Besprechung des im Herbst 2024 erschienenen Romans "Videotime" von Roman Ehrlich
Videotime ist eine Geschichte in auffallend schöner Sprache über die Gesichter und Leerstellen, die sich hinter unseren Masken und Selbstbildern verbergen, schreibt der Verlag S. Fischer über den neuen Roman von Autor Roman Ehrlich. Abraham Katz hat ihn gelesen und befindet: ein großartiges Buch. Videotime steht auf der Shortlist für den Wilhelm-Raabe-Preis 2024.
*
In einem „Familienroman“, wie es der Untertitel listig ankündigt, erwartet man, dass die „Helden“ Väter, Mütter, Töchter oder Söhne sind. Bei einer Coming-of-Age-Geschichte denkt man an herzerwärmende Anekdoten aus der Schule. Offene Schilderungen von ersten erotischen Erfahrungen und natürlich von der ersten großen Liebe. Zwischendurch immer wieder Familienkonflikte. Türenknallen, Tränen, Trennungen. Am Ende: Verständnis, Verzeihung, Versöhnung. Happy End, gerne wieder mit Tränen, diesmal der Rührung, Freude und Erleichterung. Von solchen voraussehbaren Romanen ist Videotime ungefähr so weit entfernt wie eine Kleinstadt in der bayerischen Provinz von Hollywood. Obwohl beide Orte in diesem Roman tragende Rollen spielen.
Videotime beginnt klassisch wie andere Familienromane und Coming-of-Age-Geschichten: Ein namenloser Ich-Erzähler besucht eine bayerische Kleinstadt, wo er in den achtziger und neunziger Jahren aufgewachsen ist. Bei der Suche nach der Konditorei, Schule, Turnhalle, Videothek, dem Spielplatz usw. erinnert er sich an seine Eltern, den Bruder, zwei Freunde und eine Freundin. Die knappen, präzisen und sinnlich-suggestiven Beschreibungen lassen alle Personen so wiederaufleben, dass man sie nicht nur quasi lebendig vor sich sieht. Wenn Norman Ehrlich Boxhandschuhe beschreibt, meint man vielmehr, den Schweiß von zig Kinderhänden zu riechen, die in ihnen steckten. Wenn der Boxtrainer sich eine neue Zigarette ansteckt, sieht man sich als Leser unweigerlich nach dem überquellenden Aschenbecher um, der in der Nähe stehen muss, um ihn zu leeren.
Fast noch plastischer und eindringlicher als an seine Mitmenschen erinnert der Ich-Erzähler sich an Filme. Fast scheint es, als seien die Menschen aus Fleisch und Blut Nebendarsteller gewesen oder nur Komparsen. Die wirklich prägenden Charaktere und Helden nicht nur der Filme, sondern auch seiner Jugend waren Schauspieler des Mainstreamkinos wie Arnold Schwarzenegger oder Jean-Claude van Damme. Sie sind ins Leben des Ich-Erzählers marschiert, gestürmt oder geflogen und haben es gekapert, weil sein Vater ihre Filme in der Videothek „Videotime“ ausgeliehen, verbotenerweise kopiert, nach einem ausgefeilten System katalogisiert, archiviert und mit seinen Söhnen, dem Erzähler und seinem Bruder angeschaut hat.
Crash, Natural Born Killers, Die unendliche Geschichte, Total Recall oder Universal Soldier haben Klassenarbeiten, Ferien, Feiern und Versetzungen zu nebensächlichen Details degradiert. Die prägenden Eindrücke und Erlebnisse des Erzählers entsprechen kaum noch der Realität, sondern wurden von den Blockbustern überschattet oder überstrahlt, die von diversen Mattscheiben geflimmert sind. Dementsprechend bestanden die „Grenzüberschreitungen“ und Mutproben des heranwachsenden Ich-Erzählers und seines Bruders nicht aus putzigen „Klingelstreichen“ oder dem Klauen von Äpfeln aus Nachbargärten. Stattdessen tricksten sie die Vorsichtsmaßnahmen des Vaters aus und sahen heimlich Filme, die für ihr Alter aus guten Gründen nicht freigegeben waren: den Arthouse-Porno The Devil in Miss Jones oder den Psychoschocker Der Exorzist.
