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07.12.2023, 11:54 Uhr
Andrea Heuser
Rezensionen

Rezension zur Anthologie „Israel. Was geht mich das an?“

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(c) Mena-Watch

Nach dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober und einem global zunehmend aggressiv-unverhüllter auftretenden Antisemitismus und Antizionismus kommt der Beschäftigung mit Israel eine sensibilisierte Bedeutung zu. Aber warum genau, was sind die Hintergründe, Motive dieser Israel-Fixierung? Denn über kaum ein anderes Land wird so viel berichtet, gestritten und diskutiert. Dieser Frage gehen Erwin Javor und Stefan Kaltenbrunner, die Herausgeber der bereits 2022 erschienenen Anthologie Israel. Was geht mich das an?, nach. Sie stellen uns vierzehn sehr persönliche Antworten von renommierten Autorinnen und Autoren unterschiedlichster Herkunft und ihre Perspektiven vor. Entstanden ist ein privat, politisch, historisch und religionsgeschichtlich grundiertes Israel-Kaleidoskop, das neugierig macht auf ein reales Entdecken dieses Landes; ein Erfahrungen-Sammeln jenseits der Klischees und Stereotypen. Eine Lektüre, die außerdem zur Selbst-Lektüre, einer konstruktiven Selbstbefragung anregt: Und was geht MICH Israel an?

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„Im alten Neuland, hass-geliebt, gelobt“

Die Verse von Wolf Biermann ziehen sich wie eine eigene Tonspur durch diese vielstimmige Essay-Sammlung. Sie suchen keine Antwort, sie wirken ganz für sich auf die Leser ein; mal als Kontrapunkt, mal als Untermalung, mal motivisch begleitend und natürlich stets im eigenen künstlerischen Recht. Altes Neuland, hass-geliebt, gelobt: Biermanns Gedicht „Um meinetwillen – Erez Israel“ fasst, so komprimiert eindringlich wie nur Lyrik es kann, die emotional-tiefen Gegensätze in Worte, die aufgerufen werden, wenn es um Israel geht. Denn ja, über kaum ein anderes Land wird so viel geschrieben, lautstark diskutiert und gerungen. Umso stärker sticht einem da der Kontrast ins Auge: viel Rede, wenig Wissen.

Wozu dann noch ein weiteres Buch, wozu noch mehr Worte anhäufen, könnte man polemisch fragen. Aber was bleibt uns im herrschenden Klima steigender hass- und vor allem angstmotivierter Ideologisierung, geistiger Kurzschlüsse, Schlagworte, Floskeln und Polemiken denn anderes übrig als „die schlechten Reden mit besseren zu kontern“, wie es Salman Rushdie einmal so treffend ausdrückte?

Dazu kommt, dass die hier versammelten Beiträge von Mirna Funk, Harry Bergmann, Ben Segenreich, Ahmad Mansour, Doron Rabinovici, Julya Rabinowich, Robert Schindel, Charles Lewinsky, Esther Schapira und Danielle Spera zu Israel mehr aufdecken als überdecken. Das mag daran liegen, dass die jeweiligen Stories (so werden sie im Inhaltsverzeichnis genannt) persönlich, also autobiographisch motiviert sind und gerade dadurch eine so nachhaltige, authentische Stimmigkeit und Eindringlichkeit entfalten.

Flankiert und unterfüttert werden diese essayistischen Israel-Geschichten durch die Beiträge von Peter Huemer, Joshua Sobol und Christian Ultsch, die jeweils historisch-politische Analysen sowohl des Israel-Bildes als auch des Antisemitismus-Phänomens vornehmen, sowie von Jaron Engelmayers Aufsatz, der mit der Frage nach dem Beginn der Geschichte Israels die religionsgeschichtlichen Dimensionen etwas näher erläutert.  

Wissen wir nach der Lektüre mehr?

Nun, wirklich wissen kann man wohl nur die Dinge, die man selbst erfährt. Aber denjenigen, denen es nun einmal noch nicht ermöglicht wurde jenseits des Klischees Erfahrungen mit und in Israel zu sammeln, kann Lesen zumindest ein Teilen, ein Mit-Teilen von Erfahrungen ermöglichen, die den eigenen Blick und Denkhorizont idealerweise zu erweitern vermögen.

