Rezension zu Dana von Suffrins Roman „Nochmal von vorne“
Was hält eine Familie zusammen, in der es nur Fliehkräfte zu geben scheint? Dieser Frage geht Dana von Suffrin in ihrem vielbeachteten Roman Nochmal von vorne nach. Für dieses Werk über ein modernes jüdisches Leben zwischen München und Tel Aviv wurde sie u.a. mit dem Tukan-Preis der Stadt München ausgezeichnet. Die Autorin Joana Osman hat den Roman für das Literaturportal Bayern gelesen.
*
Hitler malt mit einem stumpfen Bleistift auf einer Landkarte herum und verändert damit nicht nur die Geschichte Europas und der Welt, sondern auch das Schicksal einer ungarisch-rumänisch-jüdischen Familie, deren Spuren wir in diesem Roman von Osteuropa nach München und Tel Aviv folgen – es sind Spuren, die sich schlurfend und hinkend durch die Jahre und Kontinente ziehen, denn die Familie der Protagonistin und Ich-Erzählerin Rosa ist durch und durch dysfunktional. Und so erschließt sich der Leserschaft Seite für Seite das Trauma einer deutsch-jüdischen Mischpoke, aber auf eine solch schwarzhumorige Weise, dass man beim Lesen schockiert nach Luft schnappt und sich zugleich lachend auf den Schenkel klopft.
Der Protagonistin Rosa fällt nach dem Tod ihres Vaters die undankbare Aufgabe zu, seine Wohnung aufzulösen und damit eben auch die eigene Kindheit und die Familiengeschichte als solches.
Nochmal von vorne handelt von der Familie Jeruscher, einer Familie, in der man damit beschäftigt ist, „einander die Füße zu stellen, beleidigt zu sein oder Migräneanfälle zu haben“.
Mit einem Füße-Stellen geht es los, es ist der Augenblick, in dem die Mutter den Vater kennenlernt, in der Münchner Baaderstraße, er fällt über ihren ausgestreckten Fuß und ist sofort beleidigt.
In Wahrheit geht es jedoch schon viel früher los, mit den Großeltern Zsazsa und Tibor nämlich, die kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges in Rumänien spazierengehen, vorsichtig hoffnungsvoll ob der sich anbahnenden Niederlage der Wehrmacht, und anschließend den Vater der Protagonistin zeugen.
Lakonisch, fast schon ein wenig zynisch, entwirrt Dana von Suffrin auf den folgenden Seiten die vielen großen und kleinen Tragödien dieser Familie, die sich alle zusammenfügen zu einem Makramee aus individuellen Neurosen und kollektiven Traumata. Da ist die lebenslustige aber vom Leben enttäuschte deutsche Mutter, die um ein Haar Akademikerin geworden wäre, aber dann kamen die Kinder, und da ist der traurige und ebenfalls vom Leben enttäuschte jüdische Vater, der beinahe Chemiker geworden wäre, es aber nur bis zum Laboranten gebracht hat. Und dann ist da noch Nadja, die ältere Schwester und das schwarze Schaf der Familie, die sich ebendieser Familie und ihren Verstrickungen von Anfang an entzieht, unnahbar ist und schließlich die Koffer packt und weggeht.
In einem Moment der Klarsichtigkeit erkennt die Mutter, dass ihre Familie aussehe „wie die Parodie einer bundesdeutschen Kernfamilie“, bei der jedoch „nichts in Ordnung sei, und man könne von außen erkennen, welches Unglück hier schlummerte“.
Der Vater, ein Israeli, der sich weigert, die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen, ist enttäuscht darüber, dass seine Familie „kein bisschen so war, wie er sie sich vorgestellt hatte, bevor sie existierte.“
Schon bald existiert sie nicht mehr, denn die einzelnen Familienmitglieder verschwinden oder sterben einer nach dem anderen; sie ertrinken, laufen davon, haben Autounfälle oder Krebs, und zurück bleibt Rosa, die Harmoniesüchtige, die in diesem Familiensystem die mit Abstand undankbarste Rolle innehat.
„[…] und das waren die Rollen, die wir in dieser Familie hatten, ich versuchte, alle zu versöhnen, Nadja brachte alle auseinander, und woher das kam, wusste ich allerdings auch nicht, Herkunft, Geschichte, Charakter?“, lässt von Suffrin ihre Protagonistin Rosa müde und resigniert erzählen – es sind solche Schlüsselsätze, in denen das, was den ganzen Roman über unausgesprochen bleibt, durchschimmert – denn natürlich schwingt in diesem neurotischen Familiensystem die Schuld-Trauma-Verstrickung zweier Völker immer mit.
