMA) aus. Nach mehrjähriger Unterbrechung durch die Corona-Pandemie ist es im Mai 2023 erstmals wieder soweit.
*
Der Jella-Lepman-Saal in der Münchner Blutenburg, Sitz der Internationalen Kinder- und Jugendbuchbibliothek IJB, ist an diesem Abend gut besetzt, ein Duo von Pianist und Saxophonist stimmt ein zur Feier des Astrid Lindgren Memorial Award. Die Begrüßung und die Lobreden auf Preisträgerin Laurie Halse Anderson erfolgen größtenteils in englischer Sprache. Timothy Liston vom Münchner US-Generalkonsulat stellt die amerikanische Jugendbuchautorin Anderson in einer kenntnisreichen Rede dem Publikum vor und lässt keinen Zweifel an seinem Respekt für ihr umfangreiches Werk. Besonders betont Liston, wie wichtig es gerade heute sei, jungen Menschen via Literatur die Werte der Freiheit und Demokratie zu vermitteln. Dies gelinge dem Werk von Anderson (hier finden Sie die Rede im Wortlaut).
Laurie Halse Anderson ist eine international bekannte Jugendbuchautorin. 1961 in Potsdam, New York, USA, geboren, lebt sie heute in Philadelphia, der „besten Stadt der Welt“, wie sie mit einem auf der Grenze zur Ironie tändelnden Unterton sagt. Sie studierte Sprachen und Sprachwissenschaft und arbeitete als freie Journalistin, später auch in Teilzeit als Buchhändlerin. Anderson hat zwei eigene Kinder. 1999 gelang ihr mit dem Roman Speak (zu Deutsch: Sprich, dtv) der internationale Durchbruch als Jugendbuchautorin. 2023 wurde ihr durch den Schwedischen Kulturrat in Stockholm der Astrid Lindgren Memorial Award (Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preis) verliehen. Es handelt sich um die höchst dotierte kinder- und jugendliterarische Auszeichnung der Welt. Sie wird seit 2003 vergeben. Zu den Preisträgern gehören u.a. Christine Nöstlinger und Wolf Erlbruch.
Umgerechnet 475.000 Euro erhält Anderson für ihr Werk. Die Jury begründet dies wie folgt:
In ihren konzise geschriebenen Romanen für junge Erwachsene gibt Laurie Halse Anderson der Suche nach Bedeutung, Identität und Wahrheit eine Stimme, sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit. Ihr dunkel leuchtender Realismus offenbart die entscheidende Rolle von Zeit und Erinnerung im Leben junger Menschen. Schmerz und Angst, Sehnsucht und Liebe, Klasse und Geschlecht werden mit stilistischer Präzision und leidenschaftslosem Witz untersucht. Mit zärtlicher Intensität beschwört Laurie Halse Anderson Stimmungen und Emotionen herauf und schreckt dabei auch vor den schwierigsten Dingen nicht zurück.
Die Autorin zeigt sich auf der Bühne als sehr lebendige, scharfzüngige und witzige Frau. Mit Moderatorin Julia Cortis spricht sie über verschiedene ihrer Bücher, darunter Sprich, das als ihr erstes Buch für Jugendliche gelten kann. Davor habe sie eher Bilderbücher für Kinder gemacht. Sprich erzählt die Geschichte des Mädchens Melinda, das bei einer Feier Opfer einer Vergewaltigung wird. Infolge dieses Schocks verliert Melinda vorübergehend die Fähigkeit zu sprechen. Es dauert ein ganzes Jahr, bis sie dazu zurückfindet und damit die Kraft entdeckt, sich zu wehren.
