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Verleihung des Horst-Bienek-Preises für Lyrik an Judith Herzberg und Ronya Othmann

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Links: Judith Herzberg und Kevin Perryman. Rechts: Ronya Othmann (c) Bayerische Akademie der Schönen Künste

Am 13. Dezember 2022 wurde der Horst-Bienek-Preis für Lyrik im Festsaal der Bayerischen Akademie der Schönen Künste durch den Präsidenten der Akademie, Winfried Nerdinger, vergeben. Der mit 10.000 Euro dotierte Hauptpreis geht an die niederländische Schriftstellerin Judith Herzberg, der mit 3.000 Euro dotierte Förderpreis an die Münchner Autorin Ronya Othmann. Der Preis wird seit 1991 aus dem Nachlass des Dichters Horst Bienek (1930-1990) gefördert.   

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Ronya Othmann

Die in München geborene Ronya Othmann entstammt einer Familie hierher geflüchteter jesidischer Kurden. Als Essayistin und Journalistin schreibt sie für Zeitschriften wie Der Spiegel, taz oder Zeit Online. Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung arbeitet sie seit 2021 an der Kolumne „Import Export“. Daneben schreibt sie Lyrik und Prosa, 2020 erschien ihr Debütroman Die Sommer.

Den Horst-Bienek-Förderpreis für Lyrik erhält sie für ihren 2021 veröffentlichten Gedichtband die verbrechen. Ein Band für das „Gedenken an die Unschuldigen“, so beschrieb ihn der Lyriker, Übersetzer und Herausgeber Alexandru Bulucz in seiner Laudatio auf die Preisträgerin. „Manche Schreibende verfolgen Themen, aber manche Themen verfolgen Schreibende.“ Othmann hat aus ihrer eigenen Familiengeschichte ein Lebensthema entwickelt. Ob in Gedichten, Prosaerzählungen oder Essays – als „Alleskönnerin“ verarbeitet sie ihre Auseinandersetzung mit den Leiden ihrer Vorfahren, der Flucht der Familie aus der Heimat und auch der Diskrepanz zwischen ihrer eigenen Erfahrung und dem Nachhallen des Traumas der Vergangenheit.

Bulucz beschrieb das lyrische Ich ihrer Gedichte als ein „investigatives und ein überlebendes“. Es ist ein Ich, das zuhört, immerzu bewaffnet mit dem journalistischen „aufnahmegerät“, und ein Ich, das über ein geteiltes Leiden, das aber nie ganz eigen wird, spricht. Othmanns Gedichte verleihen eine Stimme auch denen, die nicht mehr sprechen können und zeichnen dabei eine „Kartographie von Leid und Trauer“ in kurdischen Gebieten.

Die an diesem Abend von Ronya Othmann vorgelesenen Gedichte sind Geschichten „verbrannter Erde“ und zerstörter Heimat. Es sind Beschreibungen syrischer und kurdischer Städte, wobei dies wohl die falsche Wortwahl wäre. Vielmehr sind es „Beschreibungen einer, die mal eine Stadt war“.

Ronya Othmann und Winfried Nerdinger (c) Bayerische Akademie der Schönen Künste 

Othmanns Dankesrede für die Verleihung des Horst-Bienek-Förderpreises galt all jenen, deren Handyaufnahmen von Hinrichtungen, Zerstörungen und Protesten, die in Blutbädern endeten, in ihren Gedichten Einlass gefunden haben. Sie sprach von einem „Kino der Opfer“ und hinterließ die Zuhörer*innen mit einer letzten wichtigen Erinnerung: „Die Gewalt ist keine Metapher.“

Judith Herzberg

Die aus Amsterdam stammende Judith Herzberg gilt als eine der einflussreichsten Lyrikerinnen und Theaterautorinnen der Niederlande. In Deutschland ist sie vor allem für ihr lyrisches Schaffen bekannt. 1981 schrieb sie das Drehbuch zu dem Film Charlotte S. über die unter dem nationalsozialistischen Regime verstorbene jüdische Malerin Charlotte Salomon. Es ist nicht das erste Mal, dass Herzberg, die persönlich die Judenverfolgung zur Zeit der deutschen Besatzung bei ihren nicht-jüdischen Pflegeeltern auf dem Land überlebte, die Auseinandersetzung mit dem Holocaust thematisiert.

Doch die bloße Reduktion ihres Lebenswerkes auf ein einzelnes Thema oder gar der Versuch, dieses Werk durch ihre Biographie zu interpretieren, wäre gänzlich falsch. So einem Unterfangen widersprach auch der aus England stammende Lyriker, Übersetzer und Verleger Kevin Perryman in seiner Laudatio auf die Autorin. Herzbergs Texte provozieren und bohren nach, sie rufen zur Verwunderung auf. Da geht es um Sätze, wie „Niemand hängt an einer Erdbeere“, und ein Gedicht unter dem Titel „Turnschuhe“, in dem die titelgebenden Schuhe erst in den letzten fünf Zeilen auftauchen. Vorher schreibt Herzberg lieber über Erdbeeren, Spinnen, Schuhe, Treibgut und alle möglichen Verwirrungen. Belanglosigkeiten aus dem Alltag, Anekdoten aus der Zeitung und andere Notizen dienen als Auslöser für Gedichte, die manchmal rein alltäglich und manchmal schon wie Zaubersprüche klingen.

Horst Bienek schrieb einst: „Ich höre die Schreie anderer.“ Diese hört auch Judith Herzberg, so Perryman. Nur schlägt sie aus diesen Schreien (und auch aus ihrem eigenen) kein lyrisches Kapital. Das wäre zu einfach, zu berechenbar. Stattdessen ist ihre Lyrik „spannend, verspielt, verdreht, mit Lust am Widerspruch und Lust am Ernst“. Herzbergs Welt ist nicht „heil und Schein“, aber auch nicht eindimensional: Ironie und Trauer, Humor und Verzweiflung gesellen sich hier aneinander. Perryman bezeichnete ihre Lyrik als eine Führung in eine Welt, die nicht unsere ist, uns nicht gehört und an deren Ende wir unsere eigene Welt mit neuen Augen betrachten können.

Diese Welt(en) beobachtet Herzbergs lyrisches Ich genau, lakonisch und beiläufig, mal als junges Kind, mal als alte Frau oder auch als Mann. Immer aber mit einer „Aufrichtigkeit“ und einer „Stimme“, die durch alles hervorsticht. Eine Stimme, die sich gegen Metaphern und Nostalgie richtet, ganz nach Horst Bieneks Ausspruch: „Alles was geschieht, geschieht jetzt.“

Winfried Nerdinger und Judith Herzberg (c) Bayerische Akademie der Schönen Künste

In ihrer Dankesrede sprach Judith Herzberg begeistert von Bienek, den sie erst durch die Verleihung des Preises kennengelernt hatte. Danach fragte sie in die Runde: „Muss ich jetzt noch ein Gedicht von mir lesen?“ Ihre Danksagung endete mit einem Gedicht über das Pinkeln und ließ die Zuschauer*innen erstaunt und lachend zurück, so wie ihr gesamtes Lebenswerk das zu vollbringen vermag.