1918/1968 – Revolutionen (9): Michael Appels Studie »Die letzte Nacht der Monarchie«
Die 132. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunktthema Aufbrüche. In unserer Journal-Reihe zu den Revolutionen 1918 und 1968 veröffentlichen wir hier eine Rezension von Klaus Hübner zu Die letzte Nacht der Monarchie. Wie Revolution und Räterepublik in München Adolf Hitler hervorbrachten von Michael Appel. Der Band erschien 2018 bei dtv.
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1969 kam der Band Revolution und Räterepublik in München 1918/19 in Augenzeugenberichten heraus. Dessen Erzählstruktur hat der Historiker und BR-Regisseur Michael Appel fast fünfzig Jahre später wieder belebt. Er arrangiert mit großem Geschick zahlreiche Stimmen von Zeitzeugen – und zwar, was nicht unbedingt üblich ist, Stimmen aus völlig unterschiedlichen politischen Lagern.
Die Lebenszeugnisse und Schriften des bekanntermaßen revolutionär gesinnten Oskar Maria Graf, »eigentlich die Idealfigur einer Münchner Strizzis«, sind eine zentrale Quelle, die des konservativ-reaktionären Gymnasiallehrers und Publizisten Josef Hofmiller oder die des Geschichtsprofessors Karl Alexander von Müller sind es ebenfalls. »Alles ist aus der Sicht derjenigen erzählt, die diese Zeit gestalteten, auf sie läuft es zu, und das ist eine in der Geschichtswissenschaft eher ungewöhnliche Herangehensweise«.
Wissenschaftler wie Max Weber oder Victor Klemperer werden zitiert, Schriftsteller wie Erich Mühsam, Ernst Toller, Rainer Maria Rilke oder Ricarda Huch, engagierte Frauen wie Lida Gustava Heymann oder Germaine Krull, der kenntnisreiche Jurist Philipp Loewenfeld, Politiker wie Kurt Eisner, Felix Fechenbach oder Ernst Niekisch, aber auch Maximilian von Brettreich, Ernst Müller-Meiningen und andere Vertreter der monarchistischen Ordnung. Nicht zuletzt der Münchner Bahnhofsvorstand Max Siegert, auch ein gewisser Krembs, Jagdgehilfe seiner Majestät.
Der Autor entfaltet einen ungewöhnlichen Chor mehr oder minder »authentischer« Stimmen – obwohl ihm bewusst ist, wie problematisch dieses »authentisch« sein kann. Er arrangiert nicht nur, er bewertet und deutet auch. Eine wissenschaftliche Studie ist das dennoch nicht. Sondern ein Lesebuch. Es liest sich flüssig und bietet allerhand.
Demonstration im Oktober 1918 in München © BSB / Bildarchiv Hoffmann
Appel führt zunächst den Münchner Kriegsalltag sowie die rasante Zerstörung der gewohnten monarchisch-bürgerlichen Ordnung vor Augen. Seine Quelleninterpretationen sind oft treffend, bisweilen auch über Gebühr kühn: »Das Leben war, nach heutigem Begriff, eine radikale Hungerkur, und das jahrelang (...) das Erlebnis des ›Dotschnwinters‹ 1916/1917 war so traumatisch, dass die eigentlich schmackhafte Rübe das gesamte 20. Jahrhundert aus dem kulinarischen Orbit im Land verbannt blieb«.
Seine Herangehensweise bewahrt ihn vor vorschnellen Einordnungen und Urteilen: »Die Zukunft war eine große, rätselhafte Glaskugel, in die alle blickten, ohne die Spur einer Gewissheit herauslesen zu können«. Appel macht plausibel, dass und wie die Nöte und Ängste vieler Menschen zum Agens der Geschichte werden können.
Die Regierung nahm die Friedenssehnsucht und Revolutionsstimmung im Lande durchaus wahr, blieb aber unentschlossen und zögerlich – Kurt Eisner hatte leichtes Spiel, als Redner in den Bierkellern ebenso wie am 7. November 1918. »Die Macht des Kriegsministers löst sich innerhalb weniger Stunden völlig friedlich und ohne ein Todesopfer auf. Um etwa acht Uhr abends ist klar, dass die Meuterei alle Kasernen erfasst hat«. Kurt Eisner konnte die Revolution politisch verankern, und König Ludwig III., im Volksmund »Millibauer« genannt, verließ die Hauptstadt in Richtung Chiemgau. »Eine Institution des alten Europa verschwindet. Doch was die hungernden Menschen in München empfinden, ist nicht der Untergang. Sie erleben das Neue, das Werden (...) Schilder mit der Aufschrift ›Hoflieferant‹ wurden noch in der Revolutionsnacht entfernt«.
