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04.11.2021, 12:37 Uhr
Matthias Bauer
Rezensionen
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In ihrem Debütroman schildert Anna Neder von der Goltz, wie eine junge Frau dem Schicksal entkommt

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(c) Königshausen & Neumann

Anna Neder von der Goltz (*1957 in Unterfranken) studierte Sonderpädagogik und Theaterwissenschaft. In Philosophie promovierte sie zum Thema Jugend und Tod und unterrichtete viele Jahre an Schulen und Hochschulen. Seit 2014 veröffentlichte sie Erzählungen in zahlreichen Anthologien und zwei Erzählbände. Sie ist Preisträgerin von »StadtLesen« 2020 und lebt in Nürnberg. Ihr Debütroman Martha schweigt (2020) stand auf der Longlist des Blogbuster Preises 2018. Der Roman ist eine Hommage an eine starke, unvergessene Frau, die aufbegehrt gegen alte traditionelle Rollenbilder. Eine Rezension von Matthias Bauer.

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Die heile Hölle der Dorfwelt ist ein Topos des Anti-Heimatromans. Wie das aus Verstrickung und Verdrängung geknüpfte soziale Band dieser Welt aufrechterhalten wird, nämlich durch das Beschweigen von Ungerechtigkeit und Gewalt sowie durch den Ausschluss aller, die gegen dieses Schweigegebot verstoßen, haben Autoren, gefolgt von Filmemachern, seit dem 19. Jahrhundert aufgezeigt. Es bedarf daher schon eines besonderen Drehs, um Leserinnen und Leser im 21. Jahrhundert noch einmal mit diesem Sujet zu konfrontieren und erneut die Beklemmung heraufzubeschwören, die ihm innewohnt.

Anna Neder von der Goltz gelingt dies in ihrem Debüt Martha schweigt, indem sie die Traumata der Dorfwelt in der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg verortet und ihre Figuren nicht nur in den konzentrischen Kreisen der Hölle anordnet. Vielmehr zeigt sie anhand ihres leidgeprüften Personals Wege aus dem Inferno auf, ohne dabei auf eine metaphysische Instanz oder die religiöse Fiktion des Purgatoriums zu setzen. Die Geschichte, die Anna Neder von der Goltz erzählt, ist durch und durch säkular, auch wenn zum Figurenensemble zwei Pfarrer gehören. Der eine lebt mit seiner Haushälterin und drei gemeinsamen Kindern zusammen und wird im Dorf anerkannt, weil er sich auch für schmutzige Ausbesserungsarbeiten an der Kirche nicht zu schade ist; der andere wird durch das Schicksal seines Bruders, eines Lehrers, geprägt, der sich unter den Nationalsozialisten als Propagandaredenschreiber verdingen musste, nachdem er sich gegen die Ausgrenzung von jüdischen Schülerinnen ausgesprochen hatte, und dann, nach dem Zusammenbruch, wegen dieser Tätigkeit von den Amerikanern verhaftet und verurteilt wurde. Dieser Pfarrer weiß nur zu gut, wie kompliziert die Dinge sind, komplizierter jedenfalls als alle Urteile, dass der liebe Herrgott schlechterdings nicht alles übernehmen kann und die Menschen vor allem dann aufeinander angewiesen sind, wenn es darauf ankommt, einander zu verzeihen.

Daher hat er auch keine Vorbehalte die junge Frau im Gefängnis zu besuchen, die in einer Übersprunghandlung das Kind getötet hat, das ihrer Vergewaltigung durch den Dorflehrer entstammt, und sich selbst nicht verzeihen kann. Der Täter gehört seinerseits zu den traumatisierten Gestalten des Romans und versucht sich am Ende seines Lebens an einer Wiedergutmachung. In Martha schweigt gibt es keinen Lebensentwurf, der nicht durch andere Menschen durchkreuzt wird – sei es in Folge unverdienter Schicksalsschläge, sei es aus Gemeinheit und Rücksichtslosigkeit. Und doch gibt es inmitten all der Indolenz auch solidarische Aktionen und – was noch wichtiger ist – beherzte Akte der Selbstermächtigung. So liegt die Pointe der Geschichte, die hier nicht verraten werden soll, darin, dass die Titelfigur schließlich auch das Schweigen, das ihr zunächst als Zwang auferlegt wird, von einer Not in eine Tugend verwandelt, die sich zwar nicht mit der christlichen Verhaltensmoral, wohl aber mit der Lebensklugheit vereinbaren lässt, die sie durch Erfahrung gewonnen hat.

