Info
25.09.2024, 08:33 Uhr
Andrea Heuser
Rezensionen
images/lpbauthors/2024/klein/Lichtblau_Laura_lpb_klein.jpg#joomlaImage://local-images/lpbauthors/2024/klein/Lichtblau_Laura_lpb_klein.jpg?width=164&height=230
© Max Zerrahn

Der Roman „SUND“ von Laura Lichtblau

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/autorblog/2024/klein/SUND_Lichtblau_500.jpg
(c) C.H. Beck

Mit SUND hat die in München geborene Schriftstellerin Laura Lichtblau einen suggestiven Roman über ihre Auseinandersetzung mit Familiengeschichte, Euthanasie, Schuldverstrickung und queeren Identitäten vorgelegt. Ein ebenso feinfühliges wie stilistisch bemerkenswertes Werk, das einen ganz eigenwilligen poetischen Sound entwickelt: den SUND-Sog.

*

„To say self is to say landscapes, because landscapes are not backdrops.“

Dieses Zitat von Édouard Glissant, das den Roman eröffnet, kann wie ein Wegweiser gelesen werden. Und zwar mitten hinein in das poetische Zentrum des Romans, in dessen fortschreitendem Erzählverlauf sich die Frage immer fallstrickreicher oder – um im Metaphern-Gebiet des SUND zu bleiben – immer steilklippengleicher stellt: wer ist dieses „Selbst“ eigentlich? Wer ist sie, die hier „ich“ sagt? Und wie ist die innere Landschaft dieses Selbst beschaffen?

Zunächst zum Inhalt: Im Zuge in ihrer Recherche, die sich mit der möglichen Verstrickung ihres Urgroßvaters, des Orthopäden Max Lange in die verbrecherischen Euthanasieverfahren der NS-Zeit befasst, bricht die Erzählerin zum SUND auf, wo sie sich mit ihrer Geliebten verabredet hat. Während sie dort dann allerdings vergeblich auf die Ersehnte wartet, wecken seltsame Gerüchte und geheimnisvolle Gesänge von der nahen Insel Lykke ihre Neugierde. Kaum auf dem dänischen Eiland angekommen, lässt sie sich nicht nur auf „die Neue“ ein, sondern auch auf eine neue Daseinsweise. Sie steigt als eine Art Hilfsarbeiterin in einem ökologischen Selbstversorger-Ferienheim ein. Hier wird sie bald tief in Transformationsprozesse ihrer selbst hineingezogen, in der sich nicht nur Gegenwart und Vergangenheit auf verstörende Weise verweben, sondern – um nicht zu viel zu verraten, bleibt dies hier allgemein formuliert – auch das Reale mit dem Surrealen, das Traumverwobene mit der Außenwelt, die düstere Vergangenheit des Ortes mit den „Klangliegen“ und „Geburtspools“ der Gegenwart.

Ja, und mitten hinein in diese irreale Ferienheimidylle fräst es sich dann, ausgelöst durch einen Bücherfund über die Geschichte der Insel, wie eine Zäsur: der Recherchebericht; die Spurensicherung von Zeugnissen über eine mögliche Mittäterschaft des Urgroßvaters, über dessen Billigung der Euthanasieverfahren und medizinischen Menschenversuche während der NS-Zeit. Und auch hier befragt nicht nur die Erzählerin die Vergangenheit – die Vergangenheit lässt auch die Erzählerin und schließlich auch die Lesenden sich selbst befragen: was es denn bedeutet, inmitten der eigenen Gegenwarts- und Vergangenheitslandschaft man selbst zu sein.

„Ich beschreibe dir alles.“

Dieser Prozess, den die Erzählerin, in der Abgrenzung zur Geliebten, dann zur Neuen und schließlich auch zu der eigenen Familiengeschichte in SUND durchläuft, gleicht dabei weniger einer Selbstfindung als einer Selbsterfindung. Und so bleibt es auch erzählerisch gekonnt in der Schwebe, ob es sich bei „der Neuen“ tatsächlich um eine reale Liebschaft handelt oder um eine ergänzende Version ihrer selbst: ihre eigene, innere „Neue“, die sich dort auf Lykke, dieser Insel der fatalen Entdeckungen, in ihr selbst erschafft, (er)findet.   

