Rezension zu Natalie Buchholz' Roman „Grand-papa“
Wie relevant ist die Frage danach, ob eine Geschichte wahr ist? Diese Frage verbirgt sich zwischen den Zeilen von Natalie Buchholz‘ neuem Roman Grand-papa. Es sind zwei Länder, zwei Sprachen, und mindestens zwei Wahrheiten, die die Autorin in ihrer Erzählung zu vereinen versucht. Natalie Buchholz erzählt in ihrem neuen Roman von ihrem „Grand-papa“, den sie als einen Mann kennenlernte, der sich, vielleicht auch im Gegensatz zu seiner jungen Enkelin, seiner Identität sicher zu sein schien. Die Autorin schreibt nun Jahre später ein Buch, mit einem eindeutig autobiographischen Einschlag. Die inzwischen erwachsen gewordene Enkelin, die bereits selbst Mutter ist, schreibt einen Roman (ist es der Roman, den auch der Leser vor sich hat?) und schenkt ihrem Großvater, der der Familie seine Memoiren hinterließ, ihre Aufmerksamkeit.
*
Ganz im Sinne der Erinnerung, beginnt der Roman mit einer Rückbewegung. Die Ich-Erzählerin, die mindestens eine Teilmanifestation der Autorin selbst ist, macht Ferien im Haus ihrer Eltern in der Nähe von München und nimmt sich zum ersten Mal die Zeit die Memoiren ihres französischen Großvaters zu lesen. Der Leser wird zum Beobachter des Prozesses von Lesen, Schreiben und Reflexion. Ausgehend von den drei im Elternhaus gegenwärtigen Generationen ihrer Familie, beginnt die Erzählerin die beiden vorangegangenen Generationen zu rekonstruieren. Auf der Suche nach der Menschlichkeit des Großvaters wird dieser zu einer Romanfigur. Erst durch diese Fiktionalisierung der realen und bekannten Person, ist die Erzählerin in der Lage sich ihrem Großvater anzunähern. Bis zu dem Punkt, an dem zumindest seine Urne, eine Funktion und damit auch eine Berechtigung, im Leben der Familie erhält.
In der Erzählung wechseln sich Szenen der Gegenwart ab mit kurzen Sequenzen der Vergangenheit, die im Verlauf des Romans immer mehr Aufschluss über die persönliche Geschichte und das Leben des Großvaters geben. Mit nur wenigen Worten und Sätzen gelingt es Natalie Buchholz sehr eindrückliche Bilder zu erschaffen. Die Szenen sind so eindeutig, dass der Leser innehält und an verklärte Erinnerungen seines eigenen Lebens denken muss. Erinnerungen an Ereignisse, die womöglich zu schön sind, um wahr zu sein. Und auch der Roman stellt die Frage: Ist das wirklich so passiert?
Es gibt mehr als eine Wahrheit
Im Zuge der Rekonstruktion der Vergangenheit ihres Großvaters beginnt die Erzählerin, aus dem Stoff, den die Memoiren des Großvaters hergeben, ihre eigene Geschichte zu weben. Besonders an den Stellen, an denen das Vermächtnis Lücken aufweist oder die eigentlichen, lebendigen Erinnerungen zu fehlen scheinen. Doch just in den Momenten, in denen die Erzählung die Erinnerungen zu dominieren beginnt und der Leser sich in den Bildern der Vergangenheit zu verlieren droht, ertönt eine Stimme, die das Schauspiel abrupt zurück in die Gegenwart katapultiert. Es ist die Stimme der Mutter, die dazwischen funkt, richtig stellt und anmerkt, dass nicht der Großvater selbst, sondern die Großmutter, die „wahnsinnig schnell tippen [konnte], sogar Steno“, die Erinnerungen des Großvaters in ihre finale Form gebracht hätte. An anderer Stelle korrigiert sie eine Erinnerung der Erzählerin selbst:
„Übrigens, sagt meine Mutter, habe ich die Mirabellenkerne damals in deinen Hosentaschen gefunden, Du hattest sie vergessen. Als ich sie dir brachte, hast du sie genommen und weggeworfen. Das solltest du der Vollständigkeit halber erwähnen.“
Vermutlich bleibt es unmöglich eine solche Vollständigkeit zu erreichen. Dennoch gelingt es der Erzählerin Stück für Stück Bilder und Eindrücke, die ihr von ihrem Großvater und ihrer Familie geblieben waren, anzupassen. Ein Großvater, der seine Tochter für immer verachtete, weil sie einen Deutschen geheiratet hatte. Ein junger Franzose, der perfekt deutsch spricht und in blauer Uniform Soldat der deutschen Marine ist. Anatol, der sich mit Reni verlobt und Anatole, der Renée heiratet. Der französische Nationalstolz ihres Grand-papas bröckelt und unter diesem kommt ein Mann zum Vorschein, der dazu gezwungen wurde zwischen zwei Nationen zu stehen. Der keine Wahl hatte und sich irgendwann doch entschied.
