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22.11.2024, 09:23 Uhr
Dagmar Leupold
Rezensionen

Besprechung des Handbuches der Literaturen aus Czernowitz und der Bukowina

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Das Handbuch der Literaturen aus Czernowitz und der Bukowina behandelt die multilinguale Literaturlandschaft Bukowina mit ihrem zentralen Ort Czernowitz (Cernăuţi, Černivci, Czerniowce) vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Unter Berücksichtigung unterschiedlicher kultureller, konfessioneller und politischer Orientierungen, Prägungen und Interessen nimmt es sowohl die nationalphilologischen Traditionen und Kanonisierungen als auch die komplexen und kontinuierlichen Austausch-, Übersetzungs- und Verflechtungsprozesse in den Blick. Dagmar Leupold gibt einen kritischen Überblick über das umfangreiche Nachschlage- und Lesewerk aus dem Jahr 2023.

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Dass Handbuch nicht zwingend von handlich kommt, belegt das großformatige, gut 600 Seiten starke, im letzten Jahr erschienene Handbuch der Literaturen aus Czernowitz und der Bukowina. Trotz des Umfangs bleibt es dank einer klaren inhaltlichen Strukturierung und Unterteilung in sechs Schwerpunkte übersichtlich: Teil I behandelt die Literatur- und Forschungsgeschichte der Region, Teil II widmet sich der Theorie, Teil III allgemeinen Kontexten, wie z.B. der Mehrsprachigkeit, den Verlagen und dem Buchhandel. Der vierte Teil befasst sich mit der literaturgeschichtlichen Entwicklung und ihren Akteuren, Teil V stellt die repräsentativen Autorinnen und Autoren der Bukowina vor, darunter viele, die hierzulande kaum bekannt oder vergessen sind, überstrahlt von den beiden berühmtesten Vertretern Rose Ausländer und Paul Celan. Im sechsten und letzten Teil werden Themen und Motive zusammengestellt, der „Mythos“ Czernowitz-Bukowina wird in profunden Analysen kritisch nach seiner Berechtigung befragt.

Der Vielfalt der Beiträge, Themen und akademischen Affiliationen der Autorinnen und Autoren entspricht inhaltlich eine weit aufgefächerte Betrachtung des hervorstechendsten Merkmals der Bukowina: ihrer Inter- bzw. Transkulturalität. Sie war ein klassischer „Melting Pot“. Rumänen, Deutsche, Ruthenen (Ukrainer) und Juden siedelten dort über Jahrhunderte, je nach Epoche sowohl in friedlichem Miteinander als auch unter gewaltsamer Repression einzelner Bevölkerungsgruppen und kriegerischer Auseinandersetzungen. Primär sei der Band, erfahren wir, als „Materialsammlung“ zu verstehen, als eine Vermessung von „Austausch und Verflechtung“:

In den Blick genommen werden somit Erinnerungskonkurrenzen und Formen des Ko-Erinnerns, aus denen sich, in Verschränkung von universaler und partikularer Perspektive, ein transkulturelles Konzept der Bukowina ableiten ließe.

