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10.04.2024, 09:18 Uhr
Christina Madenach
Rezensionen
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(c) Claudia Stranghöner

Rezension zu „Samota“ von Volha Hapeyeva

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(c) Droschl Verlag

Volha Hapeyevas 2024 auf Deutsch erschienener Roman Samota führt um den halben Erdball und erkundet dabei die Welt von Tieren, Menschen und Vulkanen. Das Buch handelt vom Bösen in unterschiedlicher Gestalt, von Kämpfen um das eigene Überleben, das von Tieren und das von Werten. Die Münchner Autorin Christina Madenach hat Hapeyevas Roman für uns gelesen.

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Ziemlich in der Mitte von Volha Hapeyevas Roman Samota heißt es: „Als ich zur Zimmerdecke blickte, sah ich ein ephemeres Fädchen, das nirgendwo begann und nirgendwo endete.“ Und ein paar Zeilen darunter: „Für mich war es [die Spinnwebe] ein Zeichen für Leben. Jemand war bei mir.“

Abgesehen davon, dass mich die poetische Sprache dieser Sätze in den Bann zieht, versinnbildlichen sie für mich die Poetologie des Romans: Statt eines stringenten und linearen Plots, gibt es ganz viele Handlungsfäden, denen in ihren Verwicklungen und Abzweigungen nachgegangen wird. Außerdem wird in diesen Sätzen durch die Hervorhebung des Nicht-Alleinseins auf einen wichtigen Topos des Romans – die Einsamkeit – verwiesen.

Doppelgängerinnen: Mutter Erde, Schlächter und die Widerspenstige

Nicht nur die vielen Handlungsstränge des Romans verlaufen parallel und ineinander, auch Raum und Zeit bleiben vage. Der einzige Ort, der immer wieder auftaucht und an dem ein Großteil des Romans spielt, ist ein Hotel des Instituts für Vulkanologie in Japan, in dem sich die Ich-Erzählerin für eine Forschungsreise aufhält. Dort stößt sie im Verlauf ihres Aufenthalts mit ihrer Freundin Helga-Maria auf eine zwielichtige Gruppe, die sich unter Anleitung von Boglarka Yamamoto mit der Häutung von Tierkadavern beschäftigt. Der Ort des zweiten Haupthandlungsstrangs, in dem der Roman die Geschichte von der Freundschaft zwischen Sebastian und Herrn Zikade und deren Konflikt mit dem Wolfsjäger Mészáros erzählt, ist nicht genauer definiert.

Auch die Figuren sind nicht unbedingt eindeutig, trotzdem strukturieren sie den Roman, weshalb ich anhand ihrer einen Zugriff wagen will. Die drei Protagonisten sind zwar auf einer anderen zeitlichen und örtlichen Ebene angesiedelt als die drei Protagonistinnen, es kommt aber zu Überschneidungen, und sie erscheinen mir wie Doppelgänger.

Die Ich-Erzählerin heißt Maja. Sie hat eine enge Beziehung zur Natur: auf wissenschaftlicher Ebene als Vulkanologin und auf sinnlich-emotionaler Ebene in ihrer empathischen Anteilnahme an allem – vom Menschen über Tiere hin bis zu Pflanzen. Der Name Maja kommt aus dem Griechischen und bedeutet passenderweise „Mutter“ oder „Mutter Erde“. Majas Pendant auf der anderen Ebene heißt Sebastian. Sein Charakter ähnelt ihrem: Auch er beschäftigt sich mit der Forschung und setzt sich mit seinem Leben für ein gefangenes Wolfsjunges ein. Der Name Sebastian bedeutet „der Ehrwürdige“, im Roman wird er einmal als „Heiliger“ bezeichnet.

Diesen beiden Figuren gegenüber stehen einerseits der Wolfsjäger Mészáros (was im Ungarischen „Schlächter“ bedeutet) und Boglarka Yamamoto, die sich mit der Regulation von Tierpopulationen mittels Tötung beschäftigt. Ihren ungarischen Vornamen hat Yamamoto von ihrem Urgroßvater erhalten: Vielleicht handelt es sich bei diesem um Mészáros? In der letzten Szene, in der dieser auftaucht, studiert er jedenfalls die Reiseroute nach Japan.

