Rezension des preisgekrönten Romans von Susanne Röckel
Susanne Röckel, geboren 1953, studierte Germanistik und Romanistik in Berlin und Paris. Sie war Mitarbeiterin der Zeitschrift Filmkritik, Lehrerin und Lektorin und arbeitet als Übersetzerin aus dem Englischen und Französischen. Ihr literarisches Werk umfasst Romane und Erzählungen, darunter Palladion, Eschenhain, Vergessene Museen und Rotula. Der Roman Der Vogelgott ist im Verlag Jung und Jung erschienen und wurde 2018 mit dem Tukan-Preis ausgezeichnet, den Susanne Röckel damit bereits zum zweiten Mal gewann. Zudem stand er auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Die Journalistin Angelika Otto (Münchner Feuilleton u.a.) hat den Roman für uns gelesen.
*
Erzählen gegen das Verschwinden
»Es war, wie mir bald klar wurde, jene sagenhafte Gegend, von der ich bei den Großen meines Fachs schon so viel gelesen hatte«, steht am Beginn von Der Vogelgott. Sagenhaft ist nicht nur die Gegend, sagenhaft ist der Roman selbst. Der erste Satz deutet bereits an, dass uns hier ein Text erwartet, der die biederen Gesetzmäßigkeiten eines halbwegs zivilisierten Europas aufbricht und mysteriösen Gottheiten und gewalttätigen Kulten Einlass gewährt. Der Vogelgott ist ein Roman, der der schwarzen Romantik huldigt und doch so viele Bezüge zur Gegenwart hat, dass er unter die Haut geht.
Bei Susanne Röckel hat das Tradition, man könnte es fast ihre Signatur nennen. Eine Signatur, die einen romantischen, phantastischen Stil und Themen pflegt, die sich mit den Grenzen der Zivilisation und unserer Individualität beschäftigt.
Es ist erstaunlich anregend, sich mal aus der Comfort Zone der deutschen Belletristik heraus zu bewegen, bei der schon seit Jahren angebliche Authentizität und realitätsnahe deutsche Alltagstristesse Gütezeichen sind. Sie regt oftmals eher zu der einstmals verpönten Frage an, wie viel von dem Geschriebenen denn jetzt wirklich autobiographisch ist, anstatt den Leser zum Nachdenken über sich selbst.
Der Vogelgott erzwingt genau dies mit seinem Verzicht auf eine allzu enge Anbindung an den bekannten Alltag, geschweige denn an ein mögliches Autorenleben. Hier herrscht das Zeitalter der Barbaren. Uns wird ein rohes, deftiges und fleischhaltiges Gericht vorgesetzt und nicht das vegane Superfood-Essen, das wir so oft auch literarisch zu uns nehmen.
Zeitalter der Barbaren
Die vier Handlungsstränge und Kapitel des Romans bleiben zeitlich und örtlich im Vagen. Es werden zwar verschiedene Lebensumwelten – die urbane, die rurale, die unzivilisierte, barbarische und die angeblich zivilisierte – vorgestellt, doch das Rohe bricht auch in der Zivilisation durch. So verkörpert der titelgebende »Vogelgott« für jeden der vier Protagonisten etwas anderes. Erzählt wird die Geschichte von Grenzerfahrungen, von vier möglichen Wegen zu den Rändern des Bewusstseins und darüber hinaus.
Ein Hobbyornithologe auf der Jagd nach seltenen Vögeln wird im Prolog aus einem Manuskript zitiert, das den Titel des Buches trägt. Er erzählt in einer klaren, naturwissenschaftlich anmutenden Sprache von einer privaten Expedition und der Jagd nach einem seltenen Vogel. Die geschilderte Handlung ist kafkaesk in ihrer fraglosen Akzeptanz von unerklärlichen Begebenheiten. So findet sich der Vogelliebhaber, der in einem namenlosen, unheimlichen Ort übernachtet, klaglos damit ab, dass er dort nichts zu Essen bekommt und sein Gepäck verschwindet. Er erlegt schließlich den eigentümlichen Vogel, obwohl die Einheimischen, die den Vogel als Gott verehren, ihn davon abzuhalten versuchen. Doch indem er sein Wollen über das Wohl der anderen stellt, verliert er letztendlich sich selbst.
