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14.08.2014, 12:49 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [464]: Ein bisschen Biographismus oder Wie der Autor über sich spricht, ohne über sich sprechen zu wollen

Gustav beschließt, sich aus allem zurückzuziehen – aber was nun, ohne jeglichen Übergang, passiert, ist psychologisch hochinteressant. Wir erhalten einen Blick in die Seele des Erzählers, den ich an dieser Stelle wieder mit dem Autor identifizieren würde. Hier spricht Jean Paul – umstandslos, fast unüberlegt, moralisch – und, um es zu wiederholen, psychologisch höchst aufschlussreich.

Statt nämlich sich um die männliche Tugend zu kümmern oder noch einmal die Tat der Bouse zu reflektieren, springt Jean Paul sofort zu den Männern, die es wagen, Frauen zu verführen. Über eine lange Seite lang räsoniert der Autor, klagt an, bricht in Entsetzensbekundungen aus: nicht über die armen Männer, die verführt wurden, nicht über die Frauen, die so stark sind, sich nicht verführen zu lassen – nein: es geht Jean Paul nun um die verführten Frauen und die bösen Männer, die entsetzlichen Seelen, die den Frauen die Unschuld rauben, die Männer aus den höheren Ständen, die die Frauen aus den mittleren Ständen zu ihrem, dem rein männlichen Vergnügen beschmutzen – ja: diese Frauen werden zu Huren gemacht, man kann sie ja – Jean Paul nennt Zahlen – zu Tausenden in Wien (2.000), Paris (30.000) und London (50.000) als Freuden-Mädchen sehen.

Es hilft nichts: der Blogger hat den Eindruck, dass Jean Paul, der unversehens zu den verführten Mädchen sprang – da doch keine Verführte im Roman zu finden ist, nur ein Verführter, der sich schrecklich quält –, sein eigenes Problem aufs Papier wirft. Dass es zugleich gegen den Adel – seinem Lieblingskritikobjekt – geht, spielt eine weniger wichtige Rolle, als es zunächst den Anschein hat: die Hof- und Adelskritik, die sich wie der berühmte Ariadnefaden durch den Roman zieht, dient hier lediglich als Vehikel, um ganz persönliche Probleme in seltsamster Weise zu diskutieren.

Zugegeben: wüssten wir nicht, dass der Dichter erst 11 Jahre nach der Publikation des Romans, vermutlich „unberührt“ (wie die Formel damals lautete) die Treppe zum Ehebette emporstieg, würden wir diesen Absatz, der zugleich mit einem schweren rhetorischen Trommelwirbel den 37. Sektor abschließt, vielleicht anders lesen. So aber muss der Leser den Eindruck haben, dass der auf Reinheit pochende Autor alles dafür tut, ja fast zwanghaft dafür votiert, auf keinen Fall die Reinheit der Frauen zu verletzen. Er, Jean Paul, projiziert damit seine eigene Zurückhaltung (um es sachlich auszudrücken), ja: seine Angst vor dem anderen Geschlecht auf die Verführungskraft jener Männer, die sich nicht um die Reinheit der Frauen scheren. Er, ein Mann von dreißig Jahren, begründet seine Asexualität mit dem Hinweis auf die Rohheit der Angehörigen seines Geschlechts, die es wagen, die Engel in den Schmutz zu ziehen.

Aber Frauen sind, so sehr man(n) sie auch liebt, keine Engel.[1] Frauen mögen himmlisch sein – indem Jean Paul sie, mit allzu durchsichtiger Übertreibung, zu Engeln stilisiert, macht er sie zu etwas Unnahbarem, gegen die jeder erotische Schritt ein Verbrechen ist: ein Verbrechen, das er, Jean Paul, nicht begehen will. Nein, es ist nicht irgendein soziologisch bestimmtes Moralgesetz, das die Berührung der Frau des mittleren Standes durch den Mann von höherem Stand verbietet. Es ist einzig die Angst des Mannes Jean Paul, der – mit allzu großen Setzungen – sein Desinteresse an der Sexualität in eine konservative Moralthese zu gießen versucht. Derart weist der Autor auf das eigentliche Problem hin: indem er über die bösen Männer spricht, die das vollbringen, wozu er, der tugendhafte Autor, nicht in der Lage ist: Frauen auch körperlich zu berühren. Der Blogger verkennt nicht, dass es zu Jean Pauls Zeiten für „gefallene“ Mädchen nicht einfach war, sich durchs Leben zu schlagen – aber er glaubt nicht, dass jede Frau, die von einem Mann gleich welchen Standes „verführt“ wurde, in der Gosse und Gasse landete. Er ist nur davon überzeugt, dass Jean Paul hier nicht von fremden, sondern von eigenen Problemen spricht. Nein, er polemisiert nicht deshalb so stark gegen die verführenden Männer, weil er selbst, als Greifgeier, die Lämmer so gern verführen würde, aber es nicht kann. Die Projektion ist anderer Art: er nimmt die Frauen in Schutz, weil sie ihm in ihrem unschuldigen Status nicht zu nahe kommen können. Deshalb spricht er nun – in zweifacher Hinsicht die Perspektive verzerrend – nicht über die standhafte Beata oder den von einem weiblichen Geier ergriffenen Gustav, sondern über die gewalttätigen Männer, die zudem einem höheren Stand angehören: völlig anders als Gustav, der seinerseits verführt wurde – wovor sich Jean Paul so stark fürchtet, dass er in einer literarischen Übersprungshandlung scheinbar das Terrain wechselt. Weiß er um diese Verschiebung? Es spielt keine Rolle – aber es hilft uns, diese Passage zu verstehen. Die Angst des Mannes vor der Frau ist allzu offensichtlich.

