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06.11.2014, 18:00 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [502]: Calderon und Jean Paul

Es wird Zeit, die Uhren schlagen, es ist schon früher Morgen, wir kehren mit unseren Helden in das schöne Lilienbad zurück. Der Erzähler erwacht – das hat er mit dem Blogger gemein – und erinnert sich daran, dass er schon einmal aufgestanden ist. Medea ist vorbeigegangen, vorgestern erlebten wir Senecas Version in Bayreuth, das ist vorbei, und nun hebt das Tirilieren an: geistlich unterfüttert, denn man will zur Kirche. Man will nach Ruhestatt, wo Herr Bürger aus Großenhayn predigen soll. Der Mann war ein kleines Licht aus Sachsen; Jena Paul mag ihm persönlich verbunden gewesen sein, wie es im Kommentar heißt, aber ich stelle mir ihn vor: eine reale Person, montiert in eine erfundene Erzählung.

Die Morgensonne sollte auch ihn treffen, die voll synästhetisch über Lilienbad aufgeht.

Wir sahen und hörten und rochen und fühlten, wie allmählich ein Stückchen vom Tag nach dem andern aufwachte – wie der Morgen über Fluren und Gärten zog und sie wie vornehme Morgenzimmer mit Blüten und Blumen räucherte – wie er sozusagen alle Fenster öffnete, damit ein kühlender Luftzug den ganzen Schauplatz durchstriche – wie jede Kehle die andre weckte und sie in die Lüfte und Höhen zog, um mit trunkner Brust der steigenden vertieften Sonne entgegenzufliegen und entgegenzusingen – wie der bewegliche Himmel tausend Farben rieb und verschmolz und den Faltenwurf seiner Wolken versuchte und färbte .... So weit war der Morgen, da wir noch im tauenden Tale gingen. Aber als wir aus seiner östlichen Pforte hinaustraten in eine unabsehliche, mit wachsenden Girlanden und regem Laubwerk musivisch ausgelegte Aue, deren sanfte Wellenlinie in Tiefen fiel und auf Höhen floss, um ihre Reize und Blumen auf und nieder zu bewegen; als wir davor standen: so erhob sich der Sturm der Wonne und des lebenden Tages und der Ostwind ging neben ihm und die große Sonne stand und schlug wie ein Herz am Himmel und trieb alle Ströme und Tropfen des Lebens um sich herum. – –

Der Blogger weigert sich, das zu kommentieren. Es ist einfach zu schön, um zerredet zu werden – er genießt lieber die Stimmung, die der Wort- und Klangzauberer Jean Paul damals erfunden hat, um auch uns noch zu beglücken.

 Eine notwendige Anmerkung zu Calderón

Zu Jean Pauls ungeheurem Talent, sinnliche Eindrücke in vollkommene poetische Ansichten zu verwandeln und die Wirklichkeit scharf zu betrachten und zu charakterisieren, ohne den Traum und die Fantasie einzuengen, passt ein Exzerpt aus dem Jahre 1780, das Marisa Siguan Boehmer im erwähnten Aufsatz über Calderón, die Deutsche Romantik und den Spanischen Barock erstmals publiziert hat:

So bald es aber auf die Wirklichkeit existierender Dinge ankommt, so würden wir uns unaufhörlich verirren, wenn uns nicht die sinnlichen Empfindungen immer wieder auf den rechten Weg zurück brächten, und niemals würden wir ohne sie wissen, wo wir uns befinden. Diese Empfindungen sind uns zu dem Ende gegeben, damit wir nicht irre gehen. Hätten wir nur undeutliche und auf wenige Umstände sich beziehende sinnliche Empfindungen, die nicht anders als die Vorstellung von unserm Dasein überhaupt hervorbringen könnten, so würde unser ganzes Leben ein beständiger Traum sein, und es würde fast nichts in unseren Gedanken sein, das mit der Wirklichkeit dieser Welt übereinstimmte. Da es nun sehr wahrscheinlich ist, dass es viele Dinge in der materiellen Welt gibt, für welche wir keine Sinne haben, und dass wir selbst die auf unsere Sinne sich beziehenden Gegenstände nur sehr unvollkommen empfinden, so ist's nicht zu verwundern, dass wir auf der einen Seite von reellen Dingen der Welt gar nichts wissen, und dass auf der anderen Seite der verständigste Mensch immer Irrtümern und Täuschungen unterworfen ist.

Frau Boehmer meint, dass sich Jean Paul hier direkt auf Calderóns Schauspiel und Idee vom Leben als Traum bezieht: Prinz Segesmundo, der in einem Kerker aufwächst, weil sein Vater fürchtet, dass sein Sohn ein Tyrann werden wird, erhält für einen Tag die Freiheit

Traum dies nennen, wäre Täuschung,
Denn mein Wachen ist mir kund.
Bin ich denn nicht Sigismund?

und verscherzt sie sich eben dadurch, dass das Befürchtete eintritt. Wieder interniert, wird ihm beigebracht, dass dieser eine, schreckliche Tag nur ein Traum gewesen sei. Die Dramatik des Dramas löst sich, indem er durch Aufständische als König eingesetzt wird, was er zunächst noch anzweifeln muss:

da ich weiß,
Nur ein Traum sei alles Leben,
So entflieht, ihr hohlen Schatten,
Die ihr meinen Dumpfsinn äffet
Mit Gestalt und Stimm'

Doch nun, weise geworden, beginnt schließlich sein gutes Regiment.

Mich kann nichts Erlognes blenden. / Denn der Täuschung längst entflohn, / Weiß ich, Traum ist alles Leben – dies mag die Quintessenz sein, die einem philosophisch begabten Leser – einem Schopenhauer avant la lettre – zwingend scheinen muss. So ists nicht zu verwundern, dass wir auf der einen Seite von reellen Dingen der Welt gar nichts wissen, und dass auf der anderen Seite der verständigste Mensch immer Irrtümern und Täuschungen unterworfen ist – die Kunst des Lebens besteht ja auch darin, beständig die Traumfantasien und die „Realität“, die einigermaßen stimmig erkannt und dechiffriert werden sollte, in Einklang zu bringen. Wer es nicht kann, bleibt übersensibel und unrealistisch – so wie Gustav: Gustav, der, wie der Prinz in La vida es sueño, seine Jugendjahre in einem finsteren Raum fernab der Welt verbrachte.

Diese auffällige Ähnlichkeit der Jugendbiographien der beiden jungen Männer dürfte kein Zufall sein.

Die Frage bleibt nur, wie Gustav jemals die Erkenntnis geschenkt bekommen wird, dass er sein Verhältnis zum (notwendigen) Traum und zur nicht zu ignorierenden Wirklichkeit regeln muss, um nicht zum Extremisten zu werden. Er muss ja nicht gleich schreckliche Untaten begehen wie Segismundo – aber es ist ihm zu wünschen, dass er aus seinem Albtraum von einem Leben, das nur in der Traurigkeit gelebt werden kann, einmal erwacht.

Wir werden sehen, welche Pointe der Schluss des Nichtschlusses, also des Romanfragments, in Bezug auf den großen, auch für Jean Paul und seinen ersten Roman so prägenden Calderón noch birgt.

Fotos Sevilla und Madrid: Frank Piontek (September 2014)