Die Mutter, die aus einer Familie voller Nazi-Sympathisanten kommt und als Erwachsene mit beinahe manischem Eifer zur Antifaschistin wird; der Vater, Sohn zweier Shoah-Überlebender, dessen latente Depression wie eine Glasglocke über der Familie hängt und die beiden deutsch-israelischen Töchter, die aus der Ehe ihrer Eltern, die eigentlich eine Trauma-Bonding-Beziehung ist, nicht schlau werden – Dana von Suffrin lässt all das Ungesagte ungesagt, bleibt vage, andeutungsvoll und in diesem Vagen und Unerzählten steckt all das, was man wissen muss.
Die Autorin weiß, was sie sagen will und nicht sagt, und wir Leser:innen wissen, was sie sagen will und nicht sagt, und wir wissen, dass sie weiß, dass wir wissen, und das macht uns zu einer Gemeinschaft der Wissenden, die verstehen, dass hinter dem assoziativen Schreibstil und der Komik, die in einzelnen Szenen aufploppt, ein Abgrund liegt, den wir kennen, weil wir Eingeweihte sind, weil wir geschichtskundig sind, weil wir vielleicht sogar Nachkommen sind, von wem auch immer. Und so nicken wir gemeinsam mit der Autorin und wir pressen die Lippen aufeinander zu einem traurigen und wissenden Lächeln, das ausdrücken soll, dass wir die Tragik hinter der Komik sehen können.
Der Geniestreich, den Dana von Suffrin in Nochmal von vorne aus dem Ärmel schüttelt, ist der, dass ihre Figuren allesamt Ausweichmanöver vollführen, um sich mit dem eigenen und eigentlichen Drama nicht auseinandersetzen zu müssen.
So ist es ausgerechnet die urbayerische Mutter Veronika, die ihrem Mann und ihren Kindern das Leben und das Trauma der jüdischen Großmutter Zsazsa erklärt (oder sollte man sagen germansplaint?) – aus der Metaperspektive der Historikerin versteht sich. In dieser Szene erfahren wir beiläufig in einem Nebensatz, dass die Eltern Zsazsas und damit die Urgroßeltern der Ich-Erzählerin Rosa in Auschwitz ermordet wurden – es ist diese Beiläufigkeit, dieses Matter-Of-Fact-Erzählen, das den Roman zu etwas ganz Großem macht.
Doch schon in der nächsten Szene wird deutlich, dass das Trauma dieser Familie nicht nur jüdisch ist, sondern auch deutsch, denn wieder ist es die Mutter, die mit ihren Töchtern Dokumentationen im Fernsehen ansieht und ihnen geradezu wahnhaft von der Shoah erzählt, und – man ahnt es bereits – auch von der Rolle, die ihre eigenen deutschen Eltern respektive Großeltern in dieser Gemengelage spielten. Der Vater hingegen greift gähnend zur Fernbedienung und schaltet einfach aus: „Genug mit diesem Blödsinn, gehen wir schlafen.“
Aber natürlich gibt es in Familien wie dieser kein Entkommen, schon gar nicht vor der Vergangenheit, denn die bricht sich Bahn in der Sprachlosigkeit der langsam dement werdenden jüdischen Großmutter Zsazsa, die sich beklagt, dass die beiden Enkelinnen „keine Ahnung hätten, wo sie überhaupt herkämen“. Also beginnt sie – nochmal von vorne, kommt aber über den Beginn nicht hinaus, denn der Schrecken manifestiert sich im Fehlen der Worte.
Nun wiederum schafft es Dana von Suffrin aber, gerade diese Sprachlosigkeit, diese Nullstelle des Entsetzens, in Worte zu fassen, nicht nur einmal, sondern viele Male, und sie tut dies mit einem fein subtilen Witz, und einer Wortgewandtheit, die im scharfen Gegensatz zu der alles umfassenden Traurigkeit steht, der die Figuren allesamt unterliegen:
„Ich lüpfe jedem Gespenst das Leintuch und entdecke darunter etwas unendlich Witziges, und es ist fast so wie bei meiner Mutter, die auch nie den Schrecken für sich stehen lassen konnte.“, sagt die Protagonistin Rosa und man meint, die Autorin selbst sprechen zu hören, wenn sie diese Geschichte in eine Art „traurigen Heiterkeitsrausch“ gipfeln lässt, die ihre Leser:innen atemlos und ja, auch ein wenig hilflos zurücklässt.
Dana von Suffrin hat mit Nochmal von vorne einen leisen und großen Roman geschrieben, ein Kammerspiel von höchster Qualität.