Was bedeutet es, sich zu erinnern?
Die Erzählung spielt mit den Spannungen, die zwischen einer Erinnerung und den tatsächlichen Ereignissen bestehen. Damit, was passiert, wenn eine Geschichte immer und immer wieder erzählt wird und was zugunsten dieser einen Variante verloren geht und womöglich in Vergessenheit gerät. Über die Dauer des Romans bahnt sich das Verdrängte immer weiter seinen Weg an die Oberfläche. Was diesen Weg jedoch ausmacht ist, dass er ein unfreiwilliger und manchmal auch unfreiwillig komischer ist. In diese Kategorie fällt die Szene, in der die Generationen, der Tod und das Leben, besonders unsanft aufeinanderprallen: „Sofort sind die Finger im Mund meiner Tochter. Ich fahre über ihre Zunge, als könnte ich tatsächlich noch etwas von der Asche meines Großvaters entfernen.“ Die kleine Tochter der Erzählerin isst versehentlich die Asche ihres Großvaters aus dessen Urne, die zwischen den Blumentopfen auf dem Fensterbrett stehend, auch nicht von diesen zu unterscheiden ist. Das Ereignis ist wie ein Ruf, der auf einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit drängt.
Der Begriff Mémoires bedeutet im Französischen nichts Anderes als Erinnerungen. Und doch gleichen diese speziellen Mémoires des Großvaters, eher einem persönlichen Geschichtsbuch. Daten und Ereignisse, Ortswechsel und Lebensstationen finden ihren Platz. Natalie Buchholz‘ Roman könnte als ein Sekundärtext, eine Lektüreerfahrung und Verarbeitung dieser Memoiren aufgefasst werden. Der Leser hat keinen Zugriff auf den Primärtext, diesen ersten Ausgangspunkt des Romans. Umso mehr findet der Leser im Roman den Prozess der Verarbeitung wieder. Ihm wird gespiegelt, was es bedeutet, wenn gewisse Informationen nicht schwarz auf weiß zu finden sind, oder nur ein Endprodukt zur Verfügung steht.
Vielleicht können so auch die teilweise beinahe kitschigen Szenen, die sich in der Vergangenheit abspielen, in ein Verhältnis gesetzt werden. Sie erscheinen so nur als eine Gegenbewegung zu der unverhältnismäßig sachlichen Faktenlastigkeit der Memoiren. Gleichzeitig spiegelt sich in den romantisierten Bildern und Abschnitten genau das wider, was der Text selbst kommentiert. Die Frage nach der Authentizität einer Erinnerung, und damit auch einer Erzählung, einer Geschichte oder sogar der Geschichte eines ganzen Landstrichs.
Die Aufarbeitung der Familiengeschichte der Autorin steht hier stellvertretend für die Aufarbeitung der Einzelschicksale vieler elsässicher und lothringscher Familien. Die Geschichte einer ganzen Region, die zwischen zwei Nationen hin- und hergeschoben wurde. Der Großvater Anatole ist die Verkörperung dieses Schicksals. Als Protagonist der Vergangenheit ist er gezwungen, sich unter den äußeren Einflüssen als Mensch selbst zu finden. Er ist und bleibt wohl eine ambivalente Figur. Diese Ambivalenz aber ist es, die ihn erst zu einem Menschen und damit für seine Enkelin greifbar macht.