»Und im selben Moment hörte ich auf, ich selbst zu sein. Es war, als ob ich mich plötzlich mit seinen Augen sehen könnte. (...) Ja, ich würde verschwinden – und mit mir meine Kinder und deren Kinder –, vom Licht vergessen, würden unsere Konturen sich auflösen, unsere Körper würden mit dem Schatten der Erde verschwimmen, und die Finsternis des Universums würde uns aufsaugen und verschlucken.«
Damit klingt das Leitthema des Romans an: das metaphorische und tatsächliche Verschwinden einer Familie. Als Vater ist der Laienornithologe nach der Begegnung mit dem Vogelgott für seine Kindern nicht mehr nahbar. Die krebskranke Mutter vergeht jeden Tag ein bisschen mehr, während die Kinder das Verschwinden in ihrem Lieblingsspiel, einer Variante des Versteckenspiels, üben.
Die Erzählung des Jüngsten, Thedor, macht den Auftakt zu den drei »Kinderkapiteln«. Sie ist als Bericht an seine Ärzte verfasst, da er nach einem einschneidenden Erlebnis in einer Nervenheilanstalt lebt. Während Thedor sich vor allem durch seine Mittelmäßigkeit und Antriebslosigkeit auszeichnet und erst als er in Berührung mit dem sonderbaren Vogelgottkult gelangt, plötzlich einen seltsamen Eifer entwickelt, sind seine beiden Geschwister schon früh voller Tatendrang.
Die Schwester, eine Kunsthistorikerin, ist seit ihrer Kindheit von einem regionalen Maler fasziniert. Sie glaubt, einem rätselhaften Vogelgottkult auf die Schliche gekommen zu sein, den der Maler angeblich miterlebte. Die Interpretation der Ikonographie seiner Gemälde bestimmt schließlich ihr gesamtes Denken und Handeln, so dass ihre Ehe auf der Strecke bleibt. Das älteste Kind schließlich, der Journalist Lorenz, ist einem riesigen Skandal auf den Fersen, der das Wohl der Kinder seiner Stadt betrifft. Doch auch er scheitert schließlich und erkennt die Vergeblichkeit seiner Bemühungen.
Symbolisch endet der Roman mit der Zusammenführung der drei gesellschaftlichen Außenseiter in der städtischen Nervenanstalt. Obwohl sie sich anfangs mit aller Kraft und unterschiedlichen Mitteln gegen die Gesetzmäßigkeiten der sie umgebenden und ihnen innewohnenden, in ihrer Zuspitzung absurden Systeme stemmen und anders und besser sein wollen, scheitern sie schließlich und akzeptieren ihre Ohnmacht: »Wir träumen, erwachen, träumen, sinken, steigen auf und lassen uns treiben. Wir spielen. Etwas anderes haben wir nie getan, zu etwas anderem taugen wir nicht.«
Ein komplexes Gericht, das Fragen aufwirft
Die Autorin schildert die psychischen und tatsächlichen Abgründe ihrer Figuren und der Handlung in einer glasklaren, stilistisch geschliffenen Sprache, die trotz der Ich-Perspektive immer nüchtern und distanziert bleibt. Diese sprachliche Distanz bewirkt, dass die Charaktere teilweise relativ fremd und auch etwas schablonenhaft wirken. In ihrer Überspitzheit erlauben sie beim Lesen allerdings auch so manches befreiende, kathartische Lächeln.
Susanne Röckel schenkt dem Leser mit dem Buch Der Vogelgott, das auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand und den Tukan-Preis der Stadt München gewonnen hat, ein phantastisches, leicht gruseliges Lektüreerlebnis, das trotz des Erzählens von den Rändern einer bürgerlichen Existenz her zum Grübeln anregt. Sie serviert uns ein komplexes Gericht, das noch lange nachwirkt und Fragen aufwirft: Erinnern die kalten, leblosen Vogelaugen, die das Geschehen unbarmherzig beäugen, nicht sehr an die in unserer Gesellschaft omnipräsenten Smartphones und Überwachungskameras? Und sind wir nicht ähnlich versklavt, ohnmächtig und einsam wie die Protagonisten in unser Ich-Bezogenheit, ob systemgegeben oder intrinsisch bedingt? Für was steht der »Vogelgott« in unserer Gesellschaft, welcher Kult macht uns zu Barbaren?
Gegen das Verschwinden überdauert den Text allein die Hoffnung, dass gerade dieser höchste zivilisatorische Akt, der des Erzählens, sinnhaft und sinnstiftend ist.