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Was hält eine Familie zusammen, in der es nur Fliehkräfte zu geben scheint? Dieser Frage geht Dana von Suffrin in ihrem vielbeachteten Roman Nochmal von vorne nach. Für dieses Werk über ein modernes jüdisches Leben zwischen München und Tel Aviv wurde sie u.a. mit dem Tukan-Preis der Stadt München ausgezeichnet. Die Autorin Joana Osman hat den Roman für das Literaturportal Bayern gelesen.
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Hitler malt mit einem stumpfen Bleistift auf einer Landkarte herum und verändert damit nicht nur die Geschichte Europas und der Welt, sondern auch das Schicksal einer ungarisch-rumänisch-jüdischen Familie, deren Spuren wir in diesem Roman von Osteuropa nach München und Tel Aviv folgen – es sind Spuren, die sich schlurfend und hinkend durch die Jahre und Kontinente ziehen, denn die Familie der Protagonistin und Ich-Erzählerin Rosa ist durch und durch dysfunktional. Und so erschließt sich der Leserschaft Seite für Seite das Trauma einer deutsch-jüdischen Mischpoke, aber auf eine solch schwarzhumorige Weise, dass man beim Lesen schockiert nach Luft schnappt und sich zugleich lachend auf den Schenkel klopft.
Der Protagonistin Rosa fällt nach dem Tod ihres Vaters die undankbare Aufgabe zu, seine Wohnung aufzulösen und damit eben auch die eigene Kindheit und die Familiengeschichte als solches.
Nochmal von vorne handelt von der Familie Jeruscher, einer Familie, in der man damit beschäftigt ist, „einander die Füße zu stellen, beleidigt zu sein oder Migräneanfälle zu haben“.
Mit einem Füße-Stellen geht es los, es ist der Augenblick, in dem die Mutter den Vater kennenlernt, in der Münchner Baaderstraße, er fällt über ihren ausgestreckten Fuß und ist sofort beleidigt.
In Wahrheit geht es jedoch schon viel früher los, mit den Großeltern Zsazsa und Tibor nämlich, die kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges in Rumänien spazierengehen, vorsichtig hoffnungsvoll ob der sich anbahnenden Niederlage der Wehrmacht, und anschließend den Vater der Protagonistin zeugen.
Lakonisch, fast schon ein wenig zynisch, entwirrt Dana von Suffrin auf den folgenden Seiten die vielen großen und kleinen Tragödien dieser Familie, die sich alle zusammenfügen zu einem Makramee aus individuellen Neurosen und kollektiven Traumata. Da ist die lebenslustige aber vom Leben enttäuschte deutsche Mutter, die um ein Haar Akademikerin geworden wäre, aber dann kamen die Kinder, und da ist der traurige und ebenfalls vom Leben enttäuschte jüdische Vater, der beinahe Chemiker geworden wäre, es aber nur bis zum Laboranten gebracht hat. Und dann ist da noch Nadja, die ältere Schwester und das schwarze Schaf der Familie, die sich ebendieser Familie und ihren Verstrickungen von Anfang an entzieht, unnahbar ist und schließlich die Koffer packt und weggeht.
In einem Moment der Klarsichtigkeit erkennt die Mutter, dass ihre Familie aussehe „wie die Parodie einer bundesdeutschen Kernfamilie“, bei der jedoch „nichts in Ordnung sei, und man könne von außen erkennen, welches Unglück hier schlummerte“.
Der Vater, ein Israeli, der sich weigert, die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen, ist enttäuscht darüber, dass seine Familie „kein bisschen so war, wie er sie sich vorgestellt hatte, bevor sie existierte.“
Schon bald existiert sie nicht mehr, denn die einzelnen Familienmitglieder verschwinden oder sterben einer nach dem anderen; sie ertrinken, laufen davon, haben Autounfälle oder Krebs, und zurück bleibt Rosa, die Harmoniesüchtige, die in diesem Familiensystem die mit Abstand undankbarste Rolle innehat.
„[…] und das waren die Rollen, die wir in dieser Familie hatten, ich versuchte, alle zu versöhnen, Nadja brachte alle auseinander, und woher das kam, wusste ich allerdings auch nicht, Herkunft, Geschichte, Charakter?“, lässt von Suffrin ihre Protagonistin Rosa müde und resigniert erzählen – es sind solche Schlüsselsätze, in denen das, was den ganzen Roman über unausgesprochen bleibt, durchschimmert – denn natürlich schwingt in diesem neurotischen Familiensystem die Schuld-Trauma-Verstrickung zweier Völker immer mit.