Kurzer historischer Abriss

Die Beiträge umfassen einen Zeitraum von gut 250 Jahren, von 1774/75 bis heute, gemeinsamer Nenner der behandelten Texte – die neben literarischen auch essayistische, publizistische und wissenschaftliche einschließen – ist der Bezug zur Bukowina als „Verflechtungsregion“. Es ist eine bewegte Geschichte, die von den Beitragenden als „Histoire croissée“, also als multiperspektivische Geschichtsschreibung transnationaler Geschichte betrieben wird. „Das „Land der Buchenwälder“, wie die Übersetzung lautet, gehörte von 1774 bis 1849 zu Österreich, 1849 wurde es ein eigenständiges Herzogtum mit den Amtssprachen Deutsch, Rumänisch und Ukrainisch. 1867 begannen mit der Judenemanzipation wirtschaftliche und kulturelle Blütejahre, sechzig Prozent der mehr als hunderttausend Einwohner Czernowitz‘ waren Juden, sie stellten das Bürgertum. Ein Bürgertum, das kosmopolitisch und polyglott ausgerichtet war und sich mit Wien und Prag durchaus messen konnte. Nach dem Pariser Friedensvertrag von 1919 fiel die Bukowina an das Königreich Rumänien. Ab 1924 war Rumänisch die alleinige Sprache, das sich ausbreitende Ressentiment gegen deutsche Kultur zeigte sich beispielsweise in der Entfernung eines Schiller-Denkmals in Czernowitz. Dennoch blieb auch das rumänische Cernặuṭi bis 1940 eine überwiegend deutschsprachige, jüdische Stadt – in der 1920 der Dichter Paul Celan geboren wurde.

Im Zweiten Weltkrieg wird die Bukowina – zuvor, in Celans Worten, „eine Gegend, in der Menschen und Bücher leben“ –, zu einer der von dem Historiker Timothy Snyder als „Bloodland“ bezeichneten Regionen, zerrieben zwischen zwei Terrorstaaten. Das „buntschichtige“ (Rose Ausländer) Traumland verwandelt sich – nach der Analyse der Literaturwissenschaftlerin Marianne Windsperger, die zu Literatur und Shoah, Transnationalität und Exilliteratur forscht –, in eine „Traum(a)landschaft“.

Der Molotow-Ribbentrop-Pakt aus dem Jahr 1940 hatte die Aufteilung in Nord- und Südbukowina zur Folge, der nördliche Teil sowie Bessarabien wurden der ukrainischen Sowjetrepublik zugeschlagen, der südliche Rumänien. Die deutsche Bevölkerung wurde umgesiedelt, die sowjetischen Behörden organisierten umfassende Deportationen von Teilen der jüdischen, rumänischen und ukrainischen Bevölkerung nach Sibirien, mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung wurde in den Lagern Transnistriens oder durch die SD-Einsatzgruppe der Nationalsozialisten ermordet.

Literatur

Vermutlich werden nur wenige Leserinnen und Leser das Handbuch in Gänze rezipieren. Es eignet sich, neben seiner bereits angeführten Funktion als Materialsammlung, auch vortrefflich als Nachschlagewerk. Ein Nachschlagewerk, in dem man eigenen Interessen und Schwerpunkten nachgehen kann. Ausführlich wird etwa die Rolle der Presse in den unterschiedlichen Bevölkerungen behandelt, ebenso die der Vereine und Institutionen, oder es werden, allgemeiner, kulturgeschichtliche Entwicklungen aufgezeigt. Doch in der beeindruckenden Zusammenschau der multikulturellen, vielsprachigen und religiös heterogenen Landschaft der einstigen Bukowina, spielt die Literatur als Spiegel derselben – in Eigen- und Fremdbildern – eine herausragende Rolle. Die literarische Nachkriegsproduktion fügte sich bis in die 1980er-Jahre weitgehend dem Diktat des sozialistischen Realismus, dissidentische Stimmen, Autorinnen und Autoren nicht-konformer Literatur waren ausschließlich in selbstgeschaffenen, „Samisdat“-Nischen sicht- und hörbar. Von einer spezifischen Literatur der Bukowina kann sicherlich nach dem Zweiten Weltkrieg respektive nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht mehr gesprochen werden. Dennoch lohnt ein Blick nicht nur in die reiche literarische Produktion der Vorkriegs- und Zwischenjahre, sondern auch ein genaueres Hinsehen bei den nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Autoren. Drei Literaten will ich exemplarisch herausgreifen: Karl Emil Franzos (1847-1904), Ilana Shmueli (1924-2011) und die 1959 geborene ukrainische Autorin Maria Matios.

