Info

10. Literaturfest München: Zwischenbilanz und Ausblick

„Im Westen nichts Neues? Fragen an München nach 1989“ hieß die Abschlussveranstaltung des von Ingo Schulze kuratierten forum:autoren. Gemeinsam mit der Abendzeitung wurden Schriftsteller_innen und Bürger_innen aufgerufen, ihre Eindrücke des Umbruchs um 1989/90 vorzustellen. Ingo Schulze und AZ-Redakteur Adrian Prechtel präsentierten eigens für den Anlass geschriebene Texte. Die lebhafte Diskussion machte deutlich: Nach dreißig Jahren gibt es eine große Sensibilität dafür, was an Reformimpulsen aus der DDR verpasst wurde. Zum anderen habe sich das Engagement in München für Flüchtlinge und Zugereiste seither verändert, Initiativen wie „Meet your neighbours“ wurden von Münchner Kulturschaffenden gegründet.

*

10 Tage lang widmete sich das forum:autoren dem Thema „Einübungen ins Paradies – Fragen an die Welt nach 89“ mit über 40 Autorinnen und Autoren aus aller Welt. An rund 30 Veranstaltungen nahmen insgesamt über 3.000 Besucher_innen teil. Und das Literaturfest geht weiter: Noch bis zum 02.12. bieten das Festprogramm des Literaturhauses und die 60. Münchener Bücherschau ein hochkarätig besetztes Programm.

Höhepunkte des Festivals

Eröffnet wurde das Literaturfest mit einer bewegenden Rede des britischen Historikers Timothy Garton Ash, der betonte: „Heute sind wir dem geeinten Europa nähergekommen als je zuvor“. Entscheidend dafür sei die Geisteshaltung des Liberalismus, der sich der Vernunft und Freiheit verpflichtet fühlt. Dieser dürfe nicht zur Ideologie oder auf wirtschaftliche Dimensionen reduziert werden. Seine große Stärke sei Offenheit und Selbstkritik.

Kernstück des forum:autoren war ein vierteiliges Symposium, das das Motto Ingo Schulzes vertiefte. Über Paradies-Begriffe diskutierten Ethel Matala de Mazza, Judith Schalansky und Frank Witzel: Judith Schalansky beschrieb das Paradies als Glücksversprechen, zu dem es aber keine Geschichten gebe, nur die Geschichte der Vertreibung. Nach der Wende galt ihr der Westen als ‚Paradies‘, das sich durch das Angebot der Maßlosigkeit in Überforderung verkehrte. Ethel Matala de Mazza skizzierte die Französische Revolution als Versprechen, das Paradies auf Erden in der politischen Ordnung verwirklichen zu können. Frank Witzel warf ein, dass die Hölle eigentlich erstrebenswerter sei, weil sie mehr Abwechslung verspreche und in ihr die Hoffnung lebendig sei: „Müssen wir uns daher nicht eigentlich vom Paradies verabschieden?“, fragte Witzel.

Bénédicte Savoy, Fiston Mwanza Mujila und Stephan Lessenich untersuchten Beziehungen zum Kolonialismus. Bénédicte Savoy stellte die Bedeutung der Herkunft von Kunstwerken heraus: Eine neue Beziehungsethik sei vonnöten und Grenzen kulturell abzuschaffen. Derzeit entscheide einzig Europa über die Zirkulation von Kunstwerken, ohne Afrika partizipieren zu lassen. Eindrücklich beschrieb Fiston Mwanza Mujila die Entstehung der Demokratischen Republik Kongo als belgische Kolonie. Noch heute werde das Land nicht als Partner auf Augenhöhe wahrgenommen. Stephan Lessenich wies darauf hin, dass wir Demokratie für uns reklamierten, die Voraussetzungen und Folgen der eigenen Lebensweise aber verdrängten. Wir bräuchten daher eine „Revolution der Beziehungen“ und Solidarisierung auch mit ‚ungleichen‘ Partnern. Dass auch die DDR wie eine ‚moderne Kolonie‘ behandelt wurde, gab Moderatorin Daniela Dahn zu bedenken beim Symposium „Wechsel der Besitzverhältnisse?“ mit Joseph Vogl, Silke van Dyk und Philipp Ther. Das ostdeutsche Wirtschaftsvermögen, so Dahn, ginge nach 1989 rasant und zu 95% in westliche Hände. Silke van Dyk unterstrich, die Eigentumsverhältnisse neu aufzuteilen, war ein politisches Projekt, das als ökonomische Notwendigkeit verkauft wurde. Joseph Vogl beschrieb die Logik der Finanzmärkte und wie ihre Restriktionen in den letzten 20 Jahren deutlich zugenommen hätten, Souveränitätsrechte von Vertretern der Finanzindustrie privilegiert worden seien. Geboten sei daher, realistisch, das bedeute pessimistisch zu bleiben, und die ‚Kunst des Schwarzmalens‘ zu perfektionieren. Denn nur so könnten bestimmte Aspekte leuchten.