Die Mutter, die aus einer Familie voller Nazi-Sympathisanten kommt und als Erwachsene mit beinahe manischem Eifer zur Antifaschistin wird; der Vater, Sohn zweier Shoah-Überlebender, dessen latente Depression wie eine Glasglocke über der Familie hängt und die beiden deutsch-israelischen Töchter, die aus der Ehe ihrer Eltern, die eigentlich eine Trauma-Bonding-Beziehung ist, nicht schlau werden – Dana von Suffrin lässt all das Ungesagte ungesagt, bleibt vage, andeutungsvoll und in diesem Vagen und Unerzählten steckt all das, was man wissen muss.
Die Autorin weiß, was sie sagen will und nicht sagt, und wir Leser:innen wissen, was sie sagen will und nicht sagt, und wir wissen, dass sie weiß, dass wir wissen, und das macht uns zu einer Gemeinschaft der Wissenden, die verstehen, dass hinter dem assoziativen Schreibstil und der Komik, die in einzelnen Szenen aufploppt, ein Abgrund liegt, den wir kennen, weil wir Eingeweihte sind, weil wir geschichtskundig sind, weil wir vielleicht sogar Nachkommen sind, von wem auch immer. Und so nicken wir gemeinsam mit der Autorin und wir pressen die Lippen aufeinander zu einem traurigen und wissenden Lächeln, das ausdrücken soll, dass wir die Tragik hinter der Komik sehen können.
Der Geniestreich, den Dana von Suffrin in Nochmal von vorne aus dem Ärmel schüttelt, ist der, dass ihre Figuren allesamt Ausweichmanöver vollführen, um sich mit dem eigenen und eigentlichen Drama nicht auseinandersetzen zu müssen.
So ist es ausgerechnet die urbayerische Mutter Veronika, die ihrem Mann und ihren Kindern das Leben und das Trauma der jüdischen Großmutter Zsazsa erklärt (oder sollte man sagen germansplaint?) – aus der Metaperspektive der Historikerin versteht sich. In dieser Szene erfahren wir beiläufig in einem Nebensatz, dass die Eltern Zsazsas und damit die Urgroßeltern der Ich-Erzählerin Rosa in Auschwitz ermordet wurden – es ist diese Beiläufigkeit, dieses Matter-Of-Fact-Erzählen, das den Roman zu etwas ganz Großem macht.
Doch schon in der nächsten Szene wird deutlich, dass das Trauma dieser Familie nicht nur jüdisch ist, sondern auch deutsch, denn wieder ist es die Mutter, die mit ihren Töchtern Dokumentationen im Fernsehen ansieht und ihnen geradezu wahnhaft von der Shoah erzählt, und – man ahnt es bereits – auch von der Rolle, die ihre eigenen deutschen Eltern respektive Großeltern in dieser Gemengelage spielten. Der Vater hingegen greift gähnend zur Fernbedienung und schaltet einfach aus: „Genug mit diesem Blödsinn, gehen wir schlafen.“
Aber natürlich gibt es in Familien wie dieser kein Entkommen, schon gar nicht vor der Vergangenheit, denn die bricht sich Bahn in der Sprachlosigkeit der langsam dement werdenden jüdischen Großmutter Zsazsa, die sich beklagt, dass die beiden Enkelinnen „keine Ahnung hätten, wo sie überhaupt herkämen“. Also beginnt sie – nochmal von vorne, kommt aber über den Beginn nicht hinaus, denn der Schrecken manifestiert sich im Fehlen der Worte.
Nun wiederum schafft es Dana von Suffrin aber, gerade diese Sprachlosigkeit, diese Nullstelle des Entsetzens, in Worte zu fassen, nicht nur einmal, sondern viele Male, und sie tut dies mit einem fein subtilen Witz, und einer Wortgewandtheit, die im scharfen Gegensatz zu der alles umfassenden Traurigkeit steht, der die Figuren allesamt unterliegen:
„Ich lüpfe jedem Gespenst das Leintuch und entdecke darunter etwas unendlich Witziges, und es ist fast so wie bei meiner Mutter, die auch nie den Schrecken für sich stehen lassen konnte.“, sagt die Protagonistin Rosa und man meint, die Autorin selbst sprechen zu hören, wenn sie diese Geschichte in eine Art „traurigen Heiterkeitsrausch“ gipfeln lässt, die ihre Leser:innen atemlos und ja, auch ein wenig hilflos zurücklässt.
Dana von Suffrin hat mit Nochmal von vorne einen leisen und großen Roman geschrieben, ein Kammerspiel von höchster Qualität.