Israel – Ein globales Kaleidoskop auf engstem Raum

Denn Israel ist nicht so einfach zu verstehen. Hierhin ist dieses intensive kleine Land mit den ebenso fruchtbaren wie furchtbaren Gegensätzen sozusagen auch ein Sinnbild für das moderne Dasein des Menschen an sich, welches ja ein Akzeptieren von Ambiguität und Aushalten von Ambivalenzen bedeutet. Und es ist tragisch, dass auf diese Herausforderung gerade von außen derzeit generell vermehrt mit Abwehr und Angst reagiert wird, anstatt dass sie uns dazu motiviert, solidarisch zu sein.

Immerhin, so Erwin Javor, der Herausgeber und Gründer von mena-watch, dem unabhängigen Nahost-Think-tank, hat Israel, „wo Menschen aus weit hundert Ländern leben“, „gegen jede Wahrscheinlichkeit erstaunliche Fortschritte erzielt.“ Und so sei es geradezu ein Wunder, so Javor, „dass dieses Land, und zwar als einziges in der Region, eine Demokratie geworden und geblieben ist. Die Häufigkeit, mit der dort gerade gewählt wird, ist mehr als skurril, aber es ist eine liberale Demokratie. Die feindlichen Parteien im Konflikt um das Land sitzen gemeinsam im Parlament.“

Der zweite Herausgeber, der Arabist und Journalist Stefan Kaltenbrunner, hat für seine intensive Auseinandersetzung mit Israel die Metapher des Puzzlespiels geprägt, dessen Ränder sich rasch zusammenfügen lassen. Je weiter man aber in dessen Mitte vordringe, desto schwieriger sei es, die Teile aneinanderzureihen:

Man kann viele kluge Bücher, Analysen und Kommentare über Israel studieren, doch nach jedem Besuch im Land lernt man trotzdem immer etwas Neues dazu, ist überrascht, fasziniert, manchmal auch irritiert. An jeder Straßenecke trifft man Menschen mit den unglaublichsten Geschichten und Biografien, egal ob es Überlebende der Schoah sind, jüdische Einwanderer aus dem Jemen oder Äthiopien, orthodoxe Juden oder Muslime in Jerusalem. Israel wirkt wie ein globales Kaleidoskop auf engstem Raum.  

Von jeder der Beiträgerinnen und jedem der Beiträger nimmt man nun, ihre Stories lesend, auch ein etwas anders gefärbtes und anders geformtes Puzzleteilchen „ihres“ Israels mit. Wenigstens auf zwei der insgesamt vierzehn Geschichten sei hier stellvertretend etwas näher eingegangen. Tatsächlich sind sie aber alle gleich lesenswert.  

„Wieder in Israel leben wollen. Wieder in Israel nicht leben können.“

Mirna Funk etwa erörtert in „Laute Liebe“ alle irren, komischen, schweren und ebenso innigen wie unmöglichen Facetten ihrer Liebesbeziehung zu Israel. Als Kind, Enkelkind von Schoah-Überlebenden schildert die 1981 in Ostberlin geborene Autorin besonders eindrücklich ihre erste Reise als Schülerin in dieses ihr bis dahin fremde Land, wo sie jedoch auf ihre zahlreichen, weitverzweigten Verwandten trifft und sich nun mit der elementaren Frage auseinandersetzen muss, was das alles mit ihr zu tun hat.

Und dann brachte er [ein Cousin] mich in meine Airbnb-Wohnung auf der Harav Kook. Meerblick. Kakerlaken im Wohnzimmer. Ein Treppenhaus, das jederzeit in sich zusammenfallen hätte können. Und dann mein erster Raketenalarm. Wir standen auf dem Balkon. Meerblick. Einen Joint im Mund. Den Blick auf den blauen, wolkenlosen Himmel gerichtet. Die Sirene zum Bersten laut. Nein, nein, wir müssen nicht in den Hausflur, weil hast du dir den mal angesehen. Sicher ist das nicht. Nein, nein, der Bombenkeller ist zu weit weg. Lieber hier auf dem Balkon stehen und lernen, keine Angst zu haben.

