Zur Verbrüderung von Literatur und Leben
2025 wäre Thomas Mann 150 Jahre alt geworden. Passend dazu widmet Matthias Lohre seinen zweiten Roman Teufels Bruder der Italien-Reise von Thomas und Heinrich Mann. Ein geheimnisvoller Einblick in das Leben der beiden Rivalen, die vom literarischen Durchbruch träumen – prekären Arbeitsbedingungen, inneren Dämonen und dubiosen Verlegern zum Trotz.
*
Wie erzählt man eine solche Jahrhundertgeschichte? Wie beginnt man einen Roman angesichts der bis heute großen Bedeutung seiner Protagonisten? Der Schriftsteller und Historiker Matthias Lohre wählt keinen Urknall, er wählt eine Vorahnung. So steht der fast 80 Jahre alte Thomas Mann 1953 in Rom auf einem Balkon und schaut. Sein Lebenswerk ist größtenteils vollbracht. Es wäre Zeit zu seufzen. Doch er schaut einfach. Schaut, „wie dort unten junge Menschen zwischen Straßenbäumen und besonnten Hausfassaden promenierten“, während „sein müdes Herz“ zu rasen beginnt.
„'Wollen Sie vielleicht', fragte er, 'mit mir einen Blick hinaus werfen? Dann erzähle ich Ihnen eine Geschichte.'“ Das Erzählen beginnt stets mit einem offenen Fenster oder wie in Teufels Bruder mit einem „Blick hinaus“. Das Erzählen blickt aufs Leben, aufs Draußen und wieder in sich hinein, tief ins quälende Gemüt. Denn eins steht fest: Leben und Schreiben findet gleichzeitig statt. Lohre beginnt mit dem „Schlusspunkt“ der Geschichte, mit dem gealterten Thomas Mann, um zu erzählen, was „vor mehr als einem halben Jahrhundert in Scham und Schande begonnen hatte“. Er zeigt, wie der Schulversager Thomas seinem schwierigen Elternhaus entkam und zu einem der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts werden konnte.
Diese komplexe Überlagerung von Erzähltem und Erlebtem, die Verwandtschaft von Literatur und Wirklichkeit, kündigt sich bereits auf den ersten Seiten als zentrales Thema des Romans an. „Bitte verwechseln Sie [Literatur] nicht mit der Wirklichkeit“, fordert Thomas Mann da seinen Gesprächspartner auf. Wenige Zeilen später hält er inne und spricht zu sich selbst:
„Sah denn niemand, was offen zutage lag? Dass der Faustus blutige Realität war – seine Realität? [...] Hatte er [...] nicht gerade selbst gesagt, Literatur und Leben seien verschiedene Dinge? In Wahrheit, das sah er im Moment der Schwäche klarer denn je, waren seine Werke niemals Bekenntnisse gewesen. Sie waren Labyrinthe. In ihnen hatte er sich der Welt nicht offenbart, sondern kunstvoll vor ihr versteckt.“
Lohre stellt sich diesem herausfordernden Unterfangen. Er, als Schriftsteller, der über andere Schriftsteller schreibt, befindet sich in einem doppelten Labyrinth. Er macht es begehbar, als würde er langsam einen Vorhang aufziehen und Tunnel um Tunnel ablaufen. Wendungsreich, multiperspektivisch und mit besonderer Hingabe zum Detail. Immer wieder offenbaren sich weitere Vorhänge, allerlei Kostüme, die er zärtlich öffnet. Lohre zeigt nicht nur, was die Stoffe zusammenhält, sondern auch, wie sie einmal vernäht wurden.