Aber was spräche wirklich dagegen, einen Engel zu küssen?

Und ihr entsetzlichen Seelen, die ihr einen Fehltritt, an dem Gustav sterben will, unter eure Vorzüge und eure Freuden rechnet, die ihr die Unschuld nicht, wie er, selber verliert, sondern fremde mordet, darf ich ihn durch eure Nachbarschaft auf dem Papier besudeln? – Was werdet ihr noch aus unserem Jahrhundert machen? – Ihr gekrönten, gestirnten, turnierfähigen, infulierten Hämlinge! Davon ist die Rede nicht und ich hab' es nie getadelt, dass ihr aus euren Ständen die sogenannte Tugend (d. h. den Schein davon), die ein so spröder Zusatz in euren weiblichen Metallen ist, mit so viel Glasfeuer, als ihr zusammenbringen könnt, herausbrennt und niederschlagt – denn in euren Ständen hat Verführung keinen Namen mehr, keine Bedeutung, keine schlimme Folgen, und ihr schadet da wenig oder nicht – aber in unsere mittleren Stände, auf unsere Lämmer schießet, ihr Greif- und Lämmergeier, nicht herab! Bei uns seid ihr noch eine Epidemie (ich falle, wie ihr, in eine Vermischung, aber nur der Metaphern), die mehr wegreißet, weil sie neuer ist. Raubet und tötet da lieber alles andre als eine weibliche Tugend! – Nur in einem Jahrhundert wie unsers, wo man alle schönen Gefühle stärkt, nur das der Ehre nicht, kann man die weibliche, die bloß in Keuschheit besteht, mit Füßen treten und wie der Wilde einen Baum auf immer umhauen, um ihm seine ersten und letzten Früchte zu nehmen. Der Raub einer weiblichen Ehre ist so viel als der Raub einer männlichen, d. h. du zerschlägst das Wappen eines höhern Adels, zerknickst den Degen, nimmst die Sporen ab, zerreißest den Adelbrief und Stammbaum; das, was der Scharfrichter am Manne tut, vollstreckest du an einem armen Geschöpfe, das diesen Henker liebt und bloß seine unverhältnismäßige Phantasie nicht bändigen kann. Abscheulich! – Und solcher Opfer, welche die männlichen Hände mit einem ewigen Halseisen an die Unehre befestigt haben, stehen in den Gassen Wiens zweitausend, in den Gassen von Paris dreißigtausend, in den Gassen von London funfzigtausend. – – Entsetzlich! Todes-Engel der Rache! zähle die Tränen nicht, die unser Geschlecht aus dem weiblichen Auge ausdrückt und brennend aufs schwache weibliche Herz rinnen lässt! Miss die Seufzer und die Qualen nicht, unter denen die Freuden-Mädchen verscheiden und an denen den eisernen Freuden-Mann nichts dauert, als dass er sich an ein andres Bett, das kein Sterbebette ist, begeben muss!

Sanftes, treues, aber schwaches Geschlecht! Warum sind alle Kräfte deiner Seele so glänzend und groß, dass deine Besonnenheit zu bleich und klein dagegen ist? Warum beweget sich in deinem Herzen eine angeborne Achtung für ein Geschlecht, das die deinige nicht schont? Je mehr ihr eure Seelen schmücket, je mehr Grazien ihr aus euren Gliedern machet, je mehr Liebe in eurem Herzen wallet und durch eure Augen bricht, je mehr ihr euch zu Engeln umzaubert: desto mehr suchen wir diese Engel aus ihrem Himmel zu werfen, und gerade im Jahrhundert eurer Verschönerung vereinigen sich alle, Schriftsteller, Künstler und Große, zu einem Wald von Giftbäumen, unter denen ihr sterben sollt, und wir schätzen einander nach den meisten Brunnen- und Kelchvergiftungen für eure Lippen!

In einem bekannten Gedicht Bertolt Brechts, das man gern als „pornographisch“ bezeichnen darf (obwohl es nicht pornographisch ist, aber Frau und Mann dürfen hier gern unterschiedlicher Meinung sein), und das mit dem Vers beginnt: Engel verführt man gar nicht oder schnell, steht am Schluss die schöne Verszeile:

Und seine Flügel, Mensch, zerdrück sie nicht.

Darauf kommt es an.



[1] Höchstens Königinnen.