Das Mädchen Mirna wird trotz ihrer Angst nach und nach „eins mit dieser Stadt“, die ihr die Wärme gab, als sie sie dringend brauchte. Sie überträgt „Touch“, das Patience-Kartenspiel, das ihr Cousin ihr in Holon beibringt, auf ihr Verhältnis zu Tel Aviv: Touch und Patience. Geduld und Berührung: „Und ich erinnerte mich daran, dass sie [die Stadt] mich gelehrt hatte, wie sich Nähe anfühlt und wieso Geduld notwendig ist.“

Zurück in Berlin lässt sich ihr ambivalentes Heimkehren mit den Sommerurlaubsgeschichten der anderen nicht mehr in Einklang bringen. Ihr Israel – eine mühsame Reise des Begreifens dessen, wer sie ist und zu wem sie wohl eines Tages werden würde. Ein Koffer-Dasein: „Ein schwerer Koffer, der mir da qua meiner Geburt in die Hand gedrückt wurde. Ein schwerer Koffer, den ich erst in den letzten zwanzig Jahren lernte langsam auszupacken.“ Analog dazu Israel: „Denn Israel hat auch qua Geburt einen Koffer in die Hand gedrückt bekommen. Einen schweren Koffer, den das Land immer noch auspackt.“

Und während ihr zumute ist, als würde sie in diesem heißen Land „endlich auch im Inneren warm werden“, liest sie die Kommentare zum Krieg und die Artikel und die Tweets und erfährt „mit welcher Obsession die Welt auf dieses kleine Land blickt. Ein Land so groß wie Hessen. Mitten in der Wüste, umringt von arabischen Staaten, die nur darauf warten anzugreifen.“

In dem herrschenden „feschen“ Antizionismus von Teilen ihrer Altersgruppe, die vom „Kolonialstaat Israel“ und „Apartheid-Israel“ spricht und in der woken Gerechtigkeitsbewegung – „Israel ist Siedlerkolonialismus“ – erkennt Mirna Funk eine Folgeform des Antisemitismus. Denn der Zionismus als „progressive Bewegung“, die der weltweit verfolgten und Genozid-gebeutelten Minderheit der Juden Sicherheit und Freiheit verschaffen sollte, gerade dieser Gruppe – nicht nur der der europäischen Holocaust-Überlebenden, sondern eben auch der von einer Million Juden aus den umliegenden arabischen Ländern sowie den jüdischen Flüchtlingen aus Äthiopien – wird seitens der linken Bewegung und der Post-Colonial-Studies mit derlei Parolen Funks Ansicht nach der Opferstatus verwehrt: „Sie werden kollektiv von der Opfer-Olympiade ausgeschlossen. Gerade weil sie Juden sind.“ 

Funk:

Die große Frage, die sich letztlich jede Person mit antisemitischen Vorurteilen stellt, ist doch diese: Wie kann es sein, dass die Juden selbst nach der „Endlösung“, die die Hälfte der jüdischen Weltbevölkerung vernichtete, schon wieder wohlauf sind und schön und braungebrannt und lachend am Strand von Tel Aviv Beachball spielen, das hier Matkot heißt? Da stimmt doch was nicht. Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. […] Denn auf Basis der allgemeinen anerkannten Weltsicht bleibt ein Opfer so lange Opfer, bis das System der Unterdrücker gestürzt wurde. Das Traurige ist, dass die gegenwärtigen Social-Justice-Bewegungen und ihre nachplappernden Mitläufer, die sich selbst, vermutlich fälschlicherweise, als links definieren und fest daran glauben, progressiv zu sein, das Gegenteil von freiheitlichem Denken und Handeln repräsentieren: Sie sind autoritär und ideologisch. Nicht nur, dass sie der unterkomplexen Idee verfallen sind, wir lebten in einer dichotomen von Welt von Unterdrückten und Unterdrückern. Sie sind auch dem Irrtum aufgesessen, es gäbe eine absolute Wahrheit.   

Abschließend zieht die Autorin die Parallele zum Sisyphos-Dasein: Den schweren Ball der Rede den Berg hinaufrollend und „mit der Hoffnung bewaffnet, die Kontinuitäten des Hasses, der irren Theorien und die im Mainstream verankerten Vorstellungen zum Juden freizulegen, um den Blick zu schärfen und damit eine Gesellschaft mit mehr Bewusstsein entstehen zu lassen.“

Aber auch Sisyphos wusste ja um die Würde des „Dennoch“. Weswegen man ihn sich als glücklichen Menschen vorstellen darf. Und somit vielleicht auch Mirna Funk? Denn für einen kurzen Moment ruht der Stein, der Ball der Rede ja auch oben …

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„Erst hier in Berlin habe ich Israel verstanden.“

