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04.10.2017, 11:39 Uhr
Frank Piontek
Spektakula

Ein durchaus unnostalgisches Jubiläumstreffen in der Fränkischen Schweiz

2017 feiert die Gruppe 47, die berühmteste und wohl wichtigste Literaturvereinigung der Bundesrepublik, die allerdings nie ein Verein war, gleich ein zweifaches Jubiläum. Beide Jubiläen hängen mit dem Bundesland Bayern zusammen: vor 70 Jahren wurde die Gruppe 47 am Bannwaldsee bei Füssen gegründet (daran erinnern gerade eine Ausstellung und mehrere Veranstaltungen in Füssen), und vor einem halben Jahrhundert trafen sich im Oktober 1967 die Dichter und einige ihrer Verleger in der „Pulvermühle“ bei Waischenfeld, also mitten in der Fränkischen Schweiz.

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Liest man die Tagebücher Hans Werner Richters, so bekommt man einen Eindruck von den Unsicherheiten, die über diesem Treffen schwebten, das anders war als viele andere. Nicht nur die Journalistin Ulrike Meinhof war der Meinung, dass die Gruppe 47 „platzt“, wie sie es in einem äußerst kritischen Artikel im literarischen Politblatt „konkret“ ausdrückte. Die Gruppe 47 war politisch schon immer umstritten gewesen – nun aber rotteten sich echte und viele falsche Studenten des Erlanger SDS (des Sozialistischen Studentenbundes) vor dem Wirtshaus zusammen, die die Gruppe 47 als „Papiertiger“ verspotteten. Richter blieb gleichmütig, viele Autoren waren gesprächsbereit, etliche verärgert über die Dissonanzen im Geist der 60er-Jahre, die das Folgejahr 1968 schon ankündigten. Schließlich unterschrieben 80 Autoren eine der vielen Resolutionen, die im Lauf der Gruppengeschichte von Mitgliedern der Tagungen ausgingen. Diesmal ging es gegen die Springer-Presse.

Nach der Pulvermühle sollten fünf lange Jahre vergehen, bis der Gründer wieder seine Dichtertruppe zusammenrief. Für einige Literaturwissenschaftler und Autoren gilt die Tagung von 1967 heute als letztes „wirkliches“ Treffen im Geist der Gründung von 1947 – 23 Jahre, bevor eine letzte Jubiläumstagung in einem Schloss bei Prag die offizielle Geschichte der Gruppe 47 beendete.

Am mittleren Oktoberwochenende, am 14. und 15. Oktober 2017, werden sich etwa 20 ehemalige Gruppe 47-Teilnehmer wieder am Ort zusammenfinden: an einem von Karla Fohrbeck organisierten Literarischen Wochenende, das nur in dem Sinn zurückschaut, als es die Impulse der wilden späten 60er aufnimmt und zur Diskussion stellt. „Diskussion“: dieses Zauberwort, das heute selbstverständlicher ist, als es zur Zeit der Gründung der Gruppe 47 und noch lange darüber hinaus war, ist der Kern dieses Literarischen Treffens. Die Dichter, unter ihnen H. C. Buch, Hans Magnus Enzensberger, Günter Herburger, Jürgen Becker (dem in der Pulvermühle mit dem Preis der Gruppe 47 der wichtigste literarische Preis verliehen wurde, der damals in Westdeutschland vergeben werden konnte), Uwe Brandner, Robert Schindel, Ingrid Bachér, Elisabeth Plessen und F. C. Delius – um nur einige der Autoren zu nennen – werden sich in Individuallesungen und -gesprächen den Fragen des Publikums stellen und auf einigen Diskussionspodien sitzen. Auch in historischen und neueren Filmen wird die Gruppe 47 vielerlei präsent sein. Dabei geht es weniger um die Frage, was oder wer die Gruppe 47 im nostalgischen Rückblick war. Gefragt wird eher nach dem Erbe Hans Werner Richters und „seiner“ Truppe: Wie sieht heute der Zusammenhang von Literatur und Politik aus? Was könnte das Wort heute bewirken? Welche Rolle vermag es noch im „technischen Zeitalter“ zu spielen? Und was heißt eigentlich „literarische Freundschaft“?

Dass auch jüngere Autoren, die damals noch nicht dabei waren – Nora Bossong und Simon Strauss, der gerade sein Romandebüt vorlegt – mit im Boot sitzen, versteht sich von selbst, denn das Gespräch über Gegenwart und Zukunft der (auch politisch inspirierten) Literatur soll die ältere, immer noch kreative Generation mit der jüngeren verbinden: Denn die Gruppe 47 wirkt immer noch weiter.

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Tut sie das? Das Wochenende soll darauf mögliche Antworten geben, auch mit Hilfe einer  Ausstellung, die die Zusammenhänge zwischen dem 1967er-Treffen der Gruppe 47 in der Pulvermühle, dem politisch heißen Jahr, in dem Benno Ohnesorg erschossen wurde und Muhammad Ali den Kriegsdienst in Vietnam verweigerte, und jenen gesellschaftlichen wie literarischen Bewegungen und Institutionen vermittelt, in denen die vielen Teilnehmer der Gruppentagungen mehr oder wenig stark und avantgardistisch, meist auch politisch aufmüpfig und als „links“ verschrien tätig waren. Nicht allein Günter Grass hat damals auf die Trommel gehauen. Mag sein, dass die Literaturgeschichte der Bundesrepublik auch ohne die Gruppe 47, die übrigens auch Gäste aus dem „Osten“ willkommen hieß, so gelaufen wäre, wie sie lief. Dass sie an dieser Geschichte, vor allem aber an deren Sozial- und Gesellschaftsgeschichte wesentlich beteiligt war: diese Tatsache sollte den Besuch der Jubiläumstagung 2017 zu einem Ereignis machen, das weit über den lokalen Aspekt hinausgeht. Obwohl die Fränkische Schweiz, und gerade im Goldenen Oktober, eine wirklich schöne Landschaft ist.

Auf www.gruppe47.de finden sich viele Informationen (beispielsweise die Viten sämtlicher anwesender Autoren) über das Literarische Wochenende, das an drei Standorten in und bei Waischenfeld stattfindet: auf der Burg, auf dem Fraunhofer-Campus und im Gasthaus „Pulvermühle“ selbst, dem Nachfolgebau des Gebäudes, das 1972 abbrannte.