Er überschreibt zwei der bekanntesten deutschen Schriftsteller mit seiner Hand und macht sie zu eigenen literarischen Figuren. Er zieht ihnen neue Kleidung über die Körper, recherchiert und fantasiert, was wohl in ihren Köpfen vorgegangen sein mag. Nach und nach treten immer mehr Schichten zutage. Da ist Ilse, Thomas' Jugendliebe aus Lübeck, da ist die italienische Schauspielerin, in die Heinrich sich verguckt, da ist der geheimnisvolle Jüngling, dem Thomas nachsteigt, da ist das dubiose Verleger-Duo Schröter, das ihnen krude Verträge anbietet, da ist die Rivalität der Brüder, das schwierige Verhältnis zu ihrer Mutter und dem früh verstorbenen Vater und nicht zuletzt Thomas' Begegnung mit dem Bösen schlechthin in Palestrina.
Dem Schreiben und seinen Irrwegen auf der Spur
Aber von vorne: Zuerst einmal zögert der 21-jährige Thomas, der liebevoll „Tommy“ genannt wird. Er zögert so lange, dass er 1896 in München beinahe seinen Zug nach Italien verpasst. Lange vor den Buddenbrooks, überhaupt vor einer Idee des Schreibens, reist er seinem Bruder in den Süden hinterher. Etwas widerwillig, denn es „ist doch im Grunde ein grässliches Klischee. Jeder gefühlsduselige Schreiberling, der sich für Goethes Wiedergeburt hält, reist hin.“ Irgendetwas treibt ihn an, nicht nur Ilse, die ihn zum Bahnhof jagt, sondern eine fast unheimliche Macht: der Drang zu schreiben. Während sein Bruder bereits erste literarische Erfolge feiert, gilt er als langsamer, nicht besonders erfolgsversprechender Schreiber. Das soll sich in Italien ändern: Er will etwas anderes als Lübeck erleben, um ein Dichter, ein Künstler zu werden.
Auf Anhieb will es ihm nicht gelingen. Neben zahlreichen Zankereien mit Heinrich, der seine künstlerischen Ambitionen kleinzureden versucht, scheitert er selbst an den ersten Sätzen. Ihr Geschwisterverhältnis entpuppt sich als tiefe Rivalität, ihre Verwandtschaft als schwere Bürde: Wer von den beiden darf oder kann überhaupt schreiben? Wem hat es der Vater mehr zugetraut, wem traut es die verwitwete Mutter zu? Tommy sollte lieber eine praktische Ausbildung machen, ginge es nach ihr. Schließlich gäbe es „in dieser Familie nur ein Genie“.
Doch der kleine Bruder will nicht ewig in Heinrichs Schatten stehen. Er hat Größeres im Sinn, für das sich bald eine Chance bietet: Das zweifelhafte Verleger-Duo Schröter erwartet von ihm eine Erzählung mit dem Titel Enttäuschung. Im Gegenzug würden sie Heinrichs Novellenband veröffentlichen. Die Zeit drängt, aber Tommy ist fest entschlossen – eine Geschichte muss her, und zwar schnell. Die Suche danach gestaltet sich jedoch viel schwieriger als zunächst angenommen...
Dabei könnte das Schreiben so leicht sein, oder?
„Am besten schreibt man über das, was man gut kennt. Ich kenne aber nichts. Weil ich nichts erlebt habe“, meint Tommy.
„Du hast Lübeck erlebt“, entgegnet Heinrich.
„'Um Himmels willen!' Der Gedanke war so absurd, dass es beinahe lustig war. 'Diese grässlichen Leute. Mit denen will ich nichts zu schaffen haben.'
'Ich auch nicht. Aber du kennst sie.'“
Jahre vor dem Erscheinen der Buddenbrooks klingt in diesem Gespräch der Brüder an, welche inneren Widerstände Tommy überwinden musste, um dem damals jungen S. Fischer Verlag seinen ersten Bestseller zu bescheren. Dass es bis zu diesem Erfolg noch eine Weile dauern würde, zeigen Tommys verzweifelte Versuche, in Italien so etwas wie eine Geschichte in die Finger zu kriegen. Auf der Reise, die zu einer Grand Tour durch seinen Gemütszustand wird, scheint er überall sich selbst und sein eigenes Leid gespiegelt zu sehen. In jeder neuen Umgebung, die er sich erkämpft, fällt er wieder auf sich zurück. In Venedig erregt ein ganz in Weiß gekleideter Jüngling seine Aufmerksamkeit. Ihm meint er, dieselbe Trauer anzusehen, die ihn nicht erst seit dem Tod des Vaters begleitet. Was als Spurensuche durch die Kanäle der Stadt beginnt, wird bald zu einer Verfolgungsjagd bis nach Neapel. Und der faszinierende Unbekannte zu einem beinahe unlösbaren Mysterium für Tommy.