Der Fokus auf der eigenen Geschichte
Wenn man ein weiteres Buch vor sich hat, das von der Aufarbeitung und Erzählung einer Familiengeschichte handelt, fragt man sich schnell, woher dieses scheinbar zügellose Bedürfnis sich der Vergangenheit zuwenden zu wollen kommt. Doch, was Natalie Buchholz‘ Roman zeigt, ist, dass man diesen Vorgang unterschätzt. Wie sehr uns die Vergangenheit beeinflusst und wie wenig wir doch über sie wissen. Eine Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit ist immer auch eine Auseinandersetzung mit uns selbst und der Gegenwart in der wir uns befinden. Es bleibt viel mehr zurück, als man auf den ersten Blick sieht und eine Vergegenwärtigung in der Erzählung ist eines der schönsten Mittel, um zu einem besseren Verständnis zu gelangen. Natalie Buchholz‘ Roman wird somit beinahe zu einer Anleitung und Aufforderung an den Leser, sich auch seiner eigenen Vergangenheit mit Liebe und Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Rezension zu Natalie Buchholz' Roman „Grand-papa“ >
Wie relevant ist die Frage danach, ob eine Geschichte wahr ist? Diese Frage verbirgt sich zwischen den Zeilen von Natalie Buchholz‘ neuem Roman Grand-papa. Es sind zwei Länder, zwei Sprachen, und mindestens zwei Wahrheiten, die die Autorin in ihrer Erzählung zu vereinen versucht. Natalie Buchholz erzählt in ihrem neuen Roman von ihrem „Grand-papa“, den sie als einen Mann kennenlernte, der sich, vielleicht auch im Gegensatz zu seiner jungen Enkelin, seiner Identität sicher zu sein schien. Die Autorin schreibt nun Jahre später ein Buch, mit einem eindeutig autobiographischen Einschlag. Die inzwischen erwachsen gewordene Enkelin, die bereits selbst Mutter ist, schreibt einen Roman (ist es der Roman, den auch der Leser vor sich hat?) und schenkt ihrem Großvater, der der Familie seine Memoiren hinterließ, ihre Aufmerksamkeit.
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Ganz im Sinne der Erinnerung, beginnt der Roman mit einer Rückbewegung. Die Ich-Erzählerin, die mindestens eine Teilmanifestation der Autorin selbst ist, macht Ferien im Haus ihrer Eltern in der Nähe von München und nimmt sich zum ersten Mal die Zeit die Memoiren ihres französischen Großvaters zu lesen. Der Leser wird zum Beobachter des Prozesses von Lesen, Schreiben und Reflexion. Ausgehend von den drei im Elternhaus gegenwärtigen Generationen ihrer Familie, beginnt die Erzählerin die beiden vorangegangenen Generationen zu rekonstruieren. Auf der Suche nach der Menschlichkeit des Großvaters wird dieser zu einer Romanfigur. Erst durch diese Fiktionalisierung der realen und bekannten Person, ist die Erzählerin in der Lage sich ihrem Großvater anzunähern. Bis zu dem Punkt, an dem zumindest seine Urne, eine Funktion und damit auch eine Berechtigung, im Leben der Familie erhält.
In der Erzählung wechseln sich Szenen der Gegenwart ab mit kurzen Sequenzen der Vergangenheit, die im Verlauf des Romans immer mehr Aufschluss über die persönliche Geschichte und das Leben des Großvaters geben. Mit nur wenigen Worten und Sätzen gelingt es Natalie Buchholz sehr eindrückliche Bilder zu erschaffen. Die Szenen sind so eindeutig, dass der Leser innehält und an verklärte Erinnerungen seines eigenen Lebens denken muss. Erinnerungen an Ereignisse, die womöglich zu schön sind, um wahr zu sein. Und auch der Roman stellt die Frage: Ist das wirklich so passiert?
Es gibt mehr als eine Wahrheit
Im Zuge der Rekonstruktion der Vergangenheit ihres Großvaters beginnt die Erzählerin, aus dem Stoff, den die Memoiren des Großvaters hergeben, ihre eigene Geschichte zu weben. Besonders an den Stellen, an denen das Vermächtnis Lücken aufweist oder die eigentlichen, lebendigen Erinnerungen zu fehlen scheinen. Doch just in den Momenten, in denen die Erzählung die Erinnerungen zu dominieren beginnt und der Leser sich in den Bildern der Vergangenheit zu verlieren droht, ertönt eine Stimme, die das Schauspiel abrupt zurück in die Gegenwart katapultiert. Es ist die Stimme der Mutter, die dazwischen funkt, richtig stellt und anmerkt, dass nicht der Großvater selbst, sondern die Großmutter, die „wahnsinnig schnell tippen [konnte], sogar Steno“, die Erinnerungen des Großvaters in ihre finale Form gebracht hätte. An anderer Stelle korrigiert sie eine Erinnerung der Erzählerin selbst:
„Übrigens, sagt meine Mutter, habe ich die Mirabellenkerne damals in deinen Hosentaschen gefunden, Du hattest sie vergessen. Als ich sie dir brachte, hast du sie genommen und weggeworfen. Das solltest du der Vollständigkeit halber erwähnen.“
Vermutlich bleibt es unmöglich eine solche Vollständigkeit zu erreichen. Dennoch gelingt es der Erzählerin Stück für Stück Bilder und Eindrücke, die ihr von ihrem Großvater und ihrer Familie geblieben waren, anzupassen. Ein Großvater, der seine Tochter für immer verachtete, weil sie einen Deutschen geheiratet hatte. Ein junger Franzose, der perfekt deutsch spricht und in blauer Uniform Soldat der deutschen Marine ist. Anatol, der sich mit Reni verlobt und Anatole, der Renée heiratet. Der französische Nationalstolz ihres Grand-papas bröckelt und unter diesem kommt ein Mann zum Vorschein, der dazu gezwungen wurde zwischen zwei Nationen zu stehen. Der keine Wahl hatte und sich irgendwann doch entschied.