Anderson trägt einen Auszug aus dem Buch vor. Im folgenden Gespräch thematisiert sie die bis heute andauernde, sogar wieder wachsende Unfähigkeit der amerikanischen Gesellschaft, über Sexualität aufzuklären. Dieses Schweigen habe zur Folge, dass junge Männer heute häufig Online-Pornografie als einzige Informationsquelle zum Thema Sex nutzten, gewaltgeprägten Sex deshalb als normativ ansähen und nichts davon wüssten, wie sich Intimität, Liebe und Geschlechtlichkeit verbinden könnten. Für die Frauen und Mädchen habe die #metoo-Bewegung ab 2006 einen fundamentalen Wandel bewirkt, die sie in die Lage versetze, ihr Erleiden sexualisierter Gewalt auszusprechen: „That hashtag changed the world – dieser Hashtag hat die Welt verändert“, konstatiert Anderson. Sie engagiert sich für geschlechtliche Diversität, gegen sexualisierte Gewalt und das Zensieren von Literatur. Ihre eigenen Bücher, erzählt die Autorin, würden in den USA von manchen Eltern als pornografisch angesehen und seien an einigen Schulen als Lektüre verboten.
Auch von ihrem eigenen Leben spricht die Autorin, die in ihrer Heimat zum Angriffsziel rechter Bewegungen geworden ist. Sie selbst wurde als Mädchen vergewaltigt und wagte zunächst nicht, darüber zu sprechen. Sie stellt dies aber nicht in dem Mittelpunkt des Abends. Die Unfähigkeit zu reden spielte in ihrer Herkunftsfamilie eine große Rolle. Der Vater kam als junger Mann am Ende des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland und lernte als Soldat mehrere ehemalige Konzentrationslager, darunter Dachau, kennen. Seine traumatischen Erlebnisse führte ihn später in den Alkoholismus. Anderson erlebte diesen Absturz als 11-jähriges Mädchen mit, ohne ihn zu verstehen. Sie nennt es eine verwirrende Erfahrung, gespürt zu haben, dass sie ihre Eltern liebe, und gleichzeitig sehr wütend auf sie zu sein. Erst gegen Ende seines Lebens sei der Vater in der Lage gewesen, über seine Kriegsschocks zu reden. Über ihr eigenes Leben hat sie 2019 Shout (zu Deutsch: Schrei! Nur wenn ich laut bin, wird sich was ändern), ein Memoire in Versform publiziert. Aus der deutschen Übersetzung trägt, wie schon zuvor auch aus Sprich, die Schauspielerin Simone Oswald, Ensemble-Mitglied des Theaters Schauburg, einige Abschnitte vor.
Weitere Aspekte von Andersons Schaffen, etwa Graphic Novels oder historische Romane, werden an diesem Abend ebenfalls kurz beleuchtet. So schwer ihre Themen häufig wiegen, so lebendig und spontan kommt die Autorin zugleich daher. Lauscht man ihrem Vortrag und beobachtet Anderson im Gespräch, wächst der Eindruck, dass die heute 61-Jährige in einem guten Kontakt und Austausch mit der jungen Frau in sich steht. Dieser Bezug mag es ihr ermöglichen, auf eine Art zu schreiben, die heutige Jugendliche anspricht. Moderatorin Cortis bemerkt zu Recht, dass Laurie Halse Anderson eine liebevolle Perspektive auf junge Menschen habe.
„Encouragement“ und „Empowerment“ sind dabei ihre zentralen Anliegen – junge Menschen sollen lernen, ihre Stimme zu erheben, sollen sich der eigenen Kraft bewusst werden und sie für sich einsetzen, ohne sich vor der Heftigkeit ihrer Gefühle zu fürchten: „Anger“, betont die ALMA-Preisträgerin, „can be energizing and it can be healthy – Wut kann durchaus Energie spenden und sie kann gesund sein.“ Dasselbe sagt sie an anderer Stelle auch von Humor der jungen Menschen („teenagers are so funny“). Beides gehört dazu.
