Rezension zu Johannes Schweikles „Roman einer deutschen Stadt“
Johannes Schweikle (*1960 in Freudenstadt) schrieb in München für die Süddeutsche Zeitung und arbeitet als freier Autor u.a. für DIE ZEIT, FAZ, GEO und brand eins. Seine Erzählungen und Romane spannen den Bogen von der Gegenwart zu historischen Stoffen. 2017 erschien seine Romanbiografie Die abenteuerliche Fahrt des Herrn von Drais bei Klöpfer & Meyer. Nun hat Johannes Schweikle einen neuen Roman vorgelegt: Grobe Nähte, ebenfalls bei Klöpfer & Meyer. Es ist eine Art „Blitzlichtroman“, der in München spielt, während der sog. Flüchtlingskrise 2015. Klaus Wolf, Professor für Deutsche Literatur und Sprache in Bayern an der Universität Augsburg und Vorsitzender des Literaturschlosses Edelstetten e.V., hat Schweikles Roman gelesen.
*
Trotz des momentanen Hypes um die gegenwärtigen roaring twenties in der literarisch angeblich so angesagten Bundeshauptstadt Berlin, es gibt ihn noch: den München-Roman. Denn München leuchtete lange im 20. Jahrhundert in einer eigenen Romangattung, welche die Stadt an der Isar (und in der Prinzregentenzeit sogar Schwabing speziell) zum Gegenstand oder zumindest zum Schauplatz machte. Und zu Unrecht weitgehend vergessen ist heute der Roman Das Erwachen von Josef Ruederer, der im frühen 20. Jahrhundert historisch feinsinnig und in ironischer Personencharakterisierung den Weg zur Münchner Spielart der Revolution von 1848 zeichnete. Geradezu monumental in der dargestellten Breite wie präzise im Detail ist das Bild, das Lion Feuchtwangers Erfolg von den politischen Irrungen und Wirrungen der frühen Zwanzigerjahre Münchens entwirft. Und für die Zeit der Bundesrepublik Deutschland vor der Wiedervereinigung seien die damals überaus erfolgreichen München-Romane von Wolfgang Koeppen sowie Sigi Sommer genannt. Für breitere Rezipientenschichten bis heute prägender dürfte freilich das München-Bild sein, das der geniale Urmünchner Drehbuchautor und Regisseur Helmut Dietl mit seinen in München spielenden Filmen und Serien hinterlassen hat.
In dieser durchaus Ehrfurcht gebietenden Tradition steht Grobe Nähte, dessen Cover bereits die Münchner Stadtfarben (ironisch verfremdet) herbeizitiert. Der neue Roman des zeitweiligen Wahlmünchners Johannes Schweikle skizziert vor diesem Hintergrund mit kunstvoll wechselnden Erzählperspektiven eine Münchner Momentaufnahme aus dem Jahr der sogenannten Flüchtlingskrise. Im Mittelpunkt stehen der für den (leicht als FC Bayern erkennbaren) führenden Fußballclub kickende Stürmerstar Victor, der Musiker Benedikt und der Journalist Korbinian. Alle drei leben in München, wobei sich ihre Lebenslinien sowie teilweise die ihrer Partnerinnen Eva und Annalena je länger je mehr kreuzen. Durchaus überwunden werden dabei die breiten Straßen, welche als „grobe Nähte“ die Stadtviertel (S. 9) und sozialen Schichten beziehungsweise Milieus trennen. Große Gemeinsamkeiten haben sie vordergründig nicht. Der Fußballer Victor stammt aus Nigeria und wird für seine Tore gefeiert, lebt aber in einer von der Vereinsleitung erzeugten künstlichen Blase. Benedikt spielt Blasinstrumente für diverse Ensembles verschiedener Stilrichtungen und wartet auf seinen beruflichen Durchbruch. Korbinian Moser schreibt als engagierter Journalist für die (leicht zu erkennende) SZ. Mit seiner Familie lebt er in einem angesagten Viertel unter ökosozial Gleichgesinnten. Dann kommen doch überraschend die Flüchtlinge, und die reiche Stadt München empfängt sie zunächst mit offenen Armen.