Rezension des preisgekrönten Romans von Susanne Röckel>
Susanne Röckel, geboren 1953, studierte Germanistik und Romanistik in Berlin und Paris. Sie war Mitarbeiterin der Zeitschrift Filmkritik, Lehrerin und Lektorin und arbeitet als Übersetzerin aus dem Englischen und Französischen. Ihr literarisches Werk umfasst Romane und Erzählungen, darunter Palladion, Eschenhain, Vergessene Museen und Rotula. Der Roman Der Vogelgott ist im Verlag Jung und Jung erschienen und wurde 2018 mit dem Tukan-Preis ausgezeichnet, den Susanne Röckel damit bereits zum zweiten Mal gewann. Zudem stand er auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Die Journalistin Angelika Otto (Münchner Feuilleton u.a.) hat den Roman für uns gelesen.
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Erzählen gegen das Verschwinden
»Es war, wie mir bald klar wurde, jene sagenhafte Gegend, von der ich bei den Großen meines Fachs schon so viel gelesen hatte«, steht am Beginn von Der Vogelgott. Sagenhaft ist nicht nur die Gegend, sagenhaft ist der Roman selbst. Der erste Satz deutet bereits an, dass uns hier ein Text erwartet, der die biederen Gesetzmäßigkeiten eines halbwegs zivilisierten Europas aufbricht und mysteriösen Gottheiten und gewalttätigen Kulten Einlass gewährt. Der Vogelgott ist ein Roman, der der schwarzen Romantik huldigt und doch so viele Bezüge zur Gegenwart hat, dass er unter die Haut geht.
Bei Susanne Röckel hat das Tradition, man könnte es fast ihre Signatur nennen. Eine Signatur, die einen romantischen, phantastischen Stil und Themen pflegt, die sich mit den Grenzen der Zivilisation und unserer Individualität beschäftigt.
Es ist erstaunlich anregend, sich mal aus der Comfort Zone der deutschen Belletristik heraus zu bewegen, bei der schon seit Jahren angebliche Authentizität und realitätsnahe deutsche Alltagstristesse Gütezeichen sind. Sie regt oftmals eher zu der einstmals verpönten Frage an, wie viel von dem Geschriebenen denn jetzt wirklich autobiographisch ist, anstatt den Leser zum Nachdenken über sich selbst.
Der Vogelgott erzwingt genau dies mit seinem Verzicht auf eine allzu enge Anbindung an den bekannten Alltag, geschweige denn an ein mögliches Autorenleben. Hier herrscht das Zeitalter der Barbaren. Uns wird ein rohes, deftiges und fleischhaltiges Gericht vorgesetzt und nicht das vegane Superfood-Essen, das wir so oft auch literarisch zu uns nehmen.
Zeitalter der Barbaren
Die vier Handlungsstränge und Kapitel des Romans bleiben zeitlich und örtlich im Vagen. Es werden zwar verschiedene Lebensumwelten – die urbane, die rurale, die unzivilisierte, barbarische und die angeblich zivilisierte – vorgestellt, doch das Rohe bricht auch in der Zivilisation durch. So verkörpert der titelgebende »Vogelgott« für jeden der vier Protagonisten etwas anderes. Erzählt wird die Geschichte von Grenzerfahrungen, von vier möglichen Wegen zu den Rändern des Bewusstseins und darüber hinaus.
Ein Hobbyornithologe auf der Jagd nach seltenen Vögeln wird im Prolog aus einem Manuskript zitiert, das den Titel des Buches trägt. Er erzählt in einer klaren, naturwissenschaftlich anmutenden Sprache von einer privaten Expedition und der Jagd nach einem seltenen Vogel. Die geschilderte Handlung ist kafkaesk in ihrer fraglosen Akzeptanz von unerklärlichen Begebenheiten. So findet sich der Vogelliebhaber, der in einem namenlosen, unheimlichen Ort übernachtet, klaglos damit ab, dass er dort nichts zu Essen bekommt und sein Gepäck verschwindet. Er erlegt schließlich den eigentümlichen Vogel, obwohl die Einheimischen, die den Vogel als Gott verehren, ihn davon abzuhalten versuchen. Doch indem er sein Wollen über das Wohl der anderen stellt, verliert er letztendlich sich selbst.