In der Reihe „Unterwegs in München“ traten beim forum:autoren erstmals Schriftsteller_innen vor Publikum auf, das selbst nicht zum Literaturfest kommen konnte, so etwa in der Frauenabteilung des JVA Stadelheim: „Wenn es einen Test für Literatur gibt“, so Ingo Schulze, „dann vielleicht denjenigen, vor diesen Frauen zu lesen.“ Tatsächlich war die Resonanz überwältigend: „Die Lesung hat mich in einer nichterwarteten Art und Weise getroffen und tief berührt“, schrieb eine der Teilnehmerinnen. „Die Veranstaltung habe ich als ‚Sternstunde‘ erlebt, und ich fühlte mich ermutigt, frei das Wort zu ergreifen, wie ich es lange nicht getan habe.“ Eine andere unterstrich: „Es war eine wunderschöne und warme Atmosphäre. Die Lesung treibt mich an, künftig, nach meiner Entlassung, weitere Autorenlesungen zu besuchen.“ Und eine dritte: „Die Stunde war wie ein Ausflug nach ‚draußen‘. Es war schön, etwas ganz anderes zu erleben.“

Kurator Ingo Schulze resümiert: „Beim forum:autoren kamen viele unterschiedliche Perspektiven zusammen. Deutlich wurde dabei für mich, dass sich die Trennlinien oder gar Kampflinien unserer Gegenwart vielfach überlagern. Es reicht nicht, Demokratie und Freiheit zu beschwören, aber von der Ökonomie und dem Finanzsystem zu schweigen, gegen Rassismus zu sein, aber die Besitzverhältnisse unbeachtet zu lassen. Besonders wichtig fand ich die Beiträge, die von der Melange religiöser und nationaler Fundamentalismen mit dem Neoliberalismus sprachen, der ja auch eine Art Fundamentalismus ist. Der Kampf um die Deutungshoheit der Vergangenheit ist vor allem ein Kampf um die Gestaltungsmöglichkeiten der Zukunft.“

Sämtliche Texte, die für das forum:autoren verfasst wurden, können auf der Literaturfest-Website nachgelesen werden.

Ausblick

Noch bis zum 02.12. bietet das Literaturfest München ein besonderes Programm im Literaturhaus und Kulturzentrum Gasteig: Beim Literaturhaus-Festprogramm tritt am 27.11. die Mexikanerin Valeria Luiselli mit ihrem Buch Archiv der verlorenen Kinder auf: Während Deutschland und die Länder Europas das Jubiläum des Mauerfalls feiern, wird die Grenze zwischen Mexiko und den USA weiter befestigt. Riad Sattouf stellt am 28.11. seinen neuen Comic-Band der international erfolgreichen Reihe „Der Araber von morgen“ vor mit Geschichten seiner Kindheit im Nahen Osten und eines Lebens zwischen Syrien und Frankreich. Am Abschluss des Literaturfests steht der zweitägige Markt der unabhängigen Verlage „Andere Bücher braucht das Land“ mit über 30 Independents aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Ausstellung wird durch Signier- und Sprechstunden mit Autorinnen und Autoren begleitet sowie durch die Illustrationsausstellung „Lieblingsdrucke“ der Leipziger Künstlerinnengruppe augen.falter.

Unter dem von Kurator Thomas Kraft gesetzten Motto „Das schöne Mysterium“ ging die 60. Münchner Bücherschau auf Weltreise, blickte mit einer Astronautin ins Universum und auf unseren Planeten, tauchte ab in die Weltmeere, suchte und fand verschwindende Orte, reiste nach Burma, Armenien und in die Mongolei. Bis Sonntag führt die Reise weiter: Bestsellerautor Sten Nadolny (Die Entdeckung der Langsamkeit) berichtet über das Reisen mit einer „Netzkarte“ und Matthias Politycki über seinen Sehnsuchtsort Tadsch Mahal. Der Wiener Heinrich Steinfest erzählt auf charmante Art, wie man erfolgreich scheitern kann, und der Holländer Mathijs Deen nimmt uns mit auf alte Wege durch Europa. Am letzten Wochenende erzählt Hanns-Josef Ortheil vom Aufenthalt Hemingways in Venedig und zum Abschluss am Sonntag spricht Thomas Kraft mit Nora Bossong und dem Philosophen und leidenschaftlichen Wanderer Albert Kitzler über nichts weniger als den ‚Zustand der Welt‘.

Für das Kinder- und Jugendprogramm der Münchner Bücherschau hat Edith Offermann am 30.11. Bilderbuchkünstler Alexander Steffensmeier mit seinem Buch Ein Platz nur für Lieselotte eingeladen, und am 01.12. kommt Autor Wieland Freund, der ein von Michael Ende nachgelassenes Romanfragment kongenial weitergeschrieben hat. Am gleichen Tag gibt es zum krönenden Abschluss das im letzten Jahr erfolgreich gestartete Literarische Jugendquartett, in dem Jugendliche über ihre persönlichen Favoriten diskutieren.

Das 10. Literaturfest München (13.11.-01.12.2019) wird veranstaltet vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels – Landesverband Bayern e.V. und dem Literaturhaus München in Zusammenarbeit mit dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Geschäftsführerin des Literaturfests und Programmleiterin des Literaturhaus-Festprogramms ist Tanja Graf. Projektleiterin des Literaturfests und forum:autoren ist Heike Braun, Projektleiterin der 60. Münchner Bücherschau ist Ute Wiemer. Das Literaturfest München wird unterstützt vom Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst sowie von PwC, der Münchner Bank und Elly Seidl. Medienpartner sind Bayern 2 und Capriccio.

Externe Links:

Literaturfest München

Verwandte Inhalte
Städteporträts
Städteporträts