Präsentation des Astrid Lindgren Memorial Award 2023 mit Preisträgerin Laurie Halse Anderson>
Traditionell richtet die Internationale Jugendbibliothek München einen Festakt zur Verleihung des vielleicht renommiertesten Preises für Kinder- und Jugendliteratur Astrid Lindgren Memorial Award (ALMA) aus. Nach mehrjähriger Unterbrechung durch die Corona-Pandemie ist es im Mai 2023 erstmals wieder soweit.
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Der Jella-Lepman-Saal in der Münchner Blutenburg, Sitz der Internationalen Kinder- und Jugendbuchbibliothek IJB, ist an diesem Abend gut besetzt, ein Duo von Pianist und Saxophonist stimmt ein zur Feier des Astrid Lindgren Memorial Award. Die Begrüßung und die Lobreden auf Preisträgerin Laurie Halse Anderson erfolgen größtenteils in englischer Sprache. Timothy Liston vom Münchner US-Generalkonsulat stellt die amerikanische Jugendbuchautorin Anderson in einer kenntnisreichen Rede dem Publikum vor und lässt keinen Zweifel an seinem Respekt für ihr umfangreiches Werk. Besonders betont Liston, wie wichtig es gerade heute sei, jungen Menschen via Literatur die Werte der Freiheit und Demokratie zu vermitteln. Dies gelinge dem Werk von Anderson (hier finden Sie die Rede im Wortlaut).
Laurie Halse Anderson ist eine international bekannte Jugendbuchautorin. 1961 in Potsdam, New York, USA, geboren, lebt sie heute in Philadelphia, der „besten Stadt der Welt“, wie sie mit einem auf der Grenze zur Ironie tändelnden Unterton sagt. Sie studierte Sprachen und Sprachwissenschaft und arbeitete als freie Journalistin, später auch in Teilzeit als Buchhändlerin. Anderson hat zwei eigene Kinder. 1999 gelang ihr mit dem Roman Speak (zu Deutsch: Sprich, dtv) der internationale Durchbruch als Jugendbuchautorin. 2023 wurde ihr durch den Schwedischen Kulturrat in Stockholm der Astrid Lindgren Memorial Award (Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preis) verliehen. Es handelt sich um die höchst dotierte kinder- und jugendliterarische Auszeichnung der Welt. Sie wird seit 2003 vergeben. Zu den Preisträgern gehören u.a. Christine Nöstlinger und Wolf Erlbruch.
Umgerechnet 475.000 Euro erhält Anderson für ihr Werk. Die Jury begründet dies wie folgt:
In ihren konzise geschriebenen Romanen für junge Erwachsene gibt Laurie Halse Anderson der Suche nach Bedeutung, Identität und Wahrheit eine Stimme, sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit. Ihr dunkel leuchtender Realismus offenbart die entscheidende Rolle von Zeit und Erinnerung im Leben junger Menschen. Schmerz und Angst, Sehnsucht und Liebe, Klasse und Geschlecht werden mit stilistischer Präzision und leidenschaftslosem Witz untersucht. Mit zärtlicher Intensität beschwört Laurie Halse Anderson Stimmungen und Emotionen herauf und schreckt dabei auch vor den schwierigsten Dingen nicht zurück.
Die Autorin zeigt sich auf der Bühne als sehr lebendige, scharfzüngige und witzige Frau. Mit Moderatorin Julia Cortis spricht sie über verschiedene ihrer Bücher, darunter Sprich, das als ihr erstes Buch für Jugendliche gelten kann. Davor habe sie eher Bilderbücher für Kinder gemacht. Sprich erzählt die Geschichte des Mädchens Melinda, das bei einer Feier Opfer einer Vergewaltigung wird. Infolge dieses Schocks verliert Melinda vorübergehend die Fähigkeit zu sprechen. Es dauert ein ganzes Jahr, bis sie dazu zurückfindet und damit die Kraft entdeckt, sich zu wehren.