Karl Emil Franzos

Obwohl Franzos bereits als Student Czernowitz verließ, blieb seine Herkunftsregion auch in den späteren Lebensorten Graz, Budapest und Wien bestimmend für sein literarisches und publizistisches Werk. Ursprünglich Jurist, wandte er sich aufgrund von politischen Differenzen – er war zeit seines Lebens deutsch-national gesinnt – vom Staatsdienst ab und der Schriftstellerei und dem Journalismus zu. Mitte der 1870er-Jahre erschienen zunächst seine Reisefeuilletons, ein damals außerordentlich beliebtes Genre, unter dem Titel: Aus Halbasien. Culturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrußland und Rumänien. Daran anschließend wurde der Zyklus von Ghetto Geschichten Die Juden von Barnow veröffentlicht. Beide Werke waren wirkmächtig, erfuhren zahlreiche Auflagen und wurde in sechzehn Sprachen übersetzt, darunter ins Hebräische und Jiddische.

Franzos widmete sich neben seiner eigenen literarischen Arbeit auch dem Werk Georg Büchners, er besorgte die erste – nicht unumstrittene – kritische Gesamtausgabe, die 1879 erschien. Franzos ist wohl die kuriose Schreibweise Wozzeck statt Woyzeck zuzuordnen.

1887 erfüllte er sich mit dem Umzug nach Berlin einen langgehegten Wunsch; für die von ihm ein Jahr zuvor gegründete Literaturzeitschrift Deutsche Dichtung konnte er prominente Mitarbeiter wie Gustav Freytag und Marie von Ebner-Eschenbach gewinnen. 1905 erschien posthum sein bekanntestes Buch, der Roman Der Pojaz. Das Verhältnis von Deutschtum und Judentum ist zentrales Thema von Franzos‘ gesamten Werk, er verstand sich als Deutscher jüdischen Glaubens. Die Bukowina ist für ihn – und in seinem Werk – das Beispiel eines geglückten Miteinanders unterschiedlicher Nationalitäten, Konfessionen und Sprachen, allerdings immer mit der deutschen Kultur als Leitkultur. In seinen letzten Lebensjahren zog er angesichts des wachsenden Antisemitismus ein düsteres Resümee, sein Traum von einer zwar spannungsvollen, aber produktiven Beziehung zwischen Deutsch- und Judentum hielt, das erkannte er, der Realität in der Habsburgermonarchie der Jahrhundertwende nicht stand.

Ilana Shmueli

Ilana Shmueli wurde als Liane Josephine Schindler in eine wohlhabende großbürgerlich-jüdische Familie in Czernowitz geboren, der Vater betrieb ein florierendes Holzgeschäft. Die Familie sprach Deutsch, aber Shmueli beherrschte auch Rumänisch, Französisch und Hebräisch. Nach der Annexion der Nordbukowina 1940 durch die Sowjetunion kam es zur Enteignung des „Kapitalisten“ und „Zionisten“ Schindler, Ilana Shmueli wechselte auf die Jiddische Schule, eine wichtige Veränderung in ihrem Leben, wie sich herausstellen sollte. Nach der Rückeroberung der Nordbukowina durch Rumänien 1941 wurde der Großteil der jüdischen Bevölkerung Czernowitz‘ nach Transnistrien deportiert, die Familie Schindler erhielt jedoch eine Ausnahmegenehmigung, die es ihr erlaubte in Czernowitz zu bleiben. In diese Zeit fällt die Begegnung Shmuelis mit dem vier Jahre älteren Paul Celan (damals noch Paul Antschel), es entstand eine enge, lebenslange Freundschaft und Liebesbeziehung. 1944, nach der erneuten Besetzung durch die Sowjetunion, gelang es Shmueli nach Israel auszuwandern. Sie setzte in Tel Aviv das bereits im Ghetto begonnene Musikstudium fort, heiratete 1953 den Musikwissenschaftler Herzl Shmueli. Nach dem Studium arbeitete sie als Sozialpädagogin – eine Entscheidung, die mit ihren traumatischen Erfahrungen im Unabhängigkeitskrieg (1948) zusammenhängen, an dem sie als Soldatin der Israelischen Armee teilnahm.