Sendlinger-Tor-Platz / Müllerstraße: Beisetzung von Kurt Eisner am 26. Februar 1919 © BSB / Bildarchiv Hoffmann
Für Michael Appel fängt in dieser Nacht die bis heute nicht abgeschlossene Etablierung der Zivilgesellschaft an – eine steile These, der man nicht zustimmen muss. Jedenfalls schildert er behutsam und umsichtig, immer auch mit Blick auf bayerische Provinzorte und auf die Reichshauptstadt Berlin, wie es weiterging bis zu den Landtagswahlen am 12. Januar 1919, die der USPD des Ministerpräsidenten lediglich 2,5 Prozent der Stimmen bescherten.
Die Schüsse vom 21. Februar nennt Appel »eine Urkatastrophe«, die letztlich dazu geführt habe, aus dem Soldatenrat Adolf Hitler den Führer des Deutschen Volkes zu machen. »Mit dem Mord an Eisner begann eine neue Zeit (...) ›Stabilität‹ wurde nach den Schüssen in München ein Fremdwort in der politischen Begriffswelt. Stattdessen machte das ›Durcheinander‹ als Codewort Karriere und wurde die am meisten benutzte politische Vokabel der Zeit«.
Das »Durcheinander« im Frühjahr 1919, die zweite Räterepublik und ihre Niederschlagung schildert der Autor detailliert und nachvollziehbar. »Die weißen Truppen waren nicht nur mit dem Kampf beschäftigt. Ihre Methoden war der durch das Standrecht und den alle Übergriffe deckenden Schießbefehl erlaubte Mord. Die Schilderungen dieser Taten sind zahlreich«.
Vollzugsausschuss Soldatenrat, Bekanntmachung zur Revolution, 7. April 1919 © BSB / MDZ
Mit der Legende vom Freiheitskampf der bodenständigen oder gar königstreuen Bayern gegen Kommunisten, Spartakisten und Rote Armee räumt Appel gründlich auf; den Freikorps-Mythos entlarvt er als folkloristischen Fake. Inwiefern allerdings Adolf Hitler als Spross von Revolution und Räterepublik gesehen werden kann, bleibt, anders als es der Untertitel des Buches suggeriert, weitgehend im Unklaren. Was, zumindest bis 1920, an der dürftigen Quellenlage liegt.
Überhaupt führen Titel und Untertitel ein wenig in die Irre – weder Ludwig III. noch Adolf Hitler spielen entscheidende Rollen in dieser bemerkenswerten, methodisch ungewöhnlichen und öfter zum Widerspruch herausfordernden Studie. Im Chor der Jubiläums-Neuerscheinungen zu Revolution und Räterepublik in Bayern wird sie ihren Platz behaupten.
***
Klaus Hübner, Dr. phil., wurde 1953 in Landshut geboren und legte sein Abitur am dortigen Hans-Carossa-Gymnasium ab. Er studierte Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaft in Erlangen und München und wurde 1980 mit der Studie Alltag im literarischen Werk. Eine literatursoziologische Studie zu Goethes Werther promoviert. An der Universidad de Deusto in Bilbao (Spanien) war er von 1981 bis 1983 als DAAD-Lektor tätig. Später wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Institut für Deutsch als Fremdsprache und am Institut für Deutsche Philologie der Universität München. Von 1984 bis 2016 war Hübner Redakteur der monatlich erscheinenden Zeitschrift Fachdienst Germanistik. In den Jahren 1985 bis 1999 war er hauptsächlich für den Münchner iudicium-Verlag tätig. Von 2003 bis 2017 war er außerdem Ständiger Sekretär des Adelbert-von-Chamisso-Preises der Robert Bosch Stiftung und im Zusammenhang damit auch als Journalist und Moderator tätig. Seit 2012 ist Hübner Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Literatur in Bayern, seit 2016 Redaktionsbeirat der Literaturzeitschrift Neue Sirene. Als Publizist veröffentlichte er zahlreiche Buchkritiken, Autorenporträts und andere Arbeiten in Zeitschriften, Zeitungen und Internetforen sowie mehr als 100 Lexikonartikel, z.B. für Kindlers Neues Literaturlexikon, das Metzler Literatur Lexikon und das von Walther Killy begründete Literaturlexikon. Hübner ist zudem Mitarbeiter am Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) der Universität München.