Der aus einer muslimisch-palästinensischen Familie stammende Ahmad Mansour, geboren 1976 in Tira, ist arabischer Israeli und lebt und arbeitet seit zwanzig Jahren als Psychologe in Berlin. In seinem Beitrag „Kein Kampf der Kulturen“ schildert er zunächst sowohl seine Sozialisierung im familiären Narrativ der Judenfeindlichkeit – Mansour verbrachte die ersten 28 Lebensjahre „im Zentrum des Nahostkonflikts“ – und betont neben seiner Ablehnung der Siedlungspolitik auch sein Plädoyer für die Zweistaatenlösung und das Recht der Palästinenser neben Israel selbstbestimmt zu leben.

Ich bin mit einem arabischen TV-Sender in der Region großgeworden, auf dem Israel immer als der Feind dargestellt wurde – und immer noch wird. Mein Großvater hatte auf der Seite der arabischen Streitkräfte gegen den neu gegründeten jüdischen Staat gekämpft. Bis zu seinem Tod war er stolz auf die Narbe, die eine israelische Patrone ihm zugefügt hatte. Damit konnte er „Allah beweisen“, dass er gegen die Juden gekämpft hatte, sagte er immer. Mein Vater trägt das Trauma des Unabhängigkeitskriegs tief in seiner Seele. Er wurde 1946 in Palästina geboren, seine Eltern, meine Großeltern, waren Bauern, die weder lesen noch schreiben konnten. Seine ersten zwei Lebensjahre verbrachte mein Vater auf der Flucht.

Alltags-Antisemitismus

Antisemitismus, so Mansour, war in diesem Alltag so normal, dass er lange nicht auf die Idee kam, ihn zu hinterfragen. Er beschreibt sich selbst aber als einen ehrgeizigen Jungen; er wollte lernen, wollte Fragen stellen und den Ausbruch aus den engen, ärmlichen Verhältnissen schaffen, wo Kinder „nichts zu sagen hatten.“

Der Autor schildert uns exemplarisch drei einschneidende Kindheitserlebnisse, die sein Denken sowohl anschaulich widerspiegeln als auch seine Entwicklung besonders geprägt haben und die sogleich symptomatisch für die damalige gesellschaftliche Stimmung waren. Das eine Ereignis war der Mord an seinem Großvater mütterlicherseits, der bei einem Raubüberfall auf dessen Tankstelle erschossen wurde. Die beiden Täter, Araber aus einem Nachbardorf, wurden einige Tage später festgenommen und es kam zu einer Begegnung zwischen ihnen und seiner Familie vor Gericht. Dennoch hat Ahmad Mansour bis ins junge Erwachsenenalter in dem festen „Wissen“ gelebt, dass es sich bei den Tätern um Juden gehandelt hat. Wir konnte das sein?

Das zweite, traumatische Erlebnis für den jungen Ahmad Mansour war die Ausstrahlung des Massakers von Sabra und Schatila, die er 1982 als sechsjähriger Junge im jordanischen Fernsehen verfolgte. Die Bilder der durch die christlichen Milizionäre brutal ermordeten, verstümmelten und geschändeten palästinensischen Frauen und Kinder verstörten ihn zutiefst und verfolgten ihn jahrelang. Die israelische Armee hatte dieses Grauen geschehen lassen und nicht eingegriffen; nachdem dies öffentlich bekannt wurde, musste Ariel Scharon zurücktreten.    

Wie immens der Hass der Araber auf die Besatzer, die Juden, ist, zeigte sich ihm, so Mansour, exemplarisch in jenem dritten Erlebnis: beim Angriff des Iraks auf Israel im Januar 1991. Als Vierzehnjähriger hörte er zusammen mit seiner Familie die Bombenexplosionen; nie mehr hatte er solche Angst wie an diesem Tag. Doch die Schreie, die Mansour nach dem Angriff hörte, waren nicht die des Sterbens, wie er zunächst dachte, sondern der Jubel der Nachbarschaft, dass ein arabisches Land es geschafft hatte, Israel anzugreifen, selbst wenn dies ihren eigenen Tod und den ihrer Kinder hätte bedeuten können. Mit den Parolen „Israel von der Landkarte löschen!“ großgeworden, erfuhr Mansour bald auch, dass es den Tätern egal war, ob unter ihren Opfern auch Palästinenser waren.   