Wie Roman Ehrlich all diese Filmplots, Erinnerungen des Ich-Erzählers sowie dessen Beobachtungen, Reflexionen und Vermutungen mal parallel nebeneinander führt, mal zu einem fetten Erzählstrom zusammenfließen lässt, ist verblüffend und erzeugt einen hypnotischen Sog mit einer ganz eigenen, düster faszinierenden Realität in einer bayerischen Kleinstadt. Dort wüten keine blutigen Kriege und es landen keine Aliens, die die Menschheit ausrotten und die Erde ausbeuten wollen. Auch eindeutig unterscheidbare Protagonisten und Antagonisten – also Gut und Böse – gibt es nicht wie in den Action-Filmen, die der Erzähler fast schon zwanghaft memoriert, analysiert, befragt und als Referenzen heranzieht. Als verberge sich in ihnen ein universelles Wissen oder eine höhere Wahrheit.
Während des Lesens wird immer klarer, dass die mit aller Kraft unterdrückten Aggressionen in der bayerischen Provinz den kraftstrotzenden Brutalitäten der Actionfilme das Wasser reichen konnten. Obwohl der Roman in einer Zeit spielt, die sich heutzutage viele zurückwünschen – als die frühere Bundesrepublik noch existierte und es nur das gute, alte analoge Leben gab, noch kein digitales.
Die Inhaltsangaben der Filme schüren Hoffnungen, dass die Geschichte des Erzählers ebenso „aufgelöst“ wird wie die Filmplots. Dass er die geschiedenen Eltern wiedertrifft: Den Vater, erst harter Hund und Ausbilder bei der Bundeswehr, dann Justizvollzugsbeamter in einer Strafanstalt. Die Mutter, deren einzige Leidenschaft das Naschen von Süßigkeiten zu sein schien. Den Bruder, der Tennisprofi werden sollte und sich stattdessen bei der Bundeswehr verpflichtete. Liebend gerne würde man auch erfahren, was aus dem Schulfreund geworden ist, der den Ich-Erzähler in die bizarre Welt des Wrestlings einführte. Und wie ist es Lotta ergangen, die dem Erzähler lakonisch vorschlug, sich auszuziehen, damit sie sich gegenseitig nackt betrachten konnten? In einem Genre-Film oder auch in jedem herkömmlichen Familienroman würden sie alle wieder auftauchen. Zumindest würde man erfahren, was aus ihnen geworden ist.
Gegen Ende verdichten sich die Hinweise, dass der Ich-Erzähler doch nicht ziellos durch die Stadt streift, sondern auf dem Weg zu seinem Vater ist, der für die Lieblosigkeit und Tristesse seiner Kindheit, Jugend und leider auch seiner derzeitigen Lebenssituation verantwortlich zu sein scheint. Zum Glück hat der Schriftsteller Roman Ehrlich nicht nur eine große Leidenschaft für herausragende Genre-Filme, sondern auch für die Realität. Und die schert sich nicht um Wünsche und Erwartungen bzw. dramaturgische Regeln. Sie will auch niemanden unterhalten oder zu irgendeiner Erkenntnis verhelfen.
Die Realität kann grausam sein oder wunderschön, auf jeden Fall ist sie geheimnisvoll und fordert uns ständig heraus, sie zu deuten, mitzugestalten, einen Platz in ihr zu finden. Genau diese Suche beschreibt Roman Ehrlich auf eine überaus faszinierende Art und Weise. In diesem Sinne ist Videotime großartige Literatur, ein Familienroman sowie eine Hommage an das Mainstreamkino der achtziger und neunziger Jahre.