Die ersten Probleme beschäftigen allmählich die Alteingesessenen, die sich teilweise zerstreiten, wie etwa Benedikts WG. Auch die anfänglich glänzende Karriere von Victor erfährt diverse Eintrübungen. Der Journalist Korbinian und seine Frau erfahren, dass ihre Ideale im Münchner Alltag angefochten werden, wenn Geflüchtete zu Nachbarn werden. Dabei insinuiert der Romantitel die Ambivalenz von groben Nähten zwischen Zusammenhalt und drohender Zerreißprobe. Er bedient sich durchgehend gekonnt den Mitteln von Ironie und Satire, ohne zu dick aufzutragen. Freilich merkt man immer wieder, dass der Autor ein Zuagroaster ist (wie übrigens viele bedeutende Münchner Literaten vor ihm, von Korfiz Holm bis Thomas Mann), denn manches wirkt dann doch mehr oberflächlich angelesen, störend ist etwa „blau-weiß“ statt „weiß-blau“. Und bitte „Bairisch“ (S. 21: „Englisch, Deutsch und Bayrisch“)! Wohler fühlt sich der Autor aus Freudenstadt in seiner Heimatmundart und gibt gelegentliche schwäbische Originaltöne authentisch wieder. Geglückt aber ist in der Summe die Momentaufnahme über die sogenannte Flüchtlingskrise in München. Eine Fortsetzung mit dem selben Romanpersonal etwa zu den coronärrischen Verhältnissen unserer Tage wäre wünschenswert. Auch dafür wäre die distanzschaffende ironische Erzählhaltung von Johannes Schweikle eine Wohltat.
Johannes Schweikle: Grobe Nähte. Roman einer deutschen Stadt. Alfred Kröner Verlag – Edition Klöpfer: Stuttgart 2021.
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Johannes Schweikle (*1960 in Freudenstadt) schrieb in München für die Süddeutsche Zeitung und arbeitet als freier Autor u.a. für DIE ZEIT, FAZ, GEO und brand eins. Seine Erzählungen und Romane spannen den Bogen von der Gegenwart zu historischen Stoffen. 2017 erschien seine Romanbiografie Die abenteuerliche Fahrt des Herrn von Drais bei Klöpfer & Meyer. Nun hat Johannes Schweikle einen neuen Roman vorgelegt: Grobe Nähte, ebenfalls bei Klöpfer & Meyer. Es ist eine Art „Blitzlichtroman“, der in München spielt, während der sog. Flüchtlingskrise 2015. Klaus Wolf, Professor für Deutsche Literatur und Sprache in Bayern an der Universität Augsburg und Vorsitzender des Literaturschlosses Edelstetten e.V., hat Schweikles Roman gelesen.
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Trotz des momentanen Hypes um die gegenwärtigen roaring twenties in der literarisch angeblich so angesagten Bundeshauptstadt Berlin, es gibt ihn noch: den München-Roman. Denn München leuchtete lange im 20. Jahrhundert in einer eigenen Romangattung, welche die Stadt an der Isar (und in der Prinzregentenzeit sogar Schwabing speziell) zum Gegenstand oder zumindest zum Schauplatz machte. Und zu Unrecht weitgehend vergessen ist heute der Roman Das Erwachen von Josef Ruederer, der im frühen 20. Jahrhundert historisch feinsinnig und in ironischer Personencharakterisierung den Weg zur Münchner Spielart der Revolution von 1848 zeichnete. Geradezu monumental in der dargestellten Breite wie präzise im Detail ist das Bild, das Lion Feuchtwangers Erfolg von den politischen Irrungen und Wirrungen der frühen Zwanzigerjahre Münchens entwirft. Und für die Zeit der Bundesrepublik Deutschland vor der Wiedervereinigung seien die damals überaus erfolgreichen München-Romane von Wolfgang Koeppen sowie Sigi Sommer genannt. Für breitere Rezipientenschichten bis heute prägender dürfte freilich das München-Bild sein, das der geniale Urmünchner Drehbuchautor und Regisseur Helmut Dietl mit seinen in München spielenden Filmen und Serien hinterlassen hat.
