„So fremd wie wir Menschen“: Thomas von Steinaecker diskutiert mit Schülern in Puchheim
Seit Jahren ist die sogenannte Flüchtlingskrise ein zentrales gesellschaftliches Thema. Auch das Literaturportal Bayern beteiligt sich mit mehreren Projekten: 2015 war es Kooperationspartner der Buchpublikation Fremd, einer Anthologie gegen Fremdenfeindlichkeit, es hat zudem etliche Lesungen veranstaltet und unterstützt das Aktionsbündnis Wir machen das. Nun geht es noch einen Schritt weiter, oder eher: tiefer, bis an die Graswurzeln der Gesellschaft, hinein in die Schulen. Die Reihe So fremd wie wir Menschen setzt auf Lesungen und Diskussionen nicht nur mit Erwachsenen und Tonangebern, die ihre festen Meinungen oft schon haben, sondern mit Heranwachsenden, mit Schülerinnen und Schülern, die von dem Flüchtlingsthema mindestens ebenso betroffen sind und ganz eigene Erfahrungen und Blickwinkel darauf haben. Unterstützt vom Bayerischen Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst fand am 17. Juli 2017 am Gymnasium Puchheim bei München eine weitere Veranstaltung der Reihe statt. Dabei las Thomas von Steinaecker, der unlängst mit dem Carl-Amery-Preis ausgezeichnet wurde, aus seinem dystopischen Roman Die Verteidigung des Paradieses.
*
Die Zuwanderung begrenzen. Eine Mauer bauen. Die Grenzen sichern ... In der Diskussion über den Umgang mit Geflüchteten in Deutschland und Europa sind dies Überlegungen, die immer wieder eingebracht werden. Was das bedeuten kann – und vieles mehr – behandelt Thomas von Steinaecker in seinem Roman Die Verteidigung des Paradieses. Allerdings entwirft er dieses dystopische Szenario in umgekehrter Weise: In seiner Zukunftsgeschichte sind die Menschen aus Deutschland die Flüchtenden, die – von einer Mauer umgeben – davon abgehalten werden sollen, in die umliegenden Länder zu gelangen.
Die Apokalypse hat stattgefunden, die Welt ist zerstört. Um zu überleben, muss der Erzähler Heinz (ein fünfzehnjähriger Klon) gemeinsam mit fünf Erwachsenen und einem Baby die Alm, auf der die Gruppe Zuflucht gefunden hat, verlassen und versuchen, es durch die gefährliche Große Ebene zu schaffen. Sie wollen ein Flüchtlingslager erreichen, über das man angeblich in eine Art rettendes Paradies in Frankreich gelangen kann. Was Heinz und seine Begleiter zum Zeitpunkt ihres Aufbruchs nicht wissen: Es ist nicht die ganze Welt, die von der Verwüstung betroffen ist. Es ist nur Deutschland. Und die umliegenden Nationen Europas sind nicht bereit, den deutschen Flüchtlingen zu helfen. Oder zumindest nur in begrenztem Maße.
Was sich wie eine Vice-versa-Version unserer Gegenwart anhört, ist als Idee zwar entstanden, lange bevor die Flüchtlingskrise so akut wurde. Dennoch zeigt die Geschichte als literarisches Gedankenspiel, was es bedeuten kann, Mauern, Grenzsicherung (notfalls auch mit Gewalt) und die Zurückweisung von Menschen in Not zu forden – und dass dieses Szenario auch irgendwann das eigene Land betreffen könnte.
Das Genre der Dystopie entspricht, so Thomas von Steinaecker in der Diskussion mit den Schülerinnen und Schülern des Puchheimer Gymnasiums, durchaus seiner Wahrnehmung unseres Jetzt. Für ihn markiere aber bereits der Anschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 einen entscheidenden Wendepunkt. Er habe seitdem oft das Gefühl, dass es keine Sicherheiten mehr gibt.
An sich selbst hat er in den vergangenen Jahren daher zunehmend das Phänomen der 'Angst-Lust' bemerkt, das auch den Schülern nicht fremd ist, wie sie einräumen. Die Katastrophenbilder, mit denen wir nahezu täglich in den Medien konfrontiert sind, würden ein ambivalentes Gefühl erzeugen, das gleichzeitig Betroffenheit oder Schock und eine Art Sucht danach beinhalte. Es ist die unterschwellige Lust, solche Bilder zu sehen. Die Schüler erkennen hier einen Doppeleffekt: Themen wie die Flüchtlingskrise oder die terroristische Bedrohung seien dauerpräsent und würden oft vorschnell vermischt; so wirkten sie noch erschreckender. Gleichzeitig stumpfe man aber immer mehr ab und sensibilisiere sich in der Wahrnehmung für noch größere Gefahren.