Schließlich gibt es noch zwei weitere Charaktere: Herr Zikade, der Vermieter von Sebastian, und Helga-Maria, die einerseits als Freundin von Maja auftritt, andererseits als frühere Geliebte von Sebastian. Die Figur der Helga-Maria ist so ungreifbar wie ihr Name andeutet (Helga: heilig, Maria: die Geliebte, aber auch die Ungezähmte, Widerspenstige). Behauptet sie selbst zu Beginn des Romans noch, Tierpsychotherapeutin zu sein, wird sie später als Dozentin an der Uni gezeigt, und es heißt über sie, dass sie kein Taktgefühl kenne; gleichzeitig setzt sie sich für die Rechte von Tieren ein. Außerdem ist sie die einzige Figur, die zwischen den Ebenen springen kann: Am Ende des Buchs treffen Helga-Maria und Herr Zikade aufeinander.

Nicht-lineare Zeit und Chronophobie

Zu Beginn des Romans heißt es: „Ganz sicher hat die Sprache keine einfache Beziehung zur Zeit … Nur die Handlung genießt den Luxus, in der Zeit dargestellt zu werden.“

Diese schwierige Beziehung der Sprache zur Zeit überbrückt Hapeyeva, indem sie bereits in der Anlage der Figuren verschiedene Zeitebenen miteinander verknüpft und den Roman im Wechsel aus den verschiedenen Perspektiven ihrer Hauptfiguren erzählt. Aber nicht nur diese kommen zu Wort. Hapeyeva lenkt den Blick auch immer wieder auf vermeintlich Nebensächliches und Unwichtiges. So gibt es beispielsweise eine Episode, in der Freundinnen zur Beerdigung des Hundes der einen gehen, und in einer anderen Episode bekommt eine Frau per Post ihren ausgestopften Hund zugeschickt.

Damit folgt die Darstellung von Zeit in Hapeyevas Roman keinem chronologischen Ablauf. Die Erzählung springt vor und zurück, es geschehen Dinge gleichzeitig oder sind zeitlich überhaupt nicht einzuordnen. Eine objektive Zeitmessung scheint unmöglich, vielmehr reagiert der Roman auf das jeweils individuelle Empfinden von Zeit der Figuren und richtet sich nach diesem aus. Besonders gut gefallen hat mir die Stelle, als Helga-Maria zugibt, an Chronophobie, der Angst vor dem Vergehen der Zeit, zu leiden.

Wissenschaftskritik und Empathieserum

Die nicht-lineare Betrachtung von Zeit ist in dem Roman verknüpft mit einer Weltsicht, die den Horizont über das rein Wissenschaftliche hinaus öffnet. Maja registriert an einer Stelle, dass Helga-Maria die logische Welt, die Maja sich als Vulkanologin aufgebaut hat, regelmäßig erschüttert. In ihrer Rolle als Dozentin beschäftigt sich Helga-Maria u. a. mit Descartes, der um der Erkenntnis willen das Sezieren von Tieren bei lebendigem Leibe vorschlug. Es geht Helga-Maria dabei nicht darum, der Wissenschaft abzuschwören. Vielmehr plädiert sie mit dem Philosophen und Naturwissenschaftler Charles Bonnet für einen Humanismus, dem Empathie zu Grunde liegt.

Aber nicht nur in der Figur der Helga-Maria ist diese Erschütterung spürbar, sondern auch im Stil des Romans. Immer wieder spielen Geheimnisse, das Unwirkliche, Träume und Vorstellungen eine Rolle. Und nicht zuletzt wird die Frage gestellt, was überhaupt Realität bedeutet. Auf den letzten Seiten des Romans heißt es dazu: „Diese Welt existiert wie eine parallele Realität, und mit jedem Buch vervielfältigt sich die Anzahl der Realitäten.“

Die Erschütterung wird durch das Unwirkliche und Unbekannte hervorgerufen, weil der rein rational-logische und ausschließlich durch die Wissenschaft geleitete Blick auf die Welt die Angst vor den Dingen mit sich bringen kann, die sich unserer Kontrolle entziehen und die wir nicht erklären können. In dem Roman von Hapeyeva äußert sich diese Angst in der Angst vor dem Wolf (obwohl die Originalausgabe des Romans bereits 2021 auf belarussisch erschienen ist, ein wieder sehr aktuelles Thema gerade in Bayern). Diese Angst vor wilden Tieren verbindet sich mit Fragen zur Tierethik – auch hier könnten die Fragen, die der Roman aufwirft, aktueller nicht sein – und wächst darüber hinaus zu einem Plädoyer für mehr Empathie insgesamt. So sagt Helga-Maria in ihrer Vorlesung: „Manchmal denke ich, das beste Mittel gegen Konflikte und Kriege wäre die Entwicklung eines Empathieserums.“

Aber das Buch macht es sich nicht einfach, denn es zeigt auch, dass empathisch zu sein nicht immer leicht ist. So kann das Einfühlen in andere das Gefühl der Auflösung in der anderen Person mit sich bringen. Maja, die von sich behauptet, zu mitfühlend, also eine Empathin zu sein, hat genau davor Angst – so wie sie Angst vor der Lektüre von fiktionalen Büchern hat, weil sie auch darin sich selbst und ihre Realität vergisst. Und Sebastian beobachtet bei Herrn Zikade, dass Mitgefühl häufig von Schwermut begleitet wird.

