Logen-Blog [409]: Das Komische und das Pathetische im Dauerclinch
Wer mit offenen Augen und gewissen literarischen Grundkenntnissen durch München zu laufen vermag, dem ist die Stadt ein einziges Lesebuch.
In Schwabing stolpert der Stadtwanderer über den Ritter mit der traurigen Gestalt. Zufällig liest der Blogger, da er gerade einen Vortrag über Jürgen Habermas vorbereitet, ein paar Tage später bei Habermas[1] – der in gewisser Weise auch ein „Münchner“ ist, da er jahrelang in Starnberg arbeitete – einige Sätