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03.07.2024, 15:44 Uhr
Johanna Hadyk
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Nussbaum von (c) Andrea Heuser

„Alles, was jetzt Schwemmgut ist“. Zum aktuellen Lyrikband von Andrea Heuser

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Aschenrost von (c) Siri Eggert

Die See als Raum des Unter- und Halbbewussten – hieraus speist sich der Ton der Miniaturen in dem neuen Gedichtband Alles, was Schwemmgut ist (Black Ink, 2023) der Münchner Autorin Andrea Heuser. Dabei handelt es sich um ein Ensemble poetischer Anverwandlungen, die als Impressionen zu Objekten, den Fundstücken des österreichischen Komponisten und Künstlers Rudolf Hinterdorfer (*1947), entstanden sind. Die Fundstücke selbst werden in diesem Band nicht fotografisch wiedergegeben, sondern, wie die Autorin schreibt, von „Laienhand“ nachgezeichnet. Johanna Hadyk hat den Lyrikband für uns besprochen. 

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Gewässer im Allgemeinen und das Meer im Besonderen üben seit Jahrtausenden eine fast schon magische Anziehungskraft auf Menschen aus und diese Faszination wurde auf unterschiedliche Weise literarisch verarbeitet. Zu Shakespeares Zeiten waren Seereisen eine gefährliche Angelegenheit und in seinen Stücken (Die Komödie der Irrungen, ca. 1589-94; Was ihr wollt, ca. 1600-1601; Der Sturm, ca. 1610-1611) repräsentiert das Meer Gefahr und Chaos. Als fiktiver Handlungsraum (wie auch in der echten Welt) war es aber auch stark mit dem europäischen Kolonialismus verbunden, zum Beispiel in Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719), einer der ersten englischen Romane. Das Trauma der Verschleppung afrikanischer Menschen über den Atlantischen Ozean (‚Middle Passage‘) wurde in unterschiedlichen Genres von unterschiedlichen Autorinnen und Autoren thematisiert, darunter Caryl Phillips (Jenseits des Flusses, 1993), David Dabydeen (Turner: New and Selected Poems, 1994), Fred D’Aguiar (Futter für die Geister, 1997), Yaa Gyasi (Heimkehren, 2016) und Rivers Solomon (The Deep, 2019).

Eine weitere literarische Tradition nutzt Gewässer/die Küste als Ort (und Metapher) des Wandels, der Ambivalenz und des Unbewussten (z.B. „Lines written near Richmond, upon the Thames, at Evening“ von William Wordsworth, 1798; „Schwimmen lernen“ von Graham Swift, 1982; Das Feuerschiff von Blackwater von Colm Tóibín, 1999). In diese Tradition reiht sich auch Andrea Heusers neuester Gedichtband Alles, was jetzt Schwemmgut ist (2023) ein, allerdings mit einem multimedialen Twist. Der Band ist im Black Ink Verlag erschienen und basiert auf Kunstwerken von Rudolf Hinterdorfer, einem österreichischen Künstler und Komponist. Aus Schwemmgut, welches er an seinem heimischen Attersee und an der griechischen Küste fand, erschuf Hinterdorfer Skulpturen, die wiederum als Inspiration für Heusers Gedichte dienten. Begleitend zu den Gedichten hat sie (mit Unterstützung ihrer Tochter Siri Eggert und deren Freundin Flavia Rohrer) auch skizzenhafte Zeichnungen der Skulpturen erschaffen. Doch nicht nur Gedichte und Zeichnungen sind als Antwort auf Hinterdorfers Skulpturen entstanden – AMBITUS – Gruppe für neue Musik, ein österreichischer Verein zur Förderung von Musik, hat korrespondierende Stücke komponiert, die in Wien uraufgeführt wurden.

Alles, was jetzt Schwemmgut ist enthält zwei einführende und acht bebilderte, nach den Skulpturen benannte, Gedichte sowie ein Vor- und Nachwort. Das Vorwort stammt von Hinterdorfer und beschreibt die Entstehungsgeschichte seiner Skulpturen: Seine Materialien „lagern, liegen […] im Atelier“ (S. 5), und inspiriert sind die Kunstwerke zum Beispiel von „ein[em] (Ast-)Auge“ oder einem „Aschenrost […] der sich […] ‚aufgebäumt‘ hatte“ (S. 5, Hervorhebungen J.H.). 

Dieses Vorwort gibt den Ton für die Gedichte an: Sie sind geprägt von Asyndeta, teils alliterarisch – „Nun ist er zu Fall gebracht; vernagelt, verschraubt“ (S. 8), teils als Binnenreim – „Liegt, wiegt nun in Deiner Hand“ (S. 7), was den Lesefluss, der durch die vielen Enjambements manchmal unterbrochen wird, angenehmer gestaltet. Wortspiele – „Der Südsturm […] / Ist mit allen Wassern des Lebens gewaschen“ (S. 8) und Personifikationen – „Auf dem Weg zum Leuchtturm lag dieser Stein / […] sein Rücken poliert“ (S. 19) dienen als Kontrast zur teils bombastischen Wortwahl („Auf dem auratischen Stabe“, S. 16, Hervorhebungen J.H.). 