Ihm kommen Zweifel: „Hatte er wirklich nur eine Geschichte zu erzählen? Sah er in allem nur Spiegelungen seiner selbst? Wie sollte er dann über sich hinauswachsen, etwas Aufregendes, nie zuvor Dagewesenes schreiben?“ Auch an diesem Punkt hinterfragt Teufels Bruder wieder die grundsätzliche Beschaffenheit von Fiktion und ihre Überschneidung mit dem Leben. Klar, Fiktion wird aus Wirklichkeit geschaffen, doch was ist wirklich Wirklichkeit? Genügt das Bild des Jungen nur den Gesetzen von Tommys Projektion oder ist es ein eigenständiges Bild? Diesen Fragen muss sich ein Schriftsteller wohl lebenslang stellen.
Zwischen Zeitzeugnis und Zauberei
Die venezianische Szenerie erinnert stark an Thomas Manns spätere Novelle Tod in Venedig. Wie auch Lohres Protagonist Tommy steigt die dortige Hauptfigur, der Schriftsteller Aschenbach, einem Jungen nach. Diese Überschneidung scheint nicht zufällig angelegt: Matthias Lohre verwebt an vielen Stellen Fakt und Fiktion kunstvoll miteinander. So entstehen mehrere Textebenen, die einander sichtbar bleiben. Lohre übersetzt die Brüder in seine Sprache und bleibt ihnen doch nah.
Man spürt sie leiden, nicht nur vor Geld- und Existenznot. Man hört sie über entzündete Zähne klagen. Man sieht ihre lebensmüden Gedanken und was sie in der Lage sind, trotz aller Widrigkeiten zu leisten. Man hat eine Vorahnung, irgendwann müsste es doch aufwärts gehen und die großen Werke würden geschaffen, die heute noch in Bibliotheken stehen.
Beim Lesen ist man den Brüdern stets ein Stück voraus und trotzdem nah an ihrem teuflischen Verhältnis. Lohre lässt es uns begreifen: Nur in der Scham, die die beiden teilen, und in der Macht, die sie damit übereinander haben, sind sie sich nahe.
Manchmal weiß man nicht mehr, wer da überhaupt schreibt: Ist das noch Matthias Lohre oder schon Thomas oder Heinrich Mann? Angereichert mit Zitaten aus ihren Werken und derer, die sie bewunderten, rollt Lohre einen beeindruckenden Textteppich aus. Die Schwierigkeit, einen eigenen literarischen Kern, gar eine eigene literarische Identität, zu entwickeln, offenbart er beständig in seinem Roman. Was wir hier lesen, soll nicht bloß literarische Nacherzählung oder Abbild von Historie sein. Das verdeutlicht Lohres tiefe Auseinandersetzung mit der Mann'schen Topografie. Nur Thomas Manns homoerotischem Begehren schenkt er wenig Beachtung, es schwingt allenfalls mit.
Sehr dicht sind die 540 Seiten geschrieben und auch wenn am Ende das schlingenartige Erzählen den Blick fast verdeckt, bleibt das Gefühl: Thomas hat einen als Teufel erkannt. Er hat einem ins Auge und in die Flammen gesehen. Einem Bruder, sich selbst, dem Schreiben, der Kunst, dem Leben. Also gilt in Palestrina wie überall: „Wer soll den Teufelskreis durchbrechen, wenn nicht wir?“
Matthias Lohre: Teufels Bruder. Piper Verlag, München 2025, 544 S., ISBN 978-3492072793.