Bis es soweit ist, muss diese Schmerzensfrau viel erdulden. Stumm nimmt sie Übergriffe und Missverständnisse, Zurücksetzung und Häme, Ausgrenzung und Demütigung hin, aber zu keinem Zeitpunkt sinnt sie auf Rache oder Vergeltung. Sie liest, nachdem ihr Plan, auf die Hauswirtschaftsschule zu gehen und Handarbeitslehrerin zu werden, vereitelt worden ist, Anna Karenina von Tolstoi und wohl auch Schuld und Sühne von Dostojewski, doch literarturhistorisch betrachtet steht sie Fontanes Mathilde Möhring näher als den Gestalten dieser russischen Romane.

Denn Martha arbeitet unentwegt an sich und ihrem bescheidenen Glück, nur dass sie beinahe zu spät erkennt, mit wem sie es finden kann. Da ist Paul, den sie eigentlich liebt; und da ist Edwin, der wiederum sie liebt. Und da ist das tote Kind, dem sie in ihrer Verzweiflung Briefe schreibt. So, durch das Schreiben, erlangt sie die Urheberschaft über ihr Dasein, das ihr zuvor praktisch alle anderen im Dorf, wohl- oder übelmeinend, strittig gemacht hatten, und durchbricht die Ananke, die sie an ihre Herkunft kettet.

Zugleich ist es dieser Akt der Selbstermächtigung, der sie mit den besseren Menschen in ihrem Dorf verbindet und von den Frauen in der Stadt trennt, die sich nichts erarbeiten müssen und gleichwohl auf die vermeintliche Landpomeranze herabblicken. Dass sich Martha am Ende gegen die Rückkehr in ihr Dorf entscheidet, die ihr andere nahelegen, ist dennoch konsequent. Denn darin, dass sich ein Mensch über die engen Grenzen seiner Herkunft hinaus entwickeln muss, ist sie sich mit beiden Männern, mit Paul wie mit Edwin, einig.

Die Stärken des Romans liegen zum einen in der glaubwürdigen Verknüpfung zahlreicher Lebenswege mit den Sollbruchstellen der Weltgeschichte, in deren Strudel die Dorfgemeinschaft gerät, sowie zum anderen in der sprachlichen Gestaltung der historischen, sozialen und politischen Zusammenhänge. Die Darstellung ist jederzeit an Erlebnisperspektiven gebunden, aber niemals sentimental oder gar larmoyant. So oft die Handlung Anlass zum Weinen bietet, so nachhaltig ist die Autorin bemüht, weder Verzweiflung noch Selbstmitleid aufkommen zu lassen. Sie setzt das Einfühlungsvermögen der Leserinnen und Leser voraus und kann sich daher auf die genannten Sollbruchstellen konzentrieren, die zugleich Kerben und Wegmarken, Narben und Wendepunkte der Geschichte sind. Wie sich im Einzelnen der Übergang von den traumatischen Spuren des Dorflebens zu den Lebensbahnen vollzieht, die aus dem inneren Kreis der Hölle nach außen, ins Freie führen, wird in diesem Roman prägnant geschildert und ist, wenn auch selten erbaulich, insgesamt doch spannend und aufschlussreich zu lesen.

 

Anna Neder von der Goltz: Martha schweigt. Roman. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2020. ISBN: 978-3-8260-7256-7, € 22,80

Matthias Bauer ist Germanist, Film- und Medienwissenschaftler und seit 2007 Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Flensburg. Kontakt: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.