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24.10.2022, 10:30 Uhr
Corinne Theis
Rezensionen

Rezension zu Erwin Pfrangs neuem Gedichtband „Fingerspitzenhorizonte“

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Cover (c) Boer

Der 1951 in München geborene Maler, Zeichner und Autor Erwin Pfrang studierte an der Akademie der Bildenden Künste und verbrachte, von Aufenthalten in München und Augsburg unterbrochen, viele Jahre als freischaffender Künstler in Montepulciano, Val d'Orcia und Catania in Italien. Er ist der Enkel des Münchner Volkssängers und Humoristen Konstantin Pfrang (1870-1951). Derzeit lebt und arbeitet er in Berlin. Pfrangs bildnerische Werke sind u.a. vertreten in den Sammlungen des Museum of Modern Art, New York; Yale University Art Gallery; The Morgan Library; Graphische Sammlung, München; Albertina Museum, Wien; Pinakothek der Moderne, München sowie Saint Louis Museum, Missouri. Seine lebenslange Leidenschaft für die Literatur findet ihren Niederschlag u.a. in der Auseinandersetzung mit dem Werk des irischen Schriftstellers James Joyce. Nun sind eigene Gedichte Pfrangs zu seinen Bildern erschienen. Eine Besprechung von Corinne Theis.

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Bereits seit seinem Studium befasste sich Erwin Pfrang mit der Malerei und ist heute über die deutschen Grenzen hinaus für seine Kunstwerke berühmt. Stellt der gebürtige Münchner sein zeichnerisches Können auch in seinem neuesten Werk Fingerspitzenhorizonte unter Beweis, so tritt in diesem nicht weniger sein dichterisches Talent zutage. Dem Untertitel „Gedichte zu Bildern“ getreu werden die im Band abgebildeten Bilder nämlich von eigens von ihm verfassten Gedichten umrahmt. Letztere greifen dabei essentielle Elemente der Illustrationen auf, ohne jedoch selbst redundant zu wirken. Vielmehr erweist sich die Lyrik Pfrangs insofern als ein Zugewinn, als sie mit den jeweiligen Bildern korreliert und dem Werk damit poetische Qualität verleiht.

Indem die Bilder und Gedichte sich jeweils gegenseitig abwechseln und von letzteren nur vereinzelte einen Titel tragen, entsteht der Eindruck, als speise sich das Werk aus unterschiedlichen Bild- und Textreihen, bei denen die einzelnen Gedichte und Bilder einerseits für sich alleinstehen können, andererseits in der Gesamtschau ein zusammenhängendes Ganzes ergeben.

Bildet der Mensch den Mittelpunkt dieses sogenannten Ganzen, so finden auch wiederkehrende Motive, wie der Tod, Isolation, Krieg oder Erinnerung, kontinuierlich Eingang in die einzelnen Kunstwerke. Auffällig ist der religiös-christliche Hintergrund, vor dem sich sowohl die Texte als auch die Bilder bewegen; mehrmals handelt die Rede von der Vertreibung aus dem Paradies, Christus oder auch die Opferung Isaaks. Bereits auf die christliche Bedeutung hinweisend, beginnt der Band mit einem Gedicht namens „Entkreuzigung“, ein Okkasionalismus, der auf die Kreuzigung Christi anspielt und in dem es heißt: „Sterbend gab der Erkaltende uns / keine Schuld / am Sterben [...] / Sterbend gab der Vergebliche uns / alle Schuld / am Sterben“ (Entkreuzigung, S. 6). Mögen widersprüchliche Parallelismen wie diese, gepaart mit Wortneuschöpfungen, wie etwa der Vorgang des „Entkreuzigen“, und fehlende Erklärungen den Leser zunächst verwirren, so zeigt sich anhand dieser – und weiteren – Beispiele, inwiefern das lyrische Ich hier bewusst mit Leerstellen arbeitet, die der Leser selbst mittels Eigeninterpretationen füllen muss. Gleiches gilt für die Bilder: Finden sich hier realistische Elemente wieder, sind sie darüber hinaus durch ein abstraktes, expressionistisches Moment gekennzeichnet. Dieses zu deuten und mit den Gedichten in Verbindung zu setzen, obliegt auch hier dem Betrachter. Allein infolge solcher Zwischenräume gewinnt der Gedicht- und Bildband eine besondere und zugleich spannende Eigendynamik.

Der Krieg als Mahnmal
Von den vielen Gedichten und Bildern, die es verdienten hervorgehoben zu werden, stechen vor allem jene heraus, in denen der Krieg Gegenstand der dichterischen und malerischen Auseinandersetzung ist. Diese berühren umso mehr, als der Krieg nicht mehr der Vergangenheit angehört, sondern gegenwärtig im Herzen Europas erneut stattfindet; und es offenbart sich in ihnen auch die Unerbittlichkeit, schwindende Zuversicht und Todesangst, die mit kriegerischen Konflikten unweigerlich einhergehen.