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Die 132. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunktthema Aufbrüche. In unserer Journal-Reihe zu den Revolutionen 1918 und 1968 veröffentlichen wir hier eine Rezension von Klaus Hübner zu Die letzte Nacht der Monarchie. Wie Revolution und Räterepublik in München Adolf Hitler hervorbrachten von Michael Appel. Der Band erschien 2018 bei dtv.
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1969 kam der Band Revolution und Räterepublik in München 1918/19 in Augenzeugenberichten heraus. Dessen Erzählstruktur hat der Historiker und BR-Regisseur Michael Appel fast fünfzig Jahre später wieder belebt. Er arrangiert mit großem Geschick zahlreiche Stimmen von Zeitzeugen – und zwar, was nicht unbedingt üblich ist, Stimmen aus völlig unterschiedlichen politischen Lagern.
Die Lebenszeugnisse und Schriften des bekanntermaßen revolutionär gesinnten Oskar Maria Graf, »eigentlich die Idealfigur einer Münchner Strizzis«, sind eine zentrale Quelle, die des konservativ-reaktionären Gymnasiallehrers und Publizisten Josef Hofmiller oder die des Geschichtsprofessors Karl Alexander von Müller sind es ebenfalls. »Alles ist aus der Sicht derjenigen erzählt, die diese Zeit gestalteten, auf sie läuft es zu, und das ist eine in der Geschichtswissenschaft eher ungewöhnliche Herangehensweise«.
Wissenschaftler wie Max Weber oder Victor Klemperer werden zitiert, Schriftsteller wie Erich Mühsam, Ernst Toller, Rainer Maria Rilke oder Ricarda Huch, engagierte Frauen wie Lida Gustava Heymann oder Germaine Krull, der kenntnisreiche Jurist Philipp Loewenfeld, Politiker wie Kurt Eisner, Felix Fechenbach oder Ernst Niekisch, aber auch Maximilian von Brettreich, Ernst Müller-Meiningen und andere Vertreter der monarchistischen Ordnung. Nicht zuletzt der Münchner Bahnhofsvorstand Max Siegert, auch ein gewisser Krembs, Jagdgehilfe seiner Majestät.
Der Autor entfaltet einen ungewöhnlichen Chor mehr oder minder »authentischer« Stimmen – obwohl ihm bewusst ist, wie problematisch dieses »authentisch« sein kann. Er arrangiert nicht nur, er bewertet und deutet auch. Eine wissenschaftliche Studie ist das dennoch nicht. Sondern ein Lesebuch. Es liest sich flüssig und bietet allerhand.
Demonstration im Oktober 1918 in München © BSB / Bildarchiv Hoffmann
Appel führt zunächst den Münchner Kriegsalltag sowie die rasante Zerstörung der gewohnten monarchisch-bürgerlichen Ordnung vor Augen. Seine Quelleninterpretationen sind oft treffend, bisweilen auch über Gebühr kühn: »Das Leben war, nach heutigem Begriff, eine radikale Hungerkur, und das jahrelang (...) das Erlebnis des ›Dotschnwinters‹ 1916/1917 war so traumatisch, dass die eigentlich schmackhafte Rübe das gesamte 20. Jahrhundert aus dem kulinarischen Orbit im Land verbannt blieb«.
Seine Herangehensweise bewahrt ihn vor vorschnellen Einordnungen und Urteilen: »Die Zukunft war eine große, rätselhafte Glaskugel, in die alle blickten, ohne die Spur einer Gewissheit herauslesen zu können«. Appel macht plausibel, dass und wie die Nöte und Ängste vieler Menschen zum Agens der Geschichte werden können.
Die Regierung nahm die Friedenssehnsucht und Revolutionsstimmung im Lande durchaus wahr, blieb aber unentschlossen und zögerlich – Kurt Eisner hatte leichtes Spiel, als Redner in den Bierkellern ebenso wie am 7. November 1918. »Die Macht des Kriegsministers löst sich innerhalb weniger Stunden völlig friedlich und ohne ein Todesopfer auf. Um etwa acht Uhr abends ist klar, dass die Meuterei alle Kasernen erfasst hat«. Kurt Eisner konnte die Revolution politisch verankern, und König Ludwig III., im Volksmund »Millibauer« genannt, verließ die Hauptstadt in Richtung Chiemgau. »Eine Institution des alten Europa verschwindet. Doch was die hungernden Menschen in München empfinden, ist nicht der Untergang. Sie erleben das Neue, das Werden (...) Schilder mit der Aufschrift ›Hoflieferant‹ wurden noch in der Revolutionsnacht entfernt«.