In dieser durchaus Ehrfurcht gebietenden Tradition steht Grobe Nähte, dessen Cover bereits die Münchner Stadtfarben (ironisch verfremdet) herbeizitiert. Der neue Roman des zeitweiligen Wahlmünchners Johannes Schweikle skizziert vor diesem Hintergrund mit kunstvoll wechselnden Erzählperspektiven eine Münchner Momentaufnahme aus dem Jahr der sogenannten Flüchtlingskrise. Im Mittelpunkt stehen der für den (leicht als FC Bayern erkennbaren) führenden Fußballclub kickende Stürmerstar Victor, der Musiker Benedikt und der Journalist Korbinian. Alle drei leben in München, wobei sich ihre Lebenslinien sowie teilweise die ihrer Partnerinnen Eva und Annalena je länger je mehr kreuzen. Durchaus überwunden werden dabei die breiten Straßen, welche als „grobe Nähte“ die Stadtviertel (S. 9) und sozialen Schichten beziehungsweise Milieus trennen. Große Gemeinsamkeiten haben sie vordergründig nicht. Der Fußballer Victor stammt aus Nigeria und wird für seine Tore gefeiert, lebt aber in einer von der Vereinsleitung erzeugten künstlichen Blase. Benedikt spielt Blasinstrumente für diverse Ensembles verschiedener Stilrichtungen und wartet auf seinen beruflichen Durchbruch. Korbinian Moser schreibt als engagierter Journalist für die (leicht zu erkennende) SZ. Mit seiner Familie lebt er in einem angesagten Viertel unter ökosozial Gleichgesinnten. Dann kommen doch überraschend die Flüchtlinge, und die reiche Stadt München empfängt sie zunächst mit offenen Armen.
Die ersten Probleme beschäftigen allmählich die Alteingesessenen, die sich teilweise zerstreiten, wie etwa Benedikts WG. Auch die anfänglich glänzende Karriere von Victor erfährt diverse Eintrübungen. Der Journalist Korbinian und seine Frau erfahren, dass ihre Ideale im Münchner Alltag angefochten werden, wenn Geflüchtete zu Nachbarn werden. Dabei insinuiert der Romantitel die Ambivalenz von groben Nähten zwischen Zusammenhalt und drohender Zerreißprobe. Er bedient sich durchgehend gekonnt den Mitteln von Ironie und Satire, ohne zu dick aufzutragen. Freilich merkt man immer wieder, dass der Autor ein Zuagroaster ist (wie übrigens viele bedeutende Münchner Literaten vor ihm, von Korfiz Holm bis Thomas Mann), denn manches wirkt dann doch mehr oberflächlich angelesen, störend ist etwa „blau-weiß“ statt „weiß-blau“. Und bitte „Bairisch“ (S. 21: „Englisch, Deutsch und Bayrisch“)! Wohler fühlt sich der Autor aus Freudenstadt in seiner Heimatmundart und gibt gelegentliche schwäbische Originaltöne authentisch wieder. Geglückt aber ist in der Summe die Momentaufnahme über die sogenannte Flüchtlingskrise in München. Eine Fortsetzung mit dem selben Romanpersonal etwa zu den coronärrischen Verhältnissen unserer Tage wäre wünschenswert. Auch dafür wäre die distanzschaffende ironische Erzählhaltung von Johannes Schweikle eine Wohltat.
Johannes Schweikle: Grobe Nähte. Roman einer deutschen Stadt. Alfred Kröner Verlag – Edition Klöpfer: Stuttgart 2021.