1965 kam es bei einer Europareise in Paris zu einer Wiederbegegnung mit Celan, zu einer weiteren und entscheidenden vier Jahre später bei der Reise Celans nach Israel. Celans zehrende und komplexe Auseinandersetzung mit dem Judentum verursachte bei Shmueli einen Bruch in ihrer affirmativen Haltung zu Israel. Die nach der zweiten Begegnung wieder aufgenommene Liebesbeziehung löste einen intensiven Briefwechsel aus, die letzte Begegnung, erneut in Paris, fand 1970 statt. Das literarische Schaffen Shmuelis setzt nach ihrer Berufstätigkeit ein, ab 1984 veröffentlichte sie Gedichte auf Hebräisch und Deutsch (u.a. Zwischen dem Jetzt und dem Jetzt, Aachen 2007) und begann, ihre Erinnerungen an die Czernowitzer Kindheit (Ein Kind aus guter Familie. Czernowitz 1924-1944, Aachen 2006) und an die Begegnung mit Paul Celan (Sag, dass Jerusalem ist. Über Paul Celan: Oktober 1969 – April 1970, Aachen 2010) niederzuschreiben.

Shmuelis Schriften sind ein wichtiges Zeugnis für die kulturelle Wirkmächtigkeit der verschwundenen Welt der Bukowina, die auch nach dem Niedergang der Habsburgischen Monarchie und den Verheerungen durch den Zweiten Weltkrieg – und selbst im Exil – noch Strahlkraft besitzt.

Maria Matios

Maria Matios gehört, wie auch der hierzulande sehr bekannte Juri Andruchowytsch, zu einer Generation ukrainischer Schriftsteller, die ab den 1980er-Jahren publizieren und große Beachtung finden. Ihre Werke sind geprägt von der Erfahrung mit dem totalitären Unterdrückungssystem der damaligen UdSSR, von Zensur, Repression und sprachlicher Gängelung. Matios debütierte 1982 mit einem Gedichtband, seit 1992 veröffentlichte sie zahlreiche Erzählungsbände und Romane (nur zwei davon sind ins Deutsche übertragen: Darina, die Süße, Innsbruck 2013 und Mitternachtsblüte, Innsbruck 2015) und zählt damit zu den produktivsten ukrainischen Schriftstellern. Matios hat insofern eine Sonderstellung, als sie nicht nur Künstlerin ist, sondern auch Politikerin, in den 2010er-Jahren war sie Abgeordnete des ukrainischen Parlaments. Die Themen ihrer Literatur sind unbequem, denn sie verweigert bei der Behandlung gewaltvoller Konflikte, historischer Traumata, feministischer Perspektiven und sozialer Zurücksetzung einfache Antworten, entsprechend intensiv und kontrovers fällt die Rezeption ihres Werkes aus. Es steht für eine Erinnerungsarbeit, die sich ihrer politischen und sozialen Verantwortung stellt: „… Erinnerung ist permanente Arbeit. Vernachlässigen wir diese, dann entfesseln die Lebenden Kriege.“

Matios‘ Credo könnte man durchaus als programmatisch für das vorliegende Handbuch der Literaturen aus Czernowitz und der Bukowina verstehen. Es ist kein Buch der Taxonomien, sondern es eröffnet den Blick auf eine vielfältige Landschaft, in der die Leserinnen und Leser eingeladen werden, jenseits der ausgetretenen Wege neue alte Pfade zu entdecken – in kundiger Begleitung.

 

Handbuch der Literaturen aus Czernowitz und der Bukowina. Hg. von Andrei Corbea-Hoiṣie, Steffen Höhne, Oxana Matiychuk, Markus Winkler. J.B. Metzler, Berlin 2023, 655 S., ISBN: 978-3476059727, 99,99 €

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