Als dritten Aspekt, der den Umgang mit der vermeintlichen Bedrohung durch das Fremde oder die Fremden kennzeichnet, nennen die Schülerinnen und Schüler die grassierende Ignoranz in der Gesellschaft. Es sei umgekehrt nämlich genauso möglich, wenn man sich entsprechend einrichte, beispielsweise von der Flüchtlingskrise gar nichts mitzubekommen.
In Puchheim ist das jedoch nicht der Fall. Im vergangenen Jahr waren die Turnhallen des Gymnasiums zum Erstaufnahmelager umfunktioniert worden, und die Schule versuchte durch Deutsch-Nachhilfe-Angebote oder gemeinsamen Sport mit den Neuankömmlingen in Kontakt zu kommen. Es zeigte sich, dass bereits solche Formen von Integration nicht immer leicht umzusetzen sind und es dafür einiger Anstrengung und auch mal das Aushalten unangenehmer Situationen bedarf, zumal wenn ganz unterschiedliche Kulturen aufeinander treffen. Da befremde zunächst oft schon das Verständigungsproblem. Doch die Schüler treten, so klingt es, konstruktiv an die Probleme heran. Wo Trennendes ist, gibt es fast immer auch Verbindendes. Zum Beispiel Musik. Oder Fußball. Dafür gelte es, offen zu sein. Kleinigkeiten zählen, sie machen den Unterschied.
Gerade Vorurteile wollen sie kritisch hinterfragen, denn oft hätten diese schon eine lange Geschichte und zeugten von reiner Angst vor Veränderung. Es seien nicht die Vorurteile, die sich verändern, sondern die Menschen, die je nach Zeitlauf mit diesen bedacht werden. Die Geflüchteten würden eben häufig zur Projektstionsfläche für die verdeckten Ängste in unserer Gesellschaft.
Offenheit, Nachsicht und unmittelbare eigene Erfahrungen sind die Schlagworte, die Thomas von Steinaecker und die Schülerinnen und Schüler des Puchheimer Gymnasiums den Rufen nach Mauern und Grenzen entgegensetzen möchten.
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Seit Jahren ist die sogenannte Flüchtlingskrise ein zentrales gesellschaftliches Thema. Auch das Literaturportal Bayern beteiligt sich mit mehreren Projekten: 2015 war es Kooperationspartner der Buchpublikation Fremd, einer Anthologie gegen Fremdenfeindlichkeit, es hat zudem etliche Lesungen veranstaltet und unterstützt das Aktionsbündnis Wir machen das. Nun geht es noch einen Schritt weiter, oder eher: tiefer, bis an die Graswurzeln der Gesellschaft, hinein in die Schulen. Die Reihe So fremd wie wir Menschen setzt auf Lesungen und Diskussionen nicht nur mit Erwachsenen und Tonangebern, die ihre festen Meinungen oft schon haben, sondern mit Heranwachsenden, mit Schülerinnen und Schülern, die von dem Flüchtlingsthema mindestens ebenso betroffen sind und ganz eigene Erfahrungen und Blickwinkel darauf haben. Unterstützt vom Bayerischen Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst fand am 17. Juli 2017 am Gymnasium Puchheim bei München eine weitere Veranstaltung der Reihe statt. Dabei las Thomas von Steinaecker, der unlängst mit dem Carl-Amery-Preis ausgezeichnet wurde, aus seinem dystopischen Roman Die Verteidigung des Paradieses.
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Die Zuwanderung begrenzen. Eine Mauer bauen. Die Grenzen sichern ... In der Diskussion über den Umgang mit Geflüchteten in Deutschland und Europa sind dies Überlegungen, die immer wieder eingebracht werden. Was das bedeuten kann – und vieles mehr – behandelt Thomas von Steinaecker in seinem Roman Die Verteidigung des Paradieses. Allerdings entwirft er dieses dystopische Szenario in umgekehrter Weise: In seiner Zukunftsgeschichte sind die Menschen aus Deutschland die Flüchtenden, die – von einer Mauer umgeben – davon abgehalten werden sollen, in die umliegenden Länder zu gelangen.