Sendlinger-Tor-Platz / Müllerstraße: Beisetzung von Kurt Eisner am 26. Februar 1919 © BSB / Bildarchiv Hoffmann
Für Michael Appel fängt in dieser Nacht die bis heute nicht abgeschlossene Etablierung der Zivilgesellschaft an – eine steile These, der man nicht zustimmen muss. Jedenfalls schildert er behutsam und umsichtig, immer auch mit Blick auf bayerische Provinzorte und auf die Reichshauptstadt Berlin, wie es weiterging bis zu den Landtagswahlen am 12. Januar 1919, die der USPD des Ministerpräsidenten lediglich 2,5 Prozent der Stimmen bescherten.
Die Schüsse vom 21. Februar nennt Appel »eine Urkatastrophe«, die letztlich dazu geführt habe, aus dem Soldatenrat Adolf Hitler den Führer des Deutschen Volkes zu machen. »Mit dem Mord an Eisner begann eine neue Zeit (...) ›Stabilität‹ wurde nach den Schüssen in München ein Fremdwort in der politischen Begriffswelt. Stattdessen machte das ›Durcheinander‹ als Codewort Karriere und wurde die am meisten benutzte politische Vokabel der Zeit«.
Das »Durcheinander« im Frühjahr 1919, die zweite Räterepublik und ihre Niederschlagung schildert der Autor detailliert und nachvollziehbar. »Die weißen Truppen waren nicht nur mit dem Kampf beschäftigt. Ihre Methoden war der durch das Standrecht und den alle Übergriffe deckenden Schießbefehl erlaubte Mord. Die Schilderungen dieser Taten sind zahlreich«.
Vollzugsausschuss Soldatenrat, Bekanntmachung zur Revolution, 7. April 1919 © BSB / MDZ
Mit der Legende vom Freiheitskampf der bodenständigen oder gar königstreuen Bayern gegen Kommunisten, Spartakisten und Rote Armee räumt Appel gründlich auf; den Freikorps-Mythos entlarvt er als folkloristischen Fake. Inwiefern allerdings Adolf Hitler als Spross von Revolution und Räterepublik gesehen werden kann, bleibt, anders als es der Untertitel des Buches suggeriert, weitgehend im Unklaren. Was, zumindest bis 1920, an der dürftigen Quellenlage liegt.
Überhaupt führen Titel und Untertitel ein wenig in die Irre – weder Ludwig III. noch Adolf Hitler spielen entscheidende Rollen in dieser bemerkenswerten, methodisch ungewöhnlichen und öfter zum Widerspruch herausfordernden Studie. Im Chor der Jubiläums-Neuerscheinungen zu Revolution und Räterepublik in Bayern wird sie ihren Platz behaupten.
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Klaus Hübner, Dr. phil., wurde 1953 in Landshut geboren und legte sein Abitur am dortigen Hans-Carossa-Gymnasium ab. Er studierte Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaft in Erlangen und München und wurde 1980 mit der Studie Alltag im literarischen Werk. Eine literatursoziologische Studie zu Goethes Werther promoviert. An der Universidad de Deusto in Bilbao (Spanien) war er von 1981 bis 1983 als DAAD-Lektor tätig. Später wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Institut für Deutsch als Fremdsprache und am Institut für Deutsche Philologie der Universität München. Von 1984 bis 2016 war Hübner Redakteur der monatlich erscheinenden Zeitschrift Fachdienst Germanistik. In den Jahren 1985 bis 1999 war er hauptsächlich für den Münchner iudicium-Verlag tätig. Von 2003 bis 2017 war er außerdem Ständiger Sekretär des Adelbert-von-Chamisso-Preises der Robert Bosch Stiftung und im Zusammenhang damit auch als Journalist und Moderator tätig. Seit 2012 ist Hübner Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Literatur in Bayern, seit 2016 Redaktionsbeirat der Literaturzeitschrift Neue Sirene. Als Publizist veröffentlichte er zahlreiche Buchkritiken, Autorenporträts und andere Arbeiten in Zeitschriften, Zeitungen und Internetforen sowie mehr als 100 Lexikonartikel, z.B. für Kindlers Neues Literaturlexikon, das Metzler Literatur Lexikon und das von Walther Killy begründete Literaturlexikon. Hübner ist zudem Mitarbeiter am Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) der Universität München.