Roman Ehrlich: Videotime. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2024, 368 Seiten, ISBN 978-3-10-397197-2
Besprechung des im Herbst 2024 erschienenen Romans "Videotime" von Roman Ehrlich>
Videotime ist eine Geschichte in auffallend schöner Sprache über die Gesichter und Leerstellen, die sich hinter unseren Masken und Selbstbildern verbergen, schreibt der Verlag S. Fischer über den neuen Roman von Autor Roman Ehrlich. Abraham Katz hat ihn gelesen und befindet: ein großartiges Buch. Videotime steht auf der Shortlist für den Wilhelm-Raabe-Preis 2024.
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In einem „Familienroman“, wie es der Untertitel listig ankündigt, erwartet man, dass die „Helden“ Väter, Mütter, Töchter oder Söhne sind. Bei einer Coming-of-Age-Geschichte denkt man an herzerwärmende Anekdoten aus der Schule. Offene Schilderungen von ersten erotischen Erfahrungen und natürlich von der ersten großen Liebe. Zwischendurch immer wieder Familienkonflikte. Türenknallen, Tränen, Trennungen. Am Ende: Verständnis, Verzeihung, Versöhnung. Happy End, gerne wieder mit Tränen, diesmal der Rührung, Freude und Erleichterung. Von solchen voraussehbaren Romanen ist Videotime ungefähr so weit entfernt wie eine Kleinstadt in der bayerischen Provinz von Hollywood. Obwohl beide Orte in diesem Roman tragende Rollen spielen.
Videotime beginnt klassisch wie andere Familienromane und Coming-of-Age-Geschichten: Ein namenloser Ich-Erzähler besucht eine bayerische Kleinstadt, wo er in den achtziger und neunziger Jahren aufgewachsen ist. Bei der Suche nach der Konditorei, Schule, Turnhalle, Videothek, dem Spielplatz usw. erinnert er sich an seine Eltern, den Bruder, zwei Freunde und eine Freundin. Die knappen, präzisen und sinnlich-suggestiven Beschreibungen lassen alle Personen so wiederaufleben, dass man sie nicht nur quasi lebendig vor sich sieht. Wenn Norman Ehrlich Boxhandschuhe beschreibt, meint man vielmehr, den Schweiß von zig Kinderhänden zu riechen, die in ihnen steckten. Wenn der Boxtrainer sich eine neue Zigarette ansteckt, sieht man sich als Leser unweigerlich nach dem überquellenden Aschenbecher um, der in der Nähe stehen muss, um ihn zu leeren.
Fast noch plastischer und eindringlicher als an seine Mitmenschen erinnert der Ich-Erzähler sich an Filme. Fast scheint es, als seien die Menschen aus Fleisch und Blut Nebendarsteller gewesen oder nur Komparsen. Die wirklich prägenden Charaktere und Helden nicht nur der Filme, sondern auch seiner Jugend waren Schauspieler des Mainstreamkinos wie Arnold Schwarzenegger oder Jean-Claude van Damme. Sie sind ins Leben des Ich-Erzählers marschiert, gestürmt oder geflogen und haben es gekapert, weil sein Vater ihre Filme in der Videothek „Videotime“ ausgeliehen, verbotenerweise kopiert, nach einem ausgefeilten System katalogisiert, archiviert und mit seinen Söhnen, dem Erzähler und seinem Bruder angeschaut hat.
Crash, Natural Born Killers, Die unendliche Geschichte, Total Recall oder Universal Soldier haben Klassenarbeiten, Ferien, Feiern und Versetzungen zu nebensächlichen Details degradiert. Die prägenden Eindrücke und Erlebnisse des Erzählers entsprechen kaum noch der Realität, sondern wurden von den Blockbustern überschattet oder überstrahlt, die von diversen Mattscheiben geflimmert sind. Dementsprechend bestanden die „Grenzüberschreitungen“ und Mutproben des heranwachsenden Ich-Erzählers und seines Bruders nicht aus putzigen „Klingelstreichen“ oder dem Klauen von Äpfeln aus Nachbargärten. Stattdessen tricksten sie die Vorsichtsmaßnahmen des Vaters aus und sahen heimlich Filme, die für ihr Alter aus guten Gründen nicht freigegeben waren: den Arthouse-Porno The Devil in Miss Jones oder den Psychoschocker Der Exorzist.
