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09.10.2024, 14:39 Uhr
Tanja Kinkel
Rezensionen

Gunna Wendt: „Bei der Laterne woll’n wir stehen“

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(c) Penguin Verlag

„Bei der Laterne woll'n wir stehen, wie einst Lili Marleen“ sang die deutsche Sängerin und Schauspielerin Lale Andersen 1939 und wurde damit weltberühmt. Nun hat die Münchner Schriftstellerin Gunna Wendt einen fiktiven Roman über das besungene Mädchen geschrieben, erschienen im Penguin Verlag.

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Manche Lieder verhaken sich in einem, und man wird sie nicht mehr los. „Lili Marleen“, geschrieben im Ersten, populär geworden im Zweiten Weltkrieg, ist ein solcher Ohrwurm. Gleichermaßen gespielt auf deutscher Seite und von den Radiosendern der Allierten, parodiert, imitiert, und schließlich Inspiration für Rainer Werner Fassbinders gleichnamigen Film, dessen Premiere im Prolog von Gunna Wendts neuem Roman stattfindet. Doch während Fassbinders Film mit Hannah Schygulla in der Hauptrolle eine stark fiktionalisierte Version der bekanntesten Sängerin des Liedes, Lale Andersen, ins Zentrum stellt, lässt Bei der Laterne woll’n wir stehen die „historischen“ Beteiligten im Hintergrund und erzählt stattdessen die Geschichte einer erfundenen Figur, erfunden wie das Lied selbst: Liliane „Lili“ Marlene. 

Wir Leser(innen) lernen Lili im Prolog als alte Frau und dann als junges Mädchen kennen, das kurz vor dem Ersten Weltkrieg mit dem Geliebten Cord Paris besucht. Diese Pariser Idylle bleibt in dem Roman die erste und letzte Zeit, in der Liliane und Cord miteinander glücklich sind; nicht nur, weil bald danach der Erste Weltkrieg beginnt, sondern auch, weil Cord sich im Gegensatz zu Lili der Mischung aus aufgepeitschtem Patriotismus, Gruppendruck und Schuldgefühlen bald nicht mehr entziehen kann,  sich zu ihrem Entsetzen freiwillig an die Front meldet und damit bis auf Weiteres aus dem Romangeschehen verschwindet. Im Streit auseinander gegangen zu sein, nie zu wissen, was aus Cord eigentlich geworden ist; das ist die quälende Ungewissheit, die sich durch Lilis turbulentes Leben zieht. 

Wie das Lied Lili Marleen zwar aus der Perspektive des Soldaten geschrieben wurde, aber spezifisch durch weibliche Interpretationen – neben Lale Andersen sangen auch Marlene Dietrich und Vera Lynn die Ballade vom getrennten Liebespaar – seinen Welterfolg errang, ist es zwar Cord, der in der Romanwelt dem Textdichter Hans Leip die Inspiration liefert, doch es ist Lili, deren Groll, Sehnsucht und Leben wir folgen. Dabei sind die Jahre der Weimarer Republik, die Lili zunächst in München als Kabarettistin verbringt, ein besonderer Höhepunkt; man merkt, dass es sich bei der Autorin um die Biographin von Therese Giehse und Erika Mann handelt, aber auch heute werden für nicht-Experten fast vergessene Gestalten wie die Simplicissimus-Chefin Kathi Kobus zum bissigen und unvergesslichen Leben erweckt. Dass Lili bei dem legendären Komiker-Duo weniger Karl Valentin als seine oft unterschätzte Partnerin Liesl Karlstadt verehrt, macht Lust, umgehend nach ein paar alten Aufnahmen zu fahnden. Auch die legendäre schweizerische Künstlerkolonie Monte Verità, in die es Lili und ihre Freundin Frieda, mit der sie zeitweilig auch ein Verhältnis hat, für einige Zeit verschlägt, ist so interessant geschildert, dass man am liebsten eine Reise buchen möchte. 

Nicht alles in Bei der Laterne erweckt meine hundertprozentige Zustimmung. Lilis Freundschaften zu Frieda, Irina und Georg, ob mit oder ohne amouröse Aspekte, wirken vielschichtiger und fesselnder als die Jugendliebe zu Cord, was es ein wenig problematisch macht, just letzteren als Lilis große Liebe zu akzeptieren. Wenn sich Lili fragt, wie sich von ihr verehrte Künstler wie Liesl Karstadt und Karl Valentin mit den Nazis arrangieren konnten, fällt einem doch auf, dass die Autorin ihrer Heldin Kompromisse dieser Art erspart. Lili ist von dem Moment an, als sie mit Cord über den (ersten) Krieg streitet, immer auf der historisch „richtigen“ Seite. Angesichts des Umstands, dass Lili Marleen-Komponist Norbert Schultzke auch die Melodie zu Bomben auf Engelland komponierte, Texter Hans Leip von Hitler mit dem Kriegsverdienstkreuz ausgezeichnet wurde und Sängerin Lale Andersen eben nicht ins Exil ging, erweckt das ein wenig den Verdacht, als ob die Fiktionalität es Lili gestattet, zu einer Idealfigur zu werden, wie es die in die Schöpfung ihres Liedes involvierten Menschen nie sein konnten. (Lale Andersen fiel letztlich beim Propagandaministerium in Ungnade, und wurde zeitweise mit Auftrittsverbot belegt, aber eben auch zu Propagandazwecken benutzt.) 

Doch idealisieren wir nicht alle die Menschen, nach denen wir uns sehnen? Die Vergangenheit, die wir hatten? Die Zukunft, auf die wir hoffen? Und letztlich ist Lili, genau wie das Lied, dem sie entsprang, die Verkörperung dieser Sehnsucht. Ihre Geschichte zieht einen in ihren Bann, und wartet darauf, von vielen Lesern entdeckt zu werden. 

 

Gunna Wendt: Bei der Laterne woll'n wir stehen. Roman. Penguin, München 2024, 256 S., ISBN 978-3-328-60316-0, € 17,00

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