Hoffnung auf eine friedliche Zukunft

Aber im Land der Gegensätze erlebte Mansour eben auch ein friedliches Zusammenleben von Israelis und Arabern. Feste, die Juden und Araber gemeinsam feiern, Läden, die sie gemeinsam besuchen, „Menschen, die einfach Nachbarn sind und ihren Alltag gemeinsam meistern.“ Doch dies findet, so der Autor, in den europäischen Medien tragischerweise kaum Beachtung. Dabei macht sein Resümee durchaus Hoffnung, denn das kriegserprobte und kriegsgebeutelte Land schaffe es seiner Ansicht nach immer wieder zu einem friedlichen Zusammenleben zurück zu finden:

Nicht, weil sich beide Gruppen so sehr lieben, sondern weil die Mehrheit auf beiden Seiten unser Land nicht den radikalen Randgruppen überlassen will, die genau diese Koexistenz zerstören wollen. Trotz der negativen Aspekte werden sich kaum arabische Israelis finden, die bereit wären in einem arabischen Staat zu leben. Denn demokratische, rechtsstaatliche Bedingungen und Wohlstand wie in Israel – das ist nirgendwo sonst im Nahen Osten zu finden.

Mansour habe, so sagt er, trotz vieler jüdischer Freunde die israelische Sicht auf sein Land erst seit seiner Ankunft in Deutschland verstanden. Es brauchte hierfür wohl die Distanz:

Der Wunsch der jüdischen Israelis, in Sicherheit und selbstbestimmt zu leben, die Angst vor einer neuen Vernichtung, die leider nicht unbegründet ist, treibt die Gesellschaft seit ihrer Gründung um und an. Ganze Staaten, Terrorgruppen und Ideologien wollen den jüdischen Staat nicht existieren lassen und kämpfen seit mehr als 70 Jahren systematisch gegen ihn an. Dass unter solchen Zuständen überhaupt demokratische Grundwerte erhalten geblieben sind, grenzt an ein Wunder. Und dass die Mehrheit der Israelis immer noch für die Zweistaatenlösung ist, ist ein positives Zeichen, das mir Hoffnung auf eine friedliche Zukunft gibt.

Israel- Zerrbilder und Fixierung

Die Zusammenfassung von Ahmad Mansours Geschichte zeigt neben all ihren persönlichen Zügen auch verbindende Elemente zu allen anderen Beiträgerinnen und Beiträgern auf, die aus ihren jeweils eigenen Blickwinkeln ebenfalls zu der kritischen Schlussfolgerung kommen, dass die europäischen Blicke von außen in erster Linie Zerrbilder von Israel produzieren: „Es ist so kompliziert und so anders als in Europa, dass der europäische Blick auf die Entwicklung vor Ort unsere Bewertung als Landsleute rasch verzerren kann.“

Mansour stellt fest, wie wenig sich die Menschen trotz ihrer gesteigerten Wahrnehmung von Israel und Juden für das sichtbare jüdische Leben interessieren: „Ihre Phantasmen kommen aus dem Internet, mit dem realen Leben haben sie wenig Verbindung.“

Dass das heutige Israel irritierend ist; ein lebendiges, selbstbewusstes Land voller Gegensätze und Widersprüche, scheint für viele Menschen nicht in das Bild eines festgefügten und dadurch Orientierung spendenden Opfer-Täter-Narrativs zu passen.  

Die Gefahr des Verstummens

Worte, darauf weist etwa Esther Shapira in ihrem Beitrag hin, können Bilder – äußere wie innere – allerdings nicht aufwiegen. Noch dazu in Zeiten von Deep fake: „und wenn Bilder zu zeigen scheinen, was wir zu wissen glauben, hat die Wahrheit kaum noch eine Chance.“

Für Zwischentöne, so stellt die versierte Fernsehredakteurin ernüchtert fest, sei „im ideologischen Getöse kein Platz“ und „Zwischenrufe verhallen in den Echokammern der eigenen Blase.“ Dies ist natürlich eine Aporie, der sich auch Beiträge und Rezensionen wie die vorliegende ausgesetzt wissen: sich sozusagen im permanenten Selbstgespräch mit Gleichgesinnten zu befinden.