Der SUND-Sound ist somit, ganz im Sinne guter Literatur, nicht allein Träger der Handlung, sondern auch der eigentliche Protagonist. Wobei es im Grunde „die Sound“ heißen müsste: indem die Erzählerin der Geliebten alles, wirklich alles beschreibt, erschafft sie die Dinge, die Landschaft, den SUND, die Insel und ihre seltsamen Bewohnerinnen und Bewohner erst auf diese spezielle Art und Weise für dieses spezielle Gegenüber – und für sich selbst.

Die Analogisierungen von Körpern: Landschaft/Natur und menschlichem/tierischem Körper werden insbesondere durch eine auffallend lyrisch-sinnliche Bildsprache, durch Anthropomorphismen erzeugt:

Stell dir vor, durch diese Gegend pfeift ein Wind. Als wollte er alles kopfüber werfen. […] Wie er alles kaputt haut. Wie er alles nach oben wirbelt in einem dunstigen Himmel, der warm ist, viel zu warm für August. Wie es den Touristinnen die Beine in die Luft reißt. […]

Und die Bunker, die der Landschaft schwer im Magen liegen. Sie sind vom grünen Flaum bewachsen, schlafende Tiere, die Mägen blähen sich gegen den Schmerz.

Neben der Verschränkung von lyrischem und prosaischem Sprechen, dem Duktus der saloppen Redewendungen, dem Tiefsinnigen, dem Banalen oder dem Direkten, das übergangslos ins Indirekt-Poetische übergeht und umgekehrt – neben dieser dicht komponierten, stilistischen Vielstimmigkeit betonten auch Versalien, Absätze, Kursivierungen sowie die Verwendung von dänischen und englischen Wörtern und Phrasen den Modus eines permanenten Übersetzens von dem einen Tonfall in einen anderen.

Wenn Übersetzen im Sinne Walter Benjamins eben auch ein Hinübersetzen (von dem einen Ort zu einem anderen) meint, dann ist dieser Roman, dann ist SUND so eine Übersetzung.

Auf semantischer, handlungsbezogener Ebene vollzieht sich dieser Übersetzung-Prozess auch ganz konkret im Hinübersetzen der Erzählerin vom Festland zur Insel, von alter Geliebten zur „Neuen“, von Gegenwart zu Vergangenheit, von festem zu strömendem Untergrund, vom Wachzustand zum Traum, vom Dasein am Wasser, zu einem auf dem und unter dem Wasser – in allen Aggregatszuständen wird hier also mit der Verrückung; der Übertragung und Transformation von Bedeutung gespielt. Zumeist vollzieht sich diese subtile Verschiebung sacht, geradezu organisch und scheinbar beiläufig; mitunter allerdings auch überraschend brachial und eruptiv.     

„Wir fragen uns, ob unsere Gegenden ähnlich sind.“

Dass Abwesenheit die grausamste Form der Nähe sein kann – diese Erfahrung macht das Sehnen nach der ausbleibenden Geliebten, die phantasmatische Leidenschaft der Erzählerin, macht SUND darüber hinaus auch zu einer Liebesgeschichte. Zwischen wem genau, das mag man jeweils für sich selbst herausfinden.

Und last but not least klingt hinsichtlich der schmerzhaft anwesend-abwesenden Euthanasie-Thematik und der brisanten Frage nach dem, was in einer Gemeinschaft als „normal“ und „gesund“ gilt und was je nach Ideologie davon abweicht, im titelgebenden Wort SUND auch beides mit an: „GE“SUND und „UNGE“SUND.

 

Laura Lichtblau: Sund. Roman. C.H. Beck, München 2024, 130 S., ISBN 978-3-406-81377-1.