Die Apokalypse hat stattgefunden, die Welt ist zerstört. Um zu überleben, muss der Erzähler Heinz (ein fünfzehnjähriger Klon) gemeinsam mit fünf Erwachsenen und einem Baby die Alm, auf der die Gruppe Zuflucht gefunden hat, verlassen und versuchen, es durch die gefährliche Große Ebene zu schaffen. Sie wollen ein Flüchtlingslager erreichen, über das man angeblich in eine Art rettendes Paradies in Frankreich gelangen kann. Was Heinz und seine Begleiter zum Zeitpunkt ihres Aufbruchs nicht wissen: Es ist nicht die ganze Welt, die von der Verwüstung betroffen ist. Es ist nur Deutschland. Und die umliegenden Nationen Europas sind nicht bereit, den deutschen Flüchtlingen zu helfen. Oder zumindest nur in begrenztem Maße.
Was sich wie eine Vice-versa-Version unserer Gegenwart anhört, ist als Idee zwar entstanden, lange bevor die Flüchtlingskrise so akut wurde. Dennoch zeigt die Geschichte als literarisches Gedankenspiel, was es bedeuten kann, Mauern, Grenzsicherung (notfalls auch mit Gewalt) und die Zurückweisung von Menschen in Not zu forden – und dass dieses Szenario auch irgendwann das eigene Land betreffen könnte.
Das Genre der Dystopie entspricht, so Thomas von Steinaecker in der Diskussion mit den Schülerinnen und Schülern des Puchheimer Gymnasiums, durchaus seiner Wahrnehmung unseres Jetzt. Für ihn markiere aber bereits der Anschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 einen entscheidenden Wendepunkt. Er habe seitdem oft das Gefühl, dass es keine Sicherheiten mehr gibt.
An sich selbst hat er in den vergangenen Jahren daher zunehmend das Phänomen der 'Angst-Lust' bemerkt, das auch den Schülern nicht fremd ist, wie sie einräumen. Die Katastrophenbilder, mit denen wir nahezu täglich in den Medien konfrontiert sind, würden ein ambivalentes Gefühl erzeugen, das gleichzeitig Betroffenheit oder Schock und eine Art Sucht danach beinhalte. Es ist die unterschwellige Lust, solche Bilder zu sehen. Die Schüler erkennen hier einen Doppeleffekt: Themen wie die Flüchtlingskrise oder die terroristische Bedrohung seien dauerpräsent und würden oft vorschnell vermischt; so wirkten sie noch erschreckender. Gleichzeitig stumpfe man aber immer mehr ab und sensibilisiere sich in der Wahrnehmung für noch größere Gefahren.
Als dritten Aspekt, der den Umgang mit der vermeintlichen Bedrohung durch das Fremde oder die Fremden kennzeichnet, nennen die Schülerinnen und Schüler die grassierende Ignoranz in der Gesellschaft. Es sei umgekehrt nämlich genauso möglich, wenn man sich entsprechend einrichte, beispielsweise von der Flüchtlingskrise gar nichts mitzubekommen.
In Puchheim ist das jedoch nicht der Fall. Im vergangenen Jahr waren die Turnhallen des Gymnasiums zum Erstaufnahmelager umfunktioniert worden, und die Schule versuchte durch Deutsch-Nachhilfe-Angebote oder gemeinsamen Sport mit den Neuankömmlingen in Kontakt zu kommen. Es zeigte sich, dass bereits solche Formen von Integration nicht immer leicht umzusetzen sind und es dafür einiger Anstrengung und auch mal das Aushalten unangenehmer Situationen bedarf, zumal wenn ganz unterschiedliche Kulturen aufeinander treffen. Da befremde zunächst oft schon das Verständigungsproblem. Doch die Schüler treten, so klingt es, konstruktiv an die Probleme heran. Wo Trennendes ist, gibt es fast immer auch Verbindendes. Zum Beispiel Musik. Oder Fußball. Dafür gelte es, offen zu sein. Kleinigkeiten zählen, sie machen den Unterschied.
Gerade Vorurteile wollen sie kritisch hinterfragen, denn oft hätten diese schon eine lange Geschichte und zeugten von reiner Angst vor Veränderung. Es seien nicht die Vorurteile, die sich verändern, sondern die Menschen, die je nach Zeitlauf mit diesen bedacht werden. Die Geflüchteten würden eben häufig zur Projektstionsfläche für die verdeckten Ängste in unserer Gesellschaft.
Offenheit, Nachsicht und unmittelbare eigene Erfahrungen sind die Schlagworte, die Thomas von Steinaecker und die Schülerinnen und Schüler des Puchheimer Gymnasiums den Rufen nach Mauern und Grenzen entgegensetzen möchten.