So unter anderem in dem Gedicht Dialog: Das lyrische Ich beschreibt hier den Vater eines Jungen, der „abgeschnitten zwischen den Schüssen / in seinem Graben“ in gebückter Haltung sitzt. Von der eigenen Familie getrennt, bleibt dem Soldaten nichts, als „von der Luft [zu leben], die er duzt: / Luft, steinerne, sprich, / ich habe dich etwas gefragt! // Sie antwortet nicht.“ (Dialog, S. 68). Die doppelte Leerzeile zwischen der Frage des Vaters und der ausbleibenden Antwort der personifizierten Luft unterstreichen zum einen das Verhängnis einer exemplarischen Kriegssituation; zum anderen Verzweiflung und Einsamkeit jener Menschen, die, getrennt von Zivilisation und Alltag, einen Krieg führen müssen, der sie möglicherweise ihr Leben kostet. Die Tragik und Hoffnungslosigkeit werden darüber hinaus durch das Symbol des wegfliegenden Maikäfers – häufig als Glücksbringer benutzt – visualisiert: Sie „fliegen fort, fliegen fort, / wollen nicht gezahlt sein, / vom Vater, / der im Krieg ist.“ (Dialog, S. 68)

Ähnlich auch in einem anderen Gedicht, Maikäfer flieg: „Kein Maikäfer fliegt / Einen Krieg sieht man auch nicht / Unsichtbar. Stummer Krieg.“ (Maikäfer flieg, S. 74) An einer weiteren Stelle berichtet das lyrische Ich aus der Perspektive eines Jungen, der die Erwartung an eine heilvollere Zukunft auf die kindliche Naivität baut, den Vater nach dem Krieg wieder an dem normalen Alltag teilhaben zu lassen: „Vater kommt, holt mich / pünktlich von der Schule / ab. Wenn der Krieg aus ist, / genau / auf die Sekunde.“ (S. 78) Mit der Gewissheit, dass zahlreiche Väter nicht von der Front heimkehren, gewinnen diese wenigen Verse an Ausdruckskraft, die in ihrer Tragik fast nicht zu überbieten ist.

In diesem Zusammenhang stehen auch die Gedichtabschnitte S. 10 und S. 28. In beiden geht es unterschwellig um die kriegsversehrten Soldaten. Während die Soldaten schlichtweg verdinglicht, ihre Wunden bzw. Körperteile „[z]usammengebastelt“ werden und das Krankenhaus mit einem „Ersatzteillager“ verglichen wird (S. 28), handelt das Gedicht auf S. 10 von Stümpfen amputierter Körperglieder. In beiden Gedichten werden die Wunden beschwichtigt – es scheint, als versuche das lyrische Ich auf die mangelnde gesellschaftliche Anerkennung gegenüber diesen Menschen hinweisen zu wollen. Darauf deuten zumindest die Verse, in denen die Gesellschaft versucht, über die „zurechtgeschmickt weiß[en]“ Stümpfe hinwegzusehen und den Patienten anstatt „Heilung“ lediglich eine schmerztilgende „Narkose“ zuzuführen. Das Leiden der Verwundeten visualisiert Pfrang indes ausdrucksstark in seinen diesbezüglichen Bildern; in ihnen zeigen sich isolierte Menschen mit leidvollen und leeren Gesichtern.

Erinnerung und Verantwortung
Wird in jenen Gedichten bereits der Mangel an Beistand und Empathie seitens der Mitmenschen kritisiert, wird die gesellschaftliche Kritik auch an anderen Stellen des Gedichtbands deutlich. In zahlreichen Gedichten und Bildern werden Menschen als Puppen beschrieben oder als solche gezeichnet – oftmals in einer kokonartigen Hülle, die jedes Handeln unmöglich macht. Damit stimmen auch die leeren, fast schon lethargisch anmutenden Gesichtsausdrücke der dargestellten Menschen überein. In den Gedichten wird diese Immobilität und emotional unnahbare Wesenhaftigkeit mit dem metaphorischen Motiv der „Vitrinen“ (S. 18) oder des „Schaufensters“ symbolisiert. In einem weiteren Gedichtabschnitt ist hyperbolisch sogar von einer „Schaufensterlunge“ (S. 100) die Rede. Mittels solcher Metaphern oder Formulierungen, wie etwa „Erzogen zur Kälte, / unter Glas / das Ticken / der Herzen“ (Örtlich betäubt, S. 82), soll dargestellt werden, inwiefern die Menschen nicht nur taub gegenüber ihrem Umfeld, sondern auch gegenüber ihrer nationalen Vergangenheit sind. Auf Letzteres deutet zumindest der Gedichtabschnitt S. 84. Betont das lyrische Ich: „Mumien sind wir, die ihr Antlitz verhüllen / vor Scham und den Verbrennungen 3. Grades – / so beteuern wir unsre Unschuld“ (S. 84), so sind damit jene Menschen gemeint, die die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und das nationalsozialistische Terrorregime aus Scham oder Ignoranz verdrängen. Darauf lässt auch die dazugehörige Zeichnung schließen, zeigt diese nicht zuletzt zahlreiche Leichen, die unter anderem in Gefängniskleidung auf dem Boden liegen und von stehenden Menschen zertreten werden. Das Gedicht, wie der gesamte Band legen demgegenüber nahe, dass, selbst wenn die Fehler von vergangenen Generationen begangen wurden, die Menschen der Gegenwart dennoch eine Verantwortung zu tragen haben: „Der Freispruch bleibt aus“ (S. 84).

