Logen-Blog [524]: Todesbilder, Kuss-Sekunden
Es sind schon sehr gewaltige Bilder des Todes, die Jean Paul für die Abschiedsorgie gezeichnet hat. Wie immer genügen keine Zitate; wie immer muss der ganze Absatz gelesen werden, um den Rhythmus und die Melodie zu begreifen und mitzusingen:
Die Alpen-Echos klangen in die weite Nacht zurück und fielen zu einem tönenden Hauche, der nicht der Erinnerung aus der Jugend, sondern aus der tiefen Kindheit glich. Wir schwankten, ausgefüllt vom Genuss, durch tauende Gesträuche und umgebückte schlaf- und tautrunkne Fluren, aus denen wir entschlummerte Blumen rissen, um morgen ihre zugefaltete Schlafgestalt zu sehen. Wir dachten an die sonnenlosen Pfade des heutigen Morgens; wir gingen ohne Laut vor dem zwerghaften Gärtchen und Häuschen vorüber, und die Kinder und die brotbackende Frau wurden von den Todesarmen des Schlummers gedrückt und umflochten. Die Zeit hatte den Mond, wie einen Sisyphusstein, auf den Gipfel des Himmels gewälzet und ließ ihn wieder sinken. In Osten stiegen Sterne, in Westen sanken Sterne, mitten im Himmel zersprangen kleine von der Erde abgesandte Sternchen – aber die Ewigkeit stand stumm und groß neben Gott und alles verging vor ihr und alles entstand vor ihm. Das Feld des Lebens und der Unendlichkeit hing nahe und tief über uns, wie ein Blitz, herein, und alles Große, alles Überirdische, alle Verstorbne und alle Engel hoben unsern Geist in ihren blauen Kreis und sanken ihm entgegen....
Zurückgekommen, am Eremitenberg und an der Pyramide, wo Amandus liegt, und wo unsere beiden Geliebten sich zuerst „erkannten“ (ohne zusammen ins Bett zu gehen), wie es altbiblisch heißen könnte, trennen sie sich wieder, denn ach, auch sie sind der Vergänglichkeit unterworfen, bevor die erhofft-gefühlte Ewigkeit sie besitzen wird/sollte/könnte, wobei dies alles, lieber Leser, du weißt es, ja nur ein höchstens schöner Schein ist.
Gleichwohl: Beata drückt ihrem Gustav zuletzt, bevor er auf die Reise geht, ein Briefchen in die vermutlich heißen wie zitternden Hände – und wieder kommt es zu einem Kuss, den beide, wie auch nicht, als himmlisch empfinden müssen.
Letzte Küsse... aber lassen wir das. Wenn Du jemals glücklich warst in Deinem Unglück, Leser, weißt Du, was und wie's gemeint ist, und du wirst verstehen können, was Gustav und die weinende Beata[1] fühlen, auch wenn Gustavs letzter verbaler Ausstoß wieder einmal nicht sonderlich geistreich ist, sondern von jenem „Blödsinn“ beseelt ist, den wir ja an ihm kennen – aber wer wird in letzten überwältigenden, ja kosmischen Kuss-Sekunden nach Geist und Intellekt fragen?
Dann führte der Engel, der die Erde liebt, die zwei frömmsten Lippen zu einem unauslöschlichen Kusse zusammen – dann versanken alle Bäume, vergingen alle Sonnen, verflogen alle Himmel, und Himmel und Erde hielt Gustav in einem einzigen Herz an seiner Brust; – dann gingest du, Seraph, in die schlagenden Herzen und gabest ihnen die Flammen der überirdischen Liebe – und du hörtest fliehen von Gustavs heißen Lippen die gehauchten Laute: „O du Teure! Unverdiente! und so Gute! so Gute!“
Womit der Morgen an- und der Sektor endlich abbricht.
Foto: Frank Piontek (bei Betzenstein)
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[1] Als die Träne des heiligsten Auges auf die Rosenwange glitt und an diesem Rosenblatte mit erzitterndem Schimmer hing – wenn man es allein mit heutigen Maßstäben be- und daher verurteilen würde, müsste man's für puren Kitsch halten: woran nichts ändern würde, dass Kitsch, wie Brecht sagte, gut gemeint ist. Andererseits: Jean Pauls Taktik besteht ja gerade nicht darin, bestehende gesellschaftliche Verhältnisse über Kitschbilder zu befestigen. Insofern sind die heftig emotionalen Bilder mehr als Ausflüsse eines überwältigend Fixierten. Sie sind, unterm Strich, „nur“ ein Versuch, große Gefühle und Szenen adäquat festzuhalten – aber dies, lieber Leser, nur nebenbei.
