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16.11.2021, 16:24 Uhr
Corinne Theis
Rezensionen
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© Mara Eggert

Rezension zu Andrea Heusers neuem Roman „Wenn wir heimkehren“

Andrea Heuser (*1972 in Köln) lebt mit ihrer Familie in München und verfasst Lyrik, Romane, Essays und Libretti. Daneben ist sie als Übersetzerin tätig. Ihre literarischen Arbeiten wurden in der Vergangenheit vielfach ausgezeichnet – u.a. für ihr Lyrikdebüt vor dem verschwinden bei onomato erhielt Heuser 2007 den Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis. Nach ihrem Debütroman Augustas Garten (2014), erschien nun im August 2021 Heusers zweiter Roman mit dem Titel Wenn wir heimkehren im DuMont Verlag.

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Das jüngst erschienene Werk Andrea Heusers ist, wie sie in der vierundzwanzigsten Folge des Podcasts DuMont auf Sendung – Der Podcast mit Büchern, erläutert, autobiographisch fundiert. Die Idee, ein solches Werk zu verfassen, habe sie lange begleitet, doch habe sie diese erst mit dem Tod der Großeltern für realisierbar empfunden. Aus der Mischung von Erinnerung, „Einfühlung und Erfindung“ ist ein fast 600 Seiten schwerer Roman entstanden, in dem eine erzählte Zeit von 88 Jahren nachskizziert wird. Vor diesem Hintergrund erscheint der Versuch einer Rezension eines solch umfangreichen Romans zunächst als schwieriges Unterfangen, werden hier doch ebenso viele Personen vorgestellt und miteinander verknüpft wie Fragen aufgeworfen und unbeantwortet bleiben. Jemand, der das Werk in seiner vollen Gänze gelesen hat, weiß daher, dass es am sinnvollsten ist, das Werk Heusers von seinem Ende her zu betrachten.

Auf 587 Seiten begleitet der Erzähler den Leser von den Dreißiger Jahren – der Kindheit bzw. Jugend Willis und Margots – bis in die Gegenwart, in der die beiden bereits verstorben sind und ihre Enkelin Lara erwachsen ist. Eine erzählte Zeit von fast 90 Jahren in einem Werk zu komprimieren, mag auf den ersten Blick ein zum Scheitern verurteiltes Wagnis sein; und doch gelingt Heuser eben dies, ohne dabei auf detailreiche Beschreibungen verzichten zu müssen.

Einer der Gründe für dieses Gelingen liegt sicherlich an dem gut gewählten formalen Aufbau der Erzählung, die sich in zwei Teile, „Wie das Licht fällt“ und „Das Winkelhaus“ gliedert. Während der erste die Jahre 1952 bis 1969, und damit das Leben von Margot, Willi und Fred nach deren Kennenlernen nachzeichnet, deckt der zweite die Zeit von 1972 bis zur Gegenwart ab, also jene Jahre, in denen Fred Vater wird und seine Tochter Lara zur jungen Frau heranwächst.

„Vielleicht war es das Licht“

In beiden Teilen stehen vor allem Margot und Willi – denen im Übrigen der ganze Roman gewidmet ist – weitestgehend im Vordergrund. Die Geschichte setzt 1952 in medias res mit dem Kennenlernen der beiden Protagonisten in Köln ein. Willi, der von Beruf Handwerker und Maurer ist, wird von Margot beauftragt, eine Wand so in ihrer Wohnung einzuziehen, dass sie dem Raum jede Helligkeit nimmt. Die Körpersprache der zwei – sowie die Tatsache, dass es beiden Protagonisten in der Folge unmöglich ist, ihre Gedanken voneinander loszusagen – signalisiert dem Leser von Anbeginn, dass sich zwischen ihnen eine innige Liebschaft entwickeln wird. Dass diese Romanze – entgegen bereits allen gefassten Befürchtungen – schließlich doch nicht zu einer trivialen und gar eintönigen Liebesgeschichte ausufert, verdankt der Roman nicht zuletzt seinen wechselnden Erzählperspektiven.