Diadem von (c) Andrea Heuser

Die Zeichnungen, die Heuser als „Bojen der Orientierung“ (S. 28) bezeichnet, wirken ähnlich auflockernd. Es ist interessant zu sehen, welche Elemente jeweils aufgegriffen und interpretiert werden: In „Nussbaum“ ist in der ersten Strophe von einem „blutige[n] Auge“ (S. 8) die Rede, welches man auch in der entsprechenden Zeichnung finden kann. Die Skizze zu „Diadem“ dagegen erinnert an eine Muschel, und das Gedicht kommt sowohl auf den Namen („Dir bricht kein Zacken aus der Krone, oh See“, S. 12) als auch auf das Aussehen („Löst sich eine winzige, goldene Träne aus ihrem Ohrmuschelgesteck“, S. 14, Hervorhebungen J.H.) zu sprechen. 

Inhaltlich nutzt der Band – passend zum Material der Skulpturen – Gewässer als Motiv. Gemäß der Beschreibung der „See […] als […] Raum des Unter- und Halbbewussten“ (S. 28) beschäftigen sich viele Gedichte mit dem menschlichen Unterbewusstsein und Kindheit/Vergangenheit – so auch gleich das erste Gedicht „Rudern“, in dem die Autorin geschickt psychologische/soziologische Konzepte mit Metaphern aus dem Bereich der Natur verbindet:

Wüchse da nicht aus dem Urgrund
Den ältesten Schichten des Halbbewusstseins
Menschlicher Geschichten, wucherte da nicht
Pathos, Wundgeglaubtes
Zitterte, zögerte nicht durch das Auge der Erinnerung 
Der Blick auf die Skizzen der Kindheit, die
Unsteter, luftiger Hand dies Leben entwarf (S. 6)

Zusätzlich zu den individuelleren Aspekten des Unterbewussten bemühen die Gedichte auch kulturelle Skripte. Am deutlichsten wird das in „Diadem“. Hier hangelt sich Heuser von einem maritimen Kinderspiel („Fischer, Fischer, wie tief ist das Wasser?“) zu (Grimm’schen) Märchen (z.B. „Der Froschkönig“, „Rotkäppchen“) zu Goethes „Gesang der Geister über den Wassern“, doch wie Schwemmgut durch seine Zeit im Wasser verändert wird, so bearbeitet auch Heuser ihr Material und macht es zu etwas Neuem:

Und während Du Dich hier und da der Menschen und ihrer geflickten Netzte bedienst
Die Dein Unterbewusstes durchkämmen nach des Teufels goldenem Haar
Bot er, Brunnen, dem einst blinden Märchen seinen Spiegel
Damit Du Dich besser sehen kannst. (S. 12)

Doch auch mondänere Themen werden in den Händen der Dichterin zu unerwartet tiefgründigen Gedankengängen ausgearbeitet. Die Skulptur „Aschenrost“ wurde aus einem Sauna-Aschenrost hergestellt und das zugehörige Gedicht beendet den Band introspektiv:

Ich bäume mich auf
Trete raus, will raus durch die Tür, die rote
Die Engel halten sie verschlossen von außen, die Dämonen von innen – ich aber laufe
Laufe dagegen, laufe, laufe … […]
Und wohin ich mich auch wende
Ich ankere fest
Im Unterleib der Taten, der See … (S. 27)

Im Nachwort schreibt die Autorin, dass es zu jeder der Skulpturen eine Anekdote Hinterdorfers gibt, es aber auch möglich ist, sie ohne dieses Wissen zu erleben/verstehen. Dasselbe trifft, bis zu einem gewissen Grad, auch auf Heusers Gedichte zu – man kann sie lesen und sich den Wortspielen und Wiederholungen, den eigenen Gedanken und Assoziationen hingeben, aber es hilft doch, ein wenig Hintergrundwissen zu haben, zum Beispiel, was genau das Dionysiou ist – oder aber die Möglichkeit zu haben, es nachzuschlagen.  

Nachwort zum Nachwort:

Im Nachwort spricht die Autorin auch davon, dass die „Seen und Meere [Europas] […] keine neutralen Gewässer sind“ (S. 29) – in diesem Zusammenhang wäre ein Hinweis auf die Flüchtlinge, die zuletzt wieder auf der Mittelmeerroute (u.a. auch vor Griechenland, wo Hinterdorfer einen Teil seiner Materialien gesammelt hat) verstorben sind, eine aktuell relevante Assoziation gewesen.

 

Andrea Heuser: Alles, was jetzt Schwimmgut ist. Mit Titel-Handschr. v. Andrea Heuser u. Zeichn. v. Andrea Heuser, Flavia Rohrer u. Siri Eggert. Black Ink, Scheuring 2023, 32 S., ISBN 978-3-930654-71-0, € 8,00

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