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Es sind schon sehr gewaltige Bilder des Todes, die Jean Paul für die Abschiedsorgie gezeichnet hat. Wie immer genügen keine Zitate; wie immer muss der ganze Absatz gelesen werden, um den Rhythmus und die Melodie zu begreifen und mitzusingen:
Die Alpen-Echos klangen in die weite Nacht zurück und fielen zu einem tönenden Hauche, der nicht der Erinnerung aus der Jugend, sondern aus der tiefen Kindheit glich. Wir schwankten, ausgefüllt vom Genuss, durch tauende Gesträuche und umgebückte schlaf- und tautrunkne Fluren, aus denen wir entschlummerte Blumen rissen, um morgen ihre zugefaltete Schlafgestalt zu sehen. Wir dachten an die sonnenlosen Pfade des heutigen Morgens; wir gingen ohne Laut vor dem zwerghaften Gärtchen und Häuschen vorüber, und die Kinder und die brotbackende Frau wurden von den Todesarmen des Schlummers gedrückt und umflochten. Die Zeit hatte den Mond, wie einen Sisyphusstein, auf den Gipfel des Himmels gewälzet und ließ ihn wieder sinken. In Osten stiegen Sterne, in Westen sanken Sterne, mitten im Himmel zersprangen kleine von der Erde abgesandte Sternchen – aber die Ewigkeit stand stumm und groß neben Gott und alles verging vor ihr und alles entstand vor ihm. Das Feld des Lebens und der Unendlichkeit hing nahe und tief über uns, wie ein Blitz, herein, und alles Große, alles Überirdische, alle Verstorbne und alle Engel hoben unsern Geist in ihren blauen Kreis und sanken ihm entgegen....
Zurückgekommen, am Eremitenberg und an der Pyramide, wo Amandus liegt, und wo unsere beiden Geliebten sich zuerst „erkannten“ (ohne zusammen ins Bett zu gehen), wie es altbiblisch heißen könnte, trennen sie sich wieder, denn ach, auch sie sind der Vergänglichkeit unterworfen, bevor die erhofft-gefühlte Ewigkeit sie besitzen wird/sollte/könnte, wobei dies alles, lieber Leser, du weißt es, ja nur ein höchstens schöner Schein ist.
Gleichwohl: Beata drückt ihrem Gustav zuletzt, bevor er auf die Reise geht, ein Briefchen in die vermutlich heißen wie zitternden Hände – und wieder kommt es zu einem Kuss, den beide, wie auch nicht, als himmlisch empfinden müssen.
Letzte Küsse... aber lassen wir das. Wenn Du jemals glücklich warst in Deinem Unglück, Leser, weißt Du, was und wie's gemeint ist, und du wirst verstehen können, was Gustav und die weinende Beata[1] fühlen, auch wenn Gustavs letzter verbaler Ausstoß wieder einmal nicht sonderlich geistreich ist, sondern von jenem „Blödsinn“ beseelt ist, den wir ja an ihm kennen – aber wer wird in letzten überwältigenden, ja kosmischen Kuss-Sekunden nach Geist und Intellekt fragen?
Dann führte der Engel, der die Erde liebt, die zwei frömmsten Lippen zu einem unauslöschlichen Kusse zusammen – dann versanken alle Bäume, vergingen alle Sonnen, verflogen alle Himmel, und Himmel und Erde hielt Gustav in einem einzigen Herz an seiner Brust; – dann gingest du, Seraph, in die schlagenden Herzen und gabest ihnen die Flammen der überirdischen Liebe – und du hörtest fliehen von Gustavs heißen Lippen die gehauchten Laute: „O du Teure! Unverdiente! und so Gute! so Gute!“
Womit der Morgen an- und der Sektor endlich abbricht.
Foto: Frank Piontek (bei Betzenstein)
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[1] Als die Träne des heiligsten Auges auf die Rosenwange glitt und an diesem Rosenblatte mit erzitterndem Schimmer hing – wenn man es allein mit heutigen Maßstäben be- und daher verurteilen würde, müsste man's für puren Kitsch halten: woran nichts ändern würde, dass Kitsch, wie Brecht sagte, gut gemeint ist. Andererseits: Jean Pauls Taktik besteht ja gerade nicht darin, bestehende gesellschaftliche Verhältnisse über Kitschbilder zu befestigen. Insofern sind die heftig emotionalen Bilder mehr als Ausflüsse eines überwältigend Fixierten. Sie sind, unterm Strich, „nur“ ein Versuch, große Gefühle und Szenen adäquat festzuhalten – aber dies, lieber Leser, nur nebenbei.