Trotz des ernsten Stoffs musste ich beim Lesen mehrmals schmunzeln. Das liegt zum einen an der tänzerischen Leichtigkeit, mit der sich die Figuren durch die Themen navigieren. Zum anderen wählt Hapeyeva eine Sprache, in der sie immer wieder humorvolle Wendungen einbaut, z.B.: „Mit dem Ausdruck vegetativer Zustand wird die Abwesenheit eigenständiger mentaler Aktivität bezeichnet, aber was ist das für ein snobistischer Blick auf die Pflanzen.“

Gras wuchert im Mund

Wie hängt nun dies alles zusammen mit dem zu Beginn erwähnten Topos der Einsamkeit, der bereits im Titel Samota (was in mehreren slawischen Sprachen „Einsamkeit“ bedeutet) sowie im Untertitel „Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber“ anklingt?

Im Roman ist von zwei Zimmern die Rede, die ich beide mit Einsamkeit assoziiere: das standardisierte Hotelzimmer, in dem sich Maja während ihrer Forschungsreise aufhält, und das von Sebastian bei Herrn Zikade gemietete Zimmer. Aber auch die anderen Figuren sind jede auf ihre Weise mit Einsamkeit konfrontiert, denn keine von ihnen geht engere Bindungen ein, außer vielleicht Helga-Maria, die jedoch in ihrer Rolle als Wanderin zwischen den Welten gleichzeitig am unverbindlichsten wirkt.

Meiner Meinung nach könnte die Einsamkeit auch etwas mit der Forschungsreise von Maja zu tun haben. Angeblich geht es bei dieser zwar um Vulkane, aber im ersten Kapitel des Romans beschäftigt sie sich mit dem genauen Gegenteil einer lautstarken Eruption: nämlich mit der von ihr beobachteten Stille im Tierreich. Dieses erste Kapitel – aus der Perspektive von Maja und im Präsens gehalten – fungiert als eine Art Prolog und beginnt mit dem Satz: „Die Stadt verstummte.“ Ein paar Zeilen später folgt die wunderbar poetische Erkenntnis: „In meinem Mund wuchert Gras.“ Das Gras im Mund ist für Maja verbunden mit etwas Unangenehmen. Die Natur überwächst sie, macht sie auch still und stumm: „Das Gras wächst nur bei Stille.“

Dem Prolog zu Beginn ist das letzte Kapitel als eine Art Epilog gegenübergestellt – wieder teilweise im Präsens und aus der Perspektive Majas erzählt. Hier heißt es: „Traurigkeit samt Melancholie, Stille und Heiterkeit, das Gefühl der Zugehörigkeit zum Universum, zu den Bäumen, den Vögeln, Insekten und Kräutern, das Aufgehen im Abendlicht, sodass man nichts und niemanden mehr braucht, erfüllte Existenz.“ Ich lese diese Sätze als eine Art Befriedung der Situation, die zu Beginn dargestellt wird. Und vielleicht ist hier das wahre Ergebnis von Majas Suche zu finden: keine Angst mehr vor der Stille haben zu müssen, sondern sie hinzunehmen zu können, die Einsamkeit anzunehmen und damit Teil des Ganzen zu werden: „Nicht Alleinsein, sondern allein Sein. Nicht einsam sein, sondern eins sein. Allsein.“

Samota ist der zweite auf Deutsch erschienene Roman der belarussischen Lyrikerin, Autorin, Übersetzerin und promovierten Linguistin Volha Hapeyeva. Außerdem liegen auf Deutsch zwei Lyrikbände und ein Essay vor. Auf Belarusisch sind von ihr bereits 14 Bücher erschienen. Volha Hapeyeva erhielt für ihr Werk zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Seit 2019 lebt sie im deutschsprachigen Raum, u.a. führten sie zwei Stipendien nach München.

Externe Links:

Samota im Droschl Verlag