Zur Verbrüderung von Literatur und Leben>
2025 wäre Thomas Mann 150 Jahre alt geworden. Passend dazu widmet Matthias Lohre seinen zweiten Roman Teufels Bruder der Italien-Reise von Thomas und Heinrich Mann. Ein geheimnisvoller Einblick in das Leben der beiden Rivalen, die vom literarischen Durchbruch träumen – prekären Arbeitsbedingungen, inneren Dämonen und dubiosen Verlegern zum Trotz.
*
Wie erzählt man eine solche Jahrhundertgeschichte? Wie beginnt man einen Roman angesichts der bis heute großen Bedeutung seiner Protagonisten? Der Schriftsteller und Historiker Matthias Lohre wählt keinen Urknall, er wählt eine Vorahnung. So steht der fast 80 Jahre alte Thomas Mann 1953 in Rom auf einem Balkon und schaut. Sein Lebenswerk ist größtenteils vollbracht. Es wäre Zeit zu seufzen. Doch er schaut einfach. Schaut, „wie dort unten junge Menschen zwischen Straßenbäumen und besonnten Hausfassaden promenierten“, während „sein müdes Herz“ zu rasen beginnt.
„'Wollen Sie vielleicht', fragte er, 'mit mir einen Blick hinaus werfen? Dann erzähle ich Ihnen eine Geschichte.'“ Das Erzählen beginnt stets mit einem offenen Fenster oder wie in Teufels Bruder mit einem „Blick hinaus“. Das Erzählen blickt aufs Leben, aufs Draußen und wieder in sich hinein, tief ins quälende Gemüt. Denn eins steht fest: Leben und Schreiben findet gleichzeitig statt. Lohre beginnt mit dem „Schlusspunkt“ der Geschichte, mit dem gealterten Thomas Mann, um zu erzählen, was „vor mehr als einem halben Jahrhundert in Scham und Schande begonnen hatte“. Er zeigt, wie der Schulversager Thomas seinem schwierigen Elternhaus entkam und zu einem der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts werden konnte.
Diese komplexe Überlagerung von Erzähltem und Erlebtem, die Verwandtschaft von Literatur und Wirklichkeit, kündigt sich bereits auf den ersten Seiten als zentrales Thema des Romans an. „Bitte verwechseln Sie [Literatur] nicht mit der Wirklichkeit“, fordert Thomas Mann da seinen Gesprächspartner auf. Wenige Zeilen später hält er inne und spricht zu sich selbst:
„Sah denn niemand, was offen zutage lag? Dass der Faustus blutige Realität war – seine Realität? [...] Hatte er [...] nicht gerade selbst gesagt, Literatur und Leben seien verschiedene Dinge? In Wahrheit, das sah er im Moment der Schwäche klarer denn je, waren seine Werke niemals Bekenntnisse gewesen. Sie waren Labyrinthe. In ihnen hatte er sich der Welt nicht offenbart, sondern kunstvoll vor ihr versteckt.“
Lohre stellt sich diesem herausfordernden Unterfangen. Er, als Schriftsteller, der über andere Schriftsteller schreibt, befindet sich in einem doppelten Labyrinth. Er macht es begehbar, als würde er langsam einen Vorhang aufziehen und Tunnel um Tunnel ablaufen. Wendungsreich, multiperspektivisch und mit besonderer Hingabe zum Detail. Immer wieder offenbaren sich weitere Vorhänge, allerlei Kostüme, die er zärtlich öffnet. Lohre zeigt nicht nur, was die Stoffe zusammenhält, sondern auch, wie sie einmal vernäht wurden.