Anderson trägt einen Auszug aus dem Buch vor. Im folgenden Gespräch thematisiert sie die bis heute andauernde, sogar wieder wachsende Unfähigkeit der amerikanischen Gesellschaft, über Sexualität aufzuklären. Dieses Schweigen habe zur Folge, dass junge Männer heute häufig Online-Pornografie als einzige Informationsquelle zum Thema Sex nutzten, gewaltgeprägten Sex deshalb als normativ ansähen und nichts davon wüssten, wie sich Intimität, Liebe und Geschlechtlichkeit verbinden könnten. Für die Frauen und Mädchen habe die #metoo-Bewegung ab 2006 einen fundamentalen Wandel bewirkt, die sie in die Lage versetze, ihr Erleiden sexualisierter Gewalt auszusprechen: „That hashtag changed the world – dieser Hashtag hat die Welt verändert“, konstatiert Anderson. Sie engagiert sich für geschlechtliche Diversität, gegen sexualisierte Gewalt und das Zensieren von Literatur. Ihre eigenen Bücher, erzählt die Autorin, würden in den USA von manchen Eltern als pornografisch angesehen und seien an einigen Schulen als Lektüre verboten.
Auch von ihrem eigenen Leben spricht die Autorin, die in ihrer Heimat zum Angriffsziel rechter Bewegungen geworden ist. Sie selbst wurde als Mädchen vergewaltigt und wagte zunächst nicht, darüber zu sprechen. Sie stellt dies aber nicht in dem Mittelpunkt des Abends. Die Unfähigkeit zu reden spielte in ihrer Herkunftsfamilie eine große Rolle. Der Vater kam als junger Mann am Ende des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland und lernte als Soldat mehrere ehemalige Konzentrationslager, darunter Dachau, kennen. Seine traumatischen Erlebnisse führte ihn später in den Alkoholismus. Anderson erlebte diesen Absturz als 11-jähriges Mädchen mit, ohne ihn zu verstehen. Sie nennt es eine verwirrende Erfahrung, gespürt zu haben, dass sie ihre Eltern liebe, und gleichzeitig sehr wütend auf sie zu sein. Erst gegen Ende seines Lebens sei der Vater in der Lage gewesen, über seine Kriegsschocks zu reden. Über ihr eigenes Leben hat sie 2019 Shout (zu Deutsch: Schrei! Nur wenn ich laut bin, wird sich was ändern), ein Memoire in Versform publiziert. Aus der deutschen Übersetzung trägt, wie schon zuvor auch aus Sprich, die Schauspielerin Simone Oswald, Ensemble-Mitglied des Theaters Schauburg, einige Abschnitte vor.
Weitere Aspekte von Andersons Schaffen, etwa Graphic Novels oder historische Romane, werden an diesem Abend ebenfalls kurz beleuchtet. So schwer ihre Themen häufig wiegen, so lebendig und spontan kommt die Autorin zugleich daher. Lauscht man ihrem Vortrag und beobachtet Anderson im Gespräch, wächst der Eindruck, dass die heute 61-Jährige in einem guten Kontakt und Austausch mit der jungen Frau in sich steht. Dieser Bezug mag es ihr ermöglichen, auf eine Art zu schreiben, die heutige Jugendliche anspricht. Moderatorin Cortis bemerkt zu Recht, dass Laurie Halse Anderson eine liebevolle Perspektive auf junge Menschen habe.
„Encouragement“ und „Empowerment“ sind dabei ihre zentralen Anliegen – junge Menschen sollen lernen, ihre Stimme zu erheben, sollen sich der eigenen Kraft bewusst werden und sie für sich einsetzen, ohne sich vor der Heftigkeit ihrer Gefühle zu fürchten: „Anger“, betont die ALMA-Preisträgerin, „can be energizing and it can be healthy – Wut kann durchaus Energie spenden und sie kann gesund sein.“ Dasselbe sagt sie an anderer Stelle auch von Humor der jungen Menschen („teenagers are so funny“). Beides gehört dazu.