»Und im selben Moment hörte ich auf, ich selbst zu sein. Es war, als ob ich mich plötzlich mit seinen Augen sehen könnte. (...) Ja, ich würde verschwinden – und mit mir meine Kinder und deren Kinder –, vom Licht vergessen, würden unsere Konturen sich auflösen, unsere Körper würden mit dem Schatten der Erde verschwimmen, und die Finsternis des Universums würde uns aufsaugen und verschlucken.«
Damit klingt das Leitthema des Romans an: das metaphorische und tatsächliche Verschwinden einer Familie. Als Vater ist der Laienornithologe nach der Begegnung mit dem Vogelgott für seine Kindern nicht mehr nahbar. Die krebskranke Mutter vergeht jeden Tag ein bisschen mehr, während die Kinder das Verschwinden in ihrem Lieblingsspiel, einer Variante des Versteckenspiels, üben.
Die Erzählung des Jüngsten, Thedor, macht den Auftakt zu den drei »Kinderkapiteln«. Sie ist als Bericht an seine Ärzte verfasst, da er nach einem einschneidenden Erlebnis in einer Nervenheilanstalt lebt. Während Thedor sich vor allem durch seine Mittelmäßigkeit und Antriebslosigkeit auszeichnet und erst als er in Berührung mit dem sonderbaren Vogelgottkult gelangt, plötzlich einen seltsamen Eifer entwickelt, sind seine beiden Geschwister schon früh voller Tatendrang.
Die Schwester, eine Kunsthistorikerin, ist seit ihrer Kindheit von einem regionalen Maler fasziniert. Sie glaubt, einem rätselhaften Vogelgottkult auf die Schliche gekommen zu sein, den der Maler angeblich miterlebte. Die Interpretation der Ikonographie seiner Gemälde bestimmt schließlich ihr gesamtes Denken und Handeln, so dass ihre Ehe auf der Strecke bleibt. Das älteste Kind schließlich, der Journalist Lorenz, ist einem riesigen Skandal auf den Fersen, der das Wohl der Kinder seiner Stadt betrifft. Doch auch er scheitert schließlich und erkennt die Vergeblichkeit seiner Bemühungen.
Symbolisch endet der Roman mit der Zusammenführung der drei gesellschaftlichen Außenseiter in der städtischen Nervenanstalt. Obwohl sie sich anfangs mit aller Kraft und unterschiedlichen Mitteln gegen die Gesetzmäßigkeiten der sie umgebenden und ihnen innewohnenden, in ihrer Zuspitzung absurden Systeme stemmen und anders und besser sein wollen, scheitern sie schließlich und akzeptieren ihre Ohnmacht: »Wir träumen, erwachen, träumen, sinken, steigen auf und lassen uns treiben. Wir spielen. Etwas anderes haben wir nie getan, zu etwas anderem taugen wir nicht.«
Ein komplexes Gericht, das Fragen aufwirft
Die Autorin schildert die psychischen und tatsächlichen Abgründe ihrer Figuren und der Handlung in einer glasklaren, stilistisch geschliffenen Sprache, die trotz der Ich-Perspektive immer nüchtern und distanziert bleibt. Diese sprachliche Distanz bewirkt, dass die Charaktere teilweise relativ fremd und auch etwas schablonenhaft wirken. In ihrer Überspitzheit erlauben sie beim Lesen allerdings auch so manches befreiende, kathartische Lächeln.
Susanne Röckel schenkt dem Leser mit dem Buch Der Vogelgott, das auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand und den Tukan-Preis der Stadt München gewonnen hat, ein phantastisches, leicht gruseliges Lektüreerlebnis, das trotz des Erzählens von den Rändern einer bürgerlichen Existenz her zum Grübeln anregt. Sie serviert uns ein komplexes Gericht, das noch lange nachwirkt und Fragen aufwirft: Erinnern die kalten, leblosen Vogelaugen, die das Geschehen unbarmherzig beäugen, nicht sehr an die in unserer Gesellschaft omnipräsenten Smartphones und Überwachungskameras? Und sind wir nicht ähnlich versklavt, ohnmächtig und einsam wie die Protagonisten in unser Ich-Bezogenheit, ob systemgegeben oder intrinsisch bedingt? Für was steht der »Vogelgott« in unserer Gesellschaft, welcher Kult macht uns zu Barbaren?
Gegen das Verschwinden überdauert den Text allein die Hoffnung, dass gerade dieser höchste zivilisatorische Akt, der des Erzählens, sinnhaft und sinnstiftend ist.