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Rezension zu Tanja Kinkels Buch „Wir alle sind Noah“

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Tanja Kinkel: „Wir alle sind Noah“ © Bonifatius Verlag

Anhand der Sintflutgeschichte von Noah und der Arche sowie Texten Franz‘ von Assisi zeigt Tanja Kinkel die Ganzheitlichkeit der menschlichen Verantwortung für die Umwelt auf. Autorin Christina Madenach denkt über den aktuellen Essay (Herbst 2024) ihrer Kollegin nach. 

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Der Titel Wir alle sind Noah sowie eine weiße Taube mit einem Olivenzweig im Schnabel auf dem Cover des Buchs von Tanja Kinkel verweisen auf die zwei zentralen Aspekte dieses Essays: die Auseinandersetzung mit dem Thema Umwelt und der Abgleich dieses Themas mit spirituellen Vorlagen. Konsequenterweise ist dem Buch ein Zitat von Papst Franziskus vorangestellt, aus dessen „Laudato si‘“ die Autorin auch im weiteren Verlauf mehrmals zitiert, sowie die Geschichte der Arche Noah. Neben dieser finden weitere biblische Geschichten Eingang in den Text. Das Thema Umwelt beschäftigt die Autorin jedoch darüber hinaus: Viele aktuelle Beispiele von Umweltkatastrophen, Referenzen auf wissenschaftliche Studien und Erhebungen und nicht zuletzt der Appell an uns alle, zu handeln, sind Teil des Texts. Deshalb finde auch ich als Atheistin einen Zugang zu dem Buch.

Von der Grausamkeit biblischer und heutiger Sintfluten 

Die Geschichte der Arche Noah gehört über das Christentum hinaus zum allgemeinen Kulturgut. Sie spielt nicht nur in den monotheistischen Religionen eine Rolle, sondern hat auch Vorbilder in älteren Mythen. Viele heutige Projekte und Initiativen, die sich für den Umweltschutz einsetzen, benennen sich nach ihr. Und Kinder lieben die Arche Noah sowieso: Unterschiedlichste Spielehersteller bieten das Schiff mit Tierfiguren aus Materialien von Holz über Plastik bis hin zu Papier an.

Wahrscheinlich habe auch ich die Geschichte der Arche Noah das erste Mal in meiner Kindheit gehört und wahrscheinlich hat mir jemand die Light-Version aus einer Kinderbibel vorgelesen. Die Ausschnitte, die Tanja Kinkel in ihrem Text zitiert, sind unterschiedlichen Bibelübersetzungen entnommen. Im Gegensatz zur Kinderbibel sparen diese nicht die Grausamkeiten aus, die viele der Geschichten aus dem Alten Testament enthalten. Aus der Neuen Genfer Übersetzung zitiert Kinkel die Folgen der göttlichen Sintflut: „Alles, was auf dem Land lebte, starb: die Vögel, die Nutztiere, die wilden Tiere, die unzähligen kleinen Tiere, von denen es auf der Erde wimmelte, und alle Menschen. Alle Lebewesen, die atmeten und auf dem Land zu Hause waren, ertranken. Gott vernichtete alles Leben auf der Erde: Sämtliche Menschen, Landtiere, Kriechtiere und Vögel wurden ausgelöscht.“

Ein Gott, der den Menschen und allen anderen Lebewesen so etwas antut, erscheint mir kaltblütig und brutal. Aber das Gleiche gilt für diejenigen, die die heutigen Umweltkatastrophen verursachen: für uns. Tanja Kinkel spart in ihrem Text nicht mit Beispielen: angefangen bei den Überflutungen 2024 in Bayern und 2021 im Ahrtal, über die Waldbrände in Griechenland und den USA bis hin zu den Dürren in Spanien, der Überfischung der Gewässer und dem Plastikmüll im Meer. Sie belegt ihre Beispiele mit Zahlen und Fakten und lässt keinen Zweifel daran offen, dass es sich bei diesen Katastrophen nicht um göttliche Fügung oder ein grausames Schicksal handelt, sondern dass sie menschengemacht sind. Auch wenn ich nicht an Gott glaube und die Bibel für mich keine historischen Tatsachen verbürgt, funktioniert die Erzählung der Arche Noah als Metapher für die Schrecken, die mit Umweltkatastrophen einhergehen.

Wider die Ohnmacht und Machtlosigkeit

Tanja Kinkel nutzt die Geschichte der Arche Noah jedoch nicht nur, um die Konsequenzen solcher Ereignisse wie einer Sintflut aufzuzeigen. In den Mittelpunkt ihres Essays stellt sie die Zeit nach der Überflutung. Kinkel fasst die Situation, in der sich Noah und die mit ihm auf der Arche Geretteten befinden, als sie ihr Asyl wieder verlassen können, so zusammen: „Sie fanden keine neu geschaffene Welt vor, keinen Garten Eden, sondern die alte Welt, noch dazu nach einer furchtbaren Katastrophe – und doch zugleich ganz anders, als sie diese Welt verlassen hatten, mit der Möglichkeit eines Neuanfangs, die nicht nur Freiheit, sondern auch Verantwortung bedeutet.“