Mit jedem Kapitel wechselt nämlich zugleich auch die Figur, aus deren Sicht die Ereignisse wahrgenommen werden; diesbezüglich wird die Geschichte im ersten Teil aus den Perspektiven Margots, Freds und Willis geschildert. Im zweiten Teil fokussiert die Erzählung sich schließlich weniger auf Willis, als vielmehr auf Laras Sicht der Dinge. Zudem wird gelegentlich auch Agnes, Margots Tochter, die bei ihrem Vater aufgewachsen ist und in den 1970er-Jahren plötzlich auftaucht und Margot um Geld bittet, mit einbezogen. Obwohl dieser ständige Wechsel – der oft mit einem Orts- und Zeitwechsel einhergeht – für den Leser zu Beginn der Lektüre eine Herausforderung darstellt, so überwiegen doch die Vorzüge dieser Erzählweise: Vor allem gestaltet sich die Geschichte auf diese Weise weniger monoton, da nicht nur mit dem Ende jedes Kapitels auch eine Art Cliffhanger entsteht, sondern sich mit jeder Figur zugleich auch die Erzählstimme, der Ton der Darstellung, verändert. Entsprechend wirken die aus der anfangs kindlichen Sicht Freds, und später auch Laras, geschilderten Passagen deutlich naiver und unschuldiger als die prosaisch gehaltenen Passagen, die sich auf Willis Perspektive konzentrieren. Am wohl angenehmsten zu lesen sind vor allem die Kapitel, in denen Margots Sicht eingenommen wird; in ihrer poetisch anmutenden Sprache und ihren bedachten Überlegungen scheint nicht nur einmal Heusers Affinität zur Lyrik durch.

„Nur was nicht aufhört wehzutun, bleibt im Gedächtnis“ (Friedrich Nietzsche)

Inmitten dieser wechselnden Perspektiven bilden die Analepsen, die den Leser in den Zeitrahmen von 1933 bis 1952 zurückversetzen, Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Durch sie erhält er Kenntnis von Margots und Willis Leben vor und während des Zweiten Weltkriegs, ihrem Leben nach 1945 und welche Umstände schließlich zu ihrem Kennenlernen geführt haben. Bereits auf den ersten Seiten wird geschildert, wie Willi in Köln aufwächst, als junger Soldat an der Kriegsfront beteiligt ist, mit nur neunzehn Jahren durch einen Lungensteckschuss fast tödlich verwundet wird und wie er Wochen nach Kriegsende bei Aufräumarbeiten hilft: „In den ersten Nachkriegswochen hatten seine Hände, Soldatenhände, unter dem Schutt Schädel und Knochen hervorziehend, so unkontrollierbar gezittert, dass er seinen Gliedern schließlich nur noch hilflose Kommandos zumurmelte.“ (S. 15)

In den Rückblenden um Margot reist der Leser an jenen Ort zurück, an dem Margot groß geworden ist: Luxemburg. Aus wohlhabendem Hause stammend, wächst die junge Margot mit ihren Geschwistern und Eltern in Echternach auf. An ihren Erinnerungen wird deutlich, wie sehr der Zweite Weltkrieg und die deutsche Okkupation das Leben und Handeln der Luxemburger seinerzeit beeinträchtigte:

Alles ließ sich lernen. Vor allem im Krieg. Sie selbst lernte an jenem 10. Mai 1940, dass ihr fortan nur in der deutschen Sprache zu reden erlaubt war. [...] Ablegen: Führungspositionen, Karrieren, Berufe. Umlernen: Eigennamen, Straßennamen, Ländernamen, Werte. Unwerte. Alles ließ sich lernen. (S. 79)

Wie einschneidend der Hass zum „Feind“ (S. 165) auch auf ihr privates Umfeld übergreift, muss Margot bzw. Margarete am eigenen Leibe erfahren, als sie von einem verheirateten deutschen Oberleutnant namens Alois Breuer schwanger wird. Als sog. „Kollaborateurin“ (S. 179) sieht Margot sich mit nur siebzehn Jahren gezwungen, aus ihrer Heimat zu flüchten. Sie zieht nach Trier, wo sie ihren Sohn Fred – angelehnt an das luxemburgische Sprichwort „E Gräppche vol Fred“ (S. 191) – zur Welt bringt und den Offizier Hermann Heider heiratet: Nachdem dieser sie, vor allem aber Fred misshandelt, flüchtet sie mit ihrem Sohn nach Wiesbaden, wo sie Johan de Boer kennenlernt. 1952, der Kontakt zur Familie in Luxemburg ist fast vollends abgebrochen, zieht Margot mit Fred nach Köln in die Zweitwohnung Johans. Hier stößt sie schließlich auf Willi, und die Liebesgeschichte der beiden nimmt ihren Lauf.