Was bedeutet es, sich zu erinnern?
Die Erzählung spielt mit den Spannungen, die zwischen einer Erinnerung und den tatsächlichen Ereignissen bestehen. Damit, was passiert, wenn eine Geschichte immer und immer wieder erzählt wird und was zugunsten dieser einen Variante verloren geht und womöglich in Vergessenheit gerät. Über die Dauer des Romans bahnt sich das Verdrängte immer weiter seinen Weg an die Oberfläche. Was diesen Weg jedoch ausmacht ist, dass er ein unfreiwilliger und manchmal auch unfreiwillig komischer ist. In diese Kategorie fällt die Szene, in der die Generationen, der Tod und das Leben, besonders unsanft aufeinanderprallen: „Sofort sind die Finger im Mund meiner Tochter. Ich fahre über ihre Zunge, als könnte ich tatsächlich noch etwas von der Asche meines Großvaters entfernen.“ Die kleine Tochter der Erzählerin isst versehentlich die Asche ihres Großvaters aus dessen Urne, die zwischen den Blumentopfen auf dem Fensterbrett stehend, auch nicht von diesen zu unterscheiden ist. Das Ereignis ist wie ein Ruf, der auf einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit drängt.
Der Begriff Mémoires bedeutet im Französischen nichts Anderes als Erinnerungen. Und doch gleichen diese speziellen Mémoires des Großvaters, eher einem persönlichen Geschichtsbuch. Daten und Ereignisse, Ortswechsel und Lebensstationen finden ihren Platz. Natalie Buchholz‘ Roman könnte als ein Sekundärtext, eine Lektüreerfahrung und Verarbeitung dieser Memoiren aufgefasst werden. Der Leser hat keinen Zugriff auf den Primärtext, diesen ersten Ausgangspunkt des Romans. Umso mehr findet der Leser im Roman den Prozess der Verarbeitung wieder. Ihm wird gespiegelt, was es bedeutet, wenn gewisse Informationen nicht schwarz auf weiß zu finden sind, oder nur ein Endprodukt zur Verfügung steht.
Vielleicht können so auch die teilweise beinahe kitschigen Szenen, die sich in der Vergangenheit abspielen, in ein Verhältnis gesetzt werden. Sie erscheinen so nur als eine Gegenbewegung zu der unverhältnismäßig sachlichen Faktenlastigkeit der Memoiren. Gleichzeitig spiegelt sich in den romantisierten Bildern und Abschnitten genau das wider, was der Text selbst kommentiert. Die Frage nach der Authentizität einer Erinnerung, und damit auch einer Erzählung, einer Geschichte oder sogar der Geschichte eines ganzen Landstrichs.
Die Aufarbeitung der Familiengeschichte der Autorin steht hier stellvertretend für die Aufarbeitung der Einzelschicksale vieler elsässicher und lothringscher Familien. Die Geschichte einer ganzen Region, die zwischen zwei Nationen hin- und hergeschoben wurde. Der Großvater Anatole ist die Verkörperung dieses Schicksals. Als Protagonist der Vergangenheit ist er gezwungen, sich unter den äußeren Einflüssen als Mensch selbst zu finden. Er ist und bleibt wohl eine ambivalente Figur. Diese Ambivalenz aber ist es, die ihn erst zu einem Menschen und damit für seine Enkelin greifbar macht.
Der Fokus auf der eigenen Geschichte
Wenn man ein weiteres Buch vor sich hat, das von der Aufarbeitung und Erzählung einer Familiengeschichte handelt, fragt man sich schnell, woher dieses scheinbar zügellose Bedürfnis sich der Vergangenheit zuwenden zu wollen kommt. Doch, was Natalie Buchholz‘ Roman zeigt, ist, dass man diesen Vorgang unterschätzt. Wie sehr uns die Vergangenheit beeinflusst und wie wenig wir doch über sie wissen. Eine Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit ist immer auch eine Auseinandersetzung mit uns selbst und der Gegenwart in der wir uns befinden. Es bleibt viel mehr zurück, als man auf den ersten Blick sieht und eine Vergegenwärtigung in der Erzählung ist eines der schönsten Mittel, um zu einem besseren Verständnis zu gelangen. Natalie Buchholz‘ Roman wird somit beinahe zu einer Anleitung und Aufforderung an den Leser, sich auch seiner eigenen Vergangenheit mit Liebe und Aufmerksamkeit zuzuwenden.