In der biblischen Geschichte heißt es, dass Gott einen Bund mit den Menschen und allen Lebewesen schließt. Gott verspricht, keine weiteren Katastrophen dieser Art mehr zu schicken. Nach Tanja Kinkel bedeutet der Bund mit Gott für den Menschen, seinen eigenen Anteil daran zu leisten. Der Mensch kann sich nicht in der Gewissheit zurücklehnen, dass Gott alles regelt und lenkt. Gott hat ihm zwar den Verstand und den freien Willen gegeben, womit es dem Menschen möglich ist, weiteren Katastrophen vorzubeugen, aber es ist an ihm selbst zu handeln. Der einzelne Mensch ist weder machtlos noch ohnmächtig, sondern kann und muss selbst entscheiden. Das bringt einerseits Freiheit mit sich, andererseits aber auch Verantwortung im Umgang mit der Umwelt und ihrer Erhaltung.

Der Essay verweist mehrmals auf diesen Bund zwischen Gott und den Menschen und die daraus resultierende Aufforderung zum Handeln. Die Wiederholungen ähneln einem Mantra, das die Lesenden ständig aufs Neue an ihre Aufgabe erinnert. Auch die Zitate, die formal herausgehoben sind, scheinen diesem Zweck zu dienen. In Großbuchstaben und in Fettdruck platziert auf einzelnen Seiten, die den Fließtext unterbrechen, funktionieren sie wie Merksätze, zum Beispiel: „Nichts, was war, ist vergeblich. Und nichts, was ist, wird vergessen sein.“ Gemeinsam mit dem Mantra des Bundes wirken sie appellativ und fordern mich als Leserin auf, an meine Pflichten zu denken.

Über die Grenzen der Spezies und der Generationen hinaus

Tanja Kinkel benennt in ihrem Text konkrete Handlungsfelder. Als großes Versagen erkennt sie den Umgang der Menschen mit den Tieren sowie mit seinen Mitmenschen. Nicht nur auf der Ebene der Umwelt, auch gesellschaftlich ist das Klima vergiftet. Beispielhaft verweist sie auf den Umgang von Klimaschützenden und Polizei miteinander. Dabei ist nach ihr das Anliegen beider, die Menschen und die Welt zu schützen. Als Beispiele für ein funktionierendes Miteinander führt sie zwei weitere christliche Mythen an: die Geschichte von Franz von Assisi, der den Wolf von Gubbio zähmt und für einen Friedensvertrag zwischen Wolf und Menschen sorgt, sowie die Geschichte von Josef und seinen Brüdern, die davon erzählt, wie Josef seinen Brüdern schlussendlich die ihm angetane Grausamkeit verzeiht, wodurch eine neue Gemeinschaft entstehen kann.

Geschwisterlichkeit geht für Kinkel über die Grenzen der Spezies hinaus. Sie nimmt die Geschichte von Assisi sowie die von dem Bund zwischen Gott und allen Lebewesen als Beleg dafür, dass es sich dabei auch um ein göttliches Anliegen handelt. Für Kinkel ist Geschwisterlichkeit möglich, wenn die Menschen sich als Teil eines Ganzen begreifen. Für das Ganze verwendet sie den Begriff der Schöpfung. Dieser verweist natürlich auf Gott, aber vielleicht könnte man ihn im übertragenen Sinne auch als die künstlerische Erschaffung eines Werks lesen. Es steht nicht der göttliche Schöpfungsmythos zur Debatte, sondern die Fragilität, die der Begriff impliziert. Etwas, das erschaffen wurde, kann auch wieder zerstört werden. Es ist schützenswert und bedarf deshalb einer besonderen Sorgsamkeit aller.

Der Essay zeigt, dass ein Denken sowohl über die Grenzen der Spezies als auch über mehrere Generationen hinaus notwendig ist. Wenn die Menschen die Umwelt heute zerstören, werden das vor allem die nachfolgenden Generationen zu spüren bekommen. Nur mit einem Blick, „der über das Unmittelbare hinausgeht“, wie es in dem von Kinkel zitierten „Laudato si‘“ von Papst Franziskus heißt, kann über angemessene Handlungen in der Gegenwart entschieden werden. Vorbildhaft ist dabei für Tanja Kinkel die Figur des Josef, der seine Brüder und ganz Ägypten vor einer Hungersnot rettet, indem er zunächst in die Zukunft schaut, um daraufhin seine Deutung in konkrete Pläne für eine Massenrationierung in die Tat umzusetzen. Gerade die Verbindung dieser unterschiedlichen Fähigkeiten erscheint Kinkel essentiell: „[F]ür eine Zukunft, in der Welt, Mensch und Tier gleichermaßen überleben, [ist] gerade eine Verbindung aus all diesen Fähigkeiten und Fertigkeiten nötig: die Deutung der Zukunft, die Organisation und Planung, um sie lebenswert zu gestalten, und die gemeinsame Arbeit, um solche Pläne zu verwirklichen.“