Je weiter die Lektüre des Werks voranschreitet, desto deutlicher stellt sich heraus, wie sehr Vergangenheit und Gegenwart ineinander verflochten sind. Obwohl Margot alles daransetzt, jegliche Erinnerungen an ihr früheres Leben zu verdrängen und aus ihrem jetzigen Dasein zu streichen, bleibt die Vergangenheit dennoch bestehen und holt sie immer wieder ein.

Wenn die Analepsen zu einem großen Teil in Form von Erinnerungen dargestellt werden, so zeigt dies, dass sowohl Margot, als auch Willi sich nicht von ihrer Vergangenheit lossagen können. Noch Jahrzehnte nach Willis Lazarettaufenthalt in Brno bewahrt er beispielsweise das Bild, das die Krankenschwester Eliška ihm bei seinem Abschied geschenkt hat, in Ehren und erzählt seinen Enkeln von den Ereignissen. Noch stärker als Willi hadert jedoch Margot mit ihren Erinnerungen; immer wieder denkt sie an ihre Kindheit zurück, sehnt sich nach den glücklichen Tagen. Selbst in banalen Alltäglichkeiten, wie beispielsweise einem Abendessen mit Johan, wird sie aus der Gegenwart herausgerissen und gänzlich von ihrer Erinnerung absorbiert.

Fazit

Jemandem ein Buch zu empfehlen ist immer ein heikles Vorhaben – über Geschmäcker lässt sich bekanntlich streiten und bei dem Buch Wenn wir heimkehren von Andrea Heuser ist es sicherlich nicht anders. Aus persönlicher Sicht sollte der Autorin bereits für die Entscheidung, Luxemburg – ein Land, dessen Kulturgut nicht jedem bekannt ist und das anderweitig nicht so stark in der deutschen Literatur vertreten ist – als Heimatort der Protagonistin auszuwählen, Lob ausgesprochen werden. Mit der Beschreibung des Großherzogtums werden dem Leser nicht nur die Schönheit der luxemburgischen Sprache sowie die idyllische Naturpracht des Mëllerdalls und Liebreiz Echternachs bzw. der Sankt-Willibrord-Basilika vergegenwärtigt – auch werden ihm einige der identitätsraubenden Folgen vor Augen geführt, die die deutsche Besatzung in Luxemburg für die Einwohner hatte.

Glanzpunkt des Romans bleiben jedoch die zahlreichen Rückwendungen und Erzählperspektiven: Ihr Zusammenspiel verleiht dem Roman eine Tiefe, die weit über die einer herkömmlichen Liebesgeschichte hinausgeht, und die man als Leser anfangs nicht vermutet hätte. Je weiter man liest, desto mehr öffnet sich einem eine existenzielle Ebene, die Fragen nach dem eigenen Dasein aufwirft und von der Diskrepanz zwischen Schuldzuweisung und Verdrängung, Liebe und Verachtung, Resignation und Sehnsucht lebt. Interessant ist hierbei, dass, obwohl die individuellen Figuren sich in ihrer Haltung und ihrem Umgang mit dem Vergangenen so sehr voneinander unterscheiden, sie doch alle von der – vom Krieg gezeichneten – Familiengeschichte geprägt worden sind.

Selbst wenn diese vielen Perspektivenwechsel und Zeitsprünge zum Teil eine aufmerksame Lektüre erfordern, so regt die Kombination aus beidem den Leser auch zum Nachdenken an. Was bedeutet einem die Heimat, was weiß man wirklich über seine Nächsten und wie geht man mit der kulturellen, aber auch der Vergangenheit der eigenen Familie um? Mir persönlich wurde anhand dieses Werks deutlich vor Augen geführt, dass Vergangenheit, selbst wenn sie einem für immer verloren scheint, dennoch weiterlebt; sie lebt in der Gegenwart fort und beeinflusst die Zukunft. Und genau dies sollte vielleicht auch mit dem der Geschichte vorausgehenden Zitat von Henrik Ibsen gemeint sein: „Ewig besitzt man nur das Verlorene“.

 

Andrea Heuser: Wenn wir heimkehren. Roman. DuMont Buchverlag, Köln 2021, 592 Seiten, gebunden mit Lesebändchen, ISBN 978-3-8321-9811-4, € 24