Er überschreibt zwei der bekanntesten deutschen Schriftsteller mit seiner Hand und macht sie zu eigenen literarischen Figuren. Er zieht ihnen neue Kleidung über die Körper, recherchiert und fantasiert, was wohl in ihren Köpfen vorgegangen sein mag. Nach und nach treten immer mehr Schichten zutage. Da ist Ilse, Thomas' Jugendliebe aus Lübeck, da ist die italienische Schauspielerin, in die Heinrich sich verguckt, da ist der geheimnisvolle Jüngling, dem Thomas nachsteigt, da ist das dubiose Verleger-Duo Schröter, das ihnen krude Verträge anbietet, da ist die Rivalität der Brüder, das schwierige Verhältnis zu ihrer Mutter und dem früh verstorbenen Vater und nicht zuletzt Thomas' Begegnung mit dem Bösen schlechthin in Palestrina.
Dem Schreiben und seinen Irrwegen auf der Spur
Aber von vorne: Zuerst einmal zögert der 21-jährige Thomas, der liebevoll „Tommy“ genannt wird. Er zögert so lange, dass er 1896 in München beinahe seinen Zug nach Italien verpasst. Lange vor den Buddenbrooks, überhaupt vor einer Idee des Schreibens, reist er seinem Bruder in den Süden hinterher. Etwas widerwillig, denn es „ist doch im Grunde ein grässliches Klischee. Jeder gefühlsduselige Schreiberling, der sich für Goethes Wiedergeburt hält, reist hin.“ Irgendetwas treibt ihn an, nicht nur Ilse, die ihn zum Bahnhof jagt, sondern eine fast unheimliche Macht: der Drang zu schreiben. Während sein Bruder bereits erste literarische Erfolge feiert, gilt er als langsamer, nicht besonders erfolgsversprechender Schreiber. Das soll sich in Italien ändern: Er will etwas anderes als Lübeck erleben, um ein Dichter, ein Künstler zu werden.
Auf Anhieb will es ihm nicht gelingen. Neben zahlreichen Zankereien mit Heinrich, der seine künstlerischen Ambitionen kleinzureden versucht, scheitert er selbst an den ersten Sätzen. Ihr Geschwisterverhältnis entpuppt sich als tiefe Rivalität, ihre Verwandtschaft als schwere Bürde: Wer von den beiden darf oder kann überhaupt schreiben? Wem hat es der Vater mehr zugetraut, wem traut es die verwitwete Mutter zu? Tommy sollte lieber eine praktische Ausbildung machen, ginge es nach ihr. Schließlich gäbe es „in dieser Familie nur ein Genie“.
Doch der kleine Bruder will nicht ewig in Heinrichs Schatten stehen. Er hat Größeres im Sinn, für das sich bald eine Chance bietet: Das zweifelhafte Verleger-Duo Schröter erwartet von ihm eine Erzählung mit dem Titel Enttäuschung. Im Gegenzug würden sie Heinrichs Novellenband veröffentlichen. Die Zeit drängt, aber Tommy ist fest entschlossen – eine Geschichte muss her, und zwar schnell. Die Suche danach gestaltet sich jedoch viel schwieriger als zunächst angenommen...
Dabei könnte das Schreiben so leicht sein, oder?
„Am besten schreibt man über das, was man gut kennt. Ich kenne aber nichts. Weil ich nichts erlebt habe“, meint Tommy.
„Du hast Lübeck erlebt“, entgegnet Heinrich.
„'Um Himmels willen!' Der Gedanke war so absurd, dass es beinahe lustig war. 'Diese grässlichen Leute. Mit denen will ich nichts zu schaffen haben.'
'Ich auch nicht. Aber du kennst sie.'“
Jahre vor dem Erscheinen der Buddenbrooks klingt in diesem Gespräch der Brüder an, welche inneren Widerstände Tommy überwinden musste, um dem damals jungen S. Fischer Verlag seinen ersten Bestseller zu bescheren. Dass es bis zu diesem Erfolg noch eine Weile dauern würde, zeigen Tommys verzweifelte Versuche, in Italien so etwas wie eine Geschichte in die Finger zu kriegen. Auf der Reise, die zu einer Grand Tour durch seinen Gemütszustand wird, scheint er überall sich selbst und sein eigenes Leid gespiegelt zu sehen. In jeder neuen Umgebung, die er sich erkämpft, fällt er wieder auf sich zurück. In Venedig erregt ein ganz in Weiß gekleideter Jüngling seine Aufmerksamkeit. Ihm meint er, dieselbe Trauer anzusehen, die ihn nicht erst seit dem Tod des Vaters begleitet. Was als Spurensuche durch die Kanäle der Stadt beginnt, wird bald zu einer Verfolgungsjagd bis nach Neapel. Und der faszinierende Unbekannte zu einem beinahe unlösbaren Mysterium für Tommy.