Verständigung und fruchtbare Debatten setzen die Bereitschaft zuzuhören und Empathie voraus. Esther Schapira kommt dahingehend zu einem traurigen Fazit: „Wenn aber etwa bei der international wichtigsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst, der Documenta in Kassel, keine Künstlerin und kein Künstler aus Israel eingeladen wird, und „Multiperspektive“ und „Vielstimmigkeit“ bedeuten, dass viele Stimmen zu Wort kommen und auf die Bühne gebeten werden, die ihre ganze schöpferische Kraft dafür verwenden, den Judenstaat zu bekämpfen und von seiner Vernichtung träumen – was bleibt dann?“      

Analog zu Mansour kommen u.a. auch Peter Huemer, Joshua Sobal und Christian Ultsch in ihren historischen und politischen Analysen zu der bemerkenswerten Feststellung einer negativen „Israel-Fixierung“ nicht nur auf Ebene medialer Berichterstattung; sondern auch auf Ebene der globalen politischen Akteure, etwa der UNO und auch des Amnesty International, die Israel ungeachtet der Menschenrechtsverletzungen seitens großer Staaten wie etwa China oder Russland als einziges Land permanent auf der Tagesordnung haben. Phrasen einer grotesken Täter-Opfer-Umkehrung, der zufolge „Israelis die neuen Nazis“ seien, sind inzwischen zu salonfähigen Aussagen avanciert. Auch der Umstand, dass ungeachtet all der verheerenden Kriege, etwa in Syrien, „der Nahostkonflikt“ fast synonym für das kleine Land Israel verwendet wird, ist bedenkenswert.

Um auf Mansours Geschichte zurückzukommen – dieser berichtet von einer Diskussion mit Politikstudenten an einer deutschen Universität, wo er das Folgende zu hören bekam: Israel begehe einen „Genozid“ an den Palästinensern und verursache die meisten Konflikte in der Welt:

Auf meine Frage an die Gruppe, wie viele arabische Opfer es nach ihrer Schätzung seit der Gründung Israels durch den arabisch-israelischen Konflikt gab, waren sie schnell mit Zahlen bei der Hand. Einige mutmaßten: „So um die drei bis vier Millionen.“ Andere erklärten: „Bestimmt sechs Millionen Tote!“ Ich klärte sie darüber auf, dass offizielle Statistiken von etwa 100.000 Toten seit 1948 ausgehen – und dass es allein im syrischen Bürgerkrieg in den letzten acht Jahren fast eine halbe Million Tote gab. Dazu noch fast 90 Millionen Tote weltweit durch Kriege und Konflikte seit 1948. „Und woran erinnert euch die Zahl sechs Millionen?“ fragte ich noch. Mein Eindruck war, dass einige vor Scham nicht mehr aufblickten.    

Wo stehen Sie?

Und so schließt Ahmad Mansour seine Israel-Geschichte mit folgendem Resümee:

Die Gegenwart befindet sich nicht in einem Kampf zwischen Religionen oder „Kulturen.“ Es ist kein Wettstreit zwischen Juden, Muslimen und Christen. Es ist ein Kampf zwischen Demokraten und Antidemokraten. Auf der einen Seite stehen Rechtsradikale, Neonazis, Antisemiten, Islamisten, Linksradikale, patriarchalische Autoritäten und Ultranationalisten. Auf der anderen Seite stehen Demokraten, Grundgesetzpatrioten – Menschen, die für Frieden, Menschenwürde und Freiheit einstehen. Wo stehen Sie?       

Wo stehe ich?

Am Ende der bewegenden und auch erhellenden Lektüre dieses Buches, für das ich mir allerdings noch die eine oder andere Außenperspektive und mehr kritische Selbstbefragungen gewünscht hätte, wird jeder Leser darauf mit seiner eigenen Geschichte antworten müssen. Ob er nun mit ihr nach außen tritt oder ob er sie nur sich selbst erzählt.

Bleibt bei aller Skepsis gegenüber der Wirksamkeit von Worten ein Schalom, der Wunsch nach Frieden. Und auch die Hatikvah. Die Hoffnung darauf, dass die Menschen in und über Israel im Gespräch bleiben; einem Gespräch, das dieses Wort als ein Zuhören und Erwidern und Aneinander-Wachsen eines Tages vielleicht ja auch verdient. Aber, um mit David Ben-Gurion zu sprechen: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“  

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Israel. Was geht mich das an? Hg. von Erwin Javor und Stefan Kaltenbrunner. edition mena-watch. Wien 2022, 249 S., ISBN: 978-3-9505300-0-1, € 25,00

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