Wie Roman Ehrlich all diese Filmplots, Erinnerungen des Ich-Erzählers sowie dessen Beobachtungen, Reflexionen und Vermutungen mal parallel nebeneinander führt, mal zu einem fetten Erzählstrom zusammenfließen lässt, ist verblüffend und erzeugt einen hypnotischen Sog mit einer ganz eigenen, düster faszinierenden Realität in einer bayerischen Kleinstadt. Dort wüten keine blutigen Kriege und es landen keine Aliens, die die Menschheit ausrotten und die Erde ausbeuten wollen. Auch eindeutig unterscheidbare Protagonisten und Antagonisten – also Gut und Böse – gibt es nicht wie in den Action-Filmen, die der Erzähler fast schon zwanghaft memoriert, analysiert, befragt und als Referenzen heranzieht. Als verberge sich in ihnen ein universelles Wissen oder eine höhere Wahrheit.
Während des Lesens wird immer klarer, dass die mit aller Kraft unterdrückten Aggressionen in der bayerischen Provinz den kraftstrotzenden Brutalitäten der Actionfilme das Wasser reichen konnten. Obwohl der Roman in einer Zeit spielt, die sich heutzutage viele zurückwünschen – als die frühere Bundesrepublik noch existierte und es nur das gute, alte analoge Leben gab, noch kein digitales.
Die Inhaltsangaben der Filme schüren Hoffnungen, dass die Geschichte des Erzählers ebenso „aufgelöst“ wird wie die Filmplots. Dass er die geschiedenen Eltern wiedertrifft: Den Vater, erst harter Hund und Ausbilder bei der Bundeswehr, dann Justizvollzugsbeamter in einer Strafanstalt. Die Mutter, deren einzige Leidenschaft das Naschen von Süßigkeiten zu sein schien. Den Bruder, der Tennisprofi werden sollte und sich stattdessen bei der Bundeswehr verpflichtete. Liebend gerne würde man auch erfahren, was aus dem Schulfreund geworden ist, der den Ich-Erzähler in die bizarre Welt des Wrestlings einführte. Und wie ist es Lotta ergangen, die dem Erzähler lakonisch vorschlug, sich auszuziehen, damit sie sich gegenseitig nackt betrachten konnten? In einem Genre-Film oder auch in jedem herkömmlichen Familienroman würden sie alle wieder auftauchen. Zumindest würde man erfahren, was aus ihnen geworden ist.
Gegen Ende verdichten sich die Hinweise, dass der Ich-Erzähler doch nicht ziellos durch die Stadt streift, sondern auf dem Weg zu seinem Vater ist, der für die Lieblosigkeit und Tristesse seiner Kindheit, Jugend und leider auch seiner derzeitigen Lebenssituation verantwortlich zu sein scheint. Zum Glück hat der Schriftsteller Roman Ehrlich nicht nur eine große Leidenschaft für herausragende Genre-Filme, sondern auch für die Realität. Und die schert sich nicht um Wünsche und Erwartungen bzw. dramaturgische Regeln. Sie will auch niemanden unterhalten oder zu irgendeiner Erkenntnis verhelfen.
Die Realität kann grausam sein oder wunderschön, auf jeden Fall ist sie geheimnisvoll und fordert uns ständig heraus, sie zu deuten, mitzugestalten, einen Platz in ihr zu finden. Genau diese Suche beschreibt Roman Ehrlich auf eine überaus faszinierende Art und Weise. In diesem Sinne ist Videotime großartige Literatur, ein Familienroman sowie eine Hommage an das Mainstreamkino der achtziger und neunziger Jahre.
Roman Ehrlich: Videotime. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2024, 368 Seiten, ISBN 978-3-10-397197-2