In diesem Zusammenhang wichtig zu nennen ist das Gedicht Vielerorts. Mit Versen wie „Vielerorts im Aussterben begriffen: der Beruf / des Erinnerers“ (Vielerorts, S. 70) bemängelt das lyrische Ich das fehlende Bewusstsein der Menschen gegenüber dem nationalen Gedächtnis und übernimmt zeitgleich eben jene Funktion. Wiewohl nicht vollends belegt werden kann, dass der Dichter sich mit jedem Kriegsgedicht auf das nationalsozialistische Regime beruft, zeigt er anhand von Versen, die sich auf Schilder abgedruckte Parolen beziehen, die mit Juden verkehrende Menschen vor sich her tragen mussten („Ich bin am Ort das größte Schwein / und laß mich nur mit Zigeunern ein“, Piazza Carlo Alberto, S. 32), wie sehr er sich mit dieser Vergangenheit auseinandersetzt und der Ungerechtigkeiten erinnert. Auch beim Lesen von Versen, in denen von einer „Handschellen Zeit“ (S. 62) die Rede ist, und ein Mund – pars pro toto für die Individuen – sich zwar auftut, letztlich jedoch „lautlos erstarrt / zum Schrei der Versäumnis“ (S. 62), schwingt unweigerlich der Gedanke an den Nationalsozialismus mit. Ebenso bemerkenswert ist ein Gedicht, das in memoriam Georg Benjamin, den Bruder Walter Benjamins, verfasst wurde. Der Kinderarzt war als Widerstandskämpfer tätig, verlor letztlich sogar sein Leben. Das „verschwundene Mahnmal“ (S. 14), für das NS-Opfer wie Georg Benjamin stehen, wieder ins Leben zu rufen, an die Leiden der Flüchtlinge, die aus der Heimat „Verjagten“ (S. 14), zu erinnern, ist eines der primordialen Ziele dieses Gedichtbands.

Fazit
„[W]er hätte die Zärtlichkeit ohne die Spitzen der Finger?“ (Semiotik der Finger, S. 38) Mit Versen wie diesen stellt Pfrangs Band Fingerspitzenhorizonte seine Leser vor Herausforderungen, verlangt er von diesen doch ein scharfes Augenmerk und Sinn für eigene Interpretationen. Nichtsdestoweniger kann konstatiert werden, dass inmitten der persönlichen, biografischen sowie gesellschaftskritischen und kommemorierenden Kunstwerke letztlich ein Werk entstanden ist, das die Leser fordert und zum Nachdenken anregt. Pfrang setzt auf deren Verantwortungsbewusstsein, hält sie dazu an, die Fehler vergangener Generationen anzuerkennen, aus ihnen zu lernen und verantwortungsvoll mit der Zukunft umzugehen. Nicht die Augen vor Ungerechtigkeiten zu verschließen, aus dem sogenannten Schaufenster hervorzutreten, sich zu „entmumifizier[en]“ (Frühling, S. 66) und der Empathie eine Chance zu geben. Vielleicht lässt sich mit dieser Einsicht auch der Titel Fingerspitzenhorizonte verstehen. Mit den „Fingerspitzen“ als Metapher für das Zärtliche und den „Horizonten“ als geistige Weiten des Menschen schafft Pfrang eine okkasionalistische Komposition, die das einhält, was der Band verspricht: das Bewusstsein für die eigenen Grenzen – vielleicht sogar die eigene Komfortzone – zu schärfen, über diese hinauszugehen und empathischer mit dem Umfeld und der Vergangenheit umzugehen. Dass Pfrang dies für möglich erachtet, deutet zumindest eine seiner letzten Zeichnungen an, eine Eigeninterpretation von Eugène Delacroix' La liberté guidant le peuple – Marianne, die Nationalfigur der Französischen Republik: „Barbusig fährt auf zwei Narben / die Freiheit stadtauswärts“ (S. 104).

 

Erwin Pfrang: Fingerspitzenhorizonte. Gedichte zu Bildern. Mit 52 farbigen Abbildungen. Boer Verlag, Berlin, 112 S., Hardcover mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-96662-275-2, € 36,00