Ihm kommen Zweifel: „Hatte er wirklich nur eine Geschichte zu erzählen? Sah er in allem nur Spiegelungen seiner selbst? Wie sollte er dann über sich hinauswachsen, etwas Aufregendes, nie zuvor Dagewesenes schreiben?“ Auch an diesem Punkt hinterfragt Teufels Bruder wieder die grundsätzliche Beschaffenheit von Fiktion und ihre Überschneidung mit dem Leben. Klar, Fiktion wird aus Wirklichkeit geschaffen, doch was ist wirklich Wirklichkeit? Genügt das Bild des Jungen nur den Gesetzen von Tommys Projektion oder ist es ein eigenständiges Bild? Diesen Fragen muss sich ein Schriftsteller wohl lebenslang stellen.
Zwischen Zeitzeugnis und Zauberei
Die venezianische Szenerie erinnert stark an Thomas Manns spätere Novelle Tod in Venedig. Wie auch Lohres Protagonist Tommy steigt die dortige Hauptfigur, der Schriftsteller Aschenbach, einem Jungen nach. Diese Überschneidung scheint nicht zufällig angelegt: Matthias Lohre verwebt an vielen Stellen Fakt und Fiktion kunstvoll miteinander. So entstehen mehrere Textebenen, die einander sichtbar bleiben. Lohre übersetzt die Brüder in seine Sprache und bleibt ihnen doch nah.
Man spürt sie leiden, nicht nur vor Geld- und Existenznot. Man hört sie über entzündete Zähne klagen. Man sieht ihre lebensmüden Gedanken und was sie in der Lage sind, trotz aller Widrigkeiten zu leisten. Man hat eine Vorahnung, irgendwann müsste es doch aufwärts gehen und die großen Werke würden geschaffen, die heute noch in Bibliotheken stehen.
Beim Lesen ist man den Brüdern stets ein Stück voraus und trotzdem nah an ihrem teuflischen Verhältnis. Lohre lässt es uns begreifen: Nur in der Scham, die die beiden teilen, und in der Macht, die sie damit übereinander haben, sind sie sich nahe.
Manchmal weiß man nicht mehr, wer da überhaupt schreibt: Ist das noch Matthias Lohre oder schon Thomas oder Heinrich Mann? Angereichert mit Zitaten aus ihren Werken und derer, die sie bewunderten, rollt Lohre einen beeindruckenden Textteppich aus. Die Schwierigkeit, einen eigenen literarischen Kern, gar eine eigene literarische Identität, zu entwickeln, offenbart er beständig in seinem Roman. Was wir hier lesen, soll nicht bloß literarische Nacherzählung oder Abbild von Historie sein. Das verdeutlicht Lohres tiefe Auseinandersetzung mit der Mann'schen Topografie. Nur Thomas Manns homoerotischem Begehren schenkt er wenig Beachtung, es schwingt allenfalls mit.
Sehr dicht sind die 540 Seiten geschrieben und auch wenn am Ende das schlingenartige Erzählen den Blick fast verdeckt, bleibt das Gefühl: Thomas hat einen als Teufel erkannt. Er hat einem ins Auge und in die Flammen gesehen. Einem Bruder, sich selbst, dem Schreiben, der Kunst, dem Leben. Also gilt in Palestrina wie überall: „Wer soll den Teufelskreis durchbrechen, wenn nicht wir?“
Matthias Lohre: Teufels Bruder. Piper Verlag, München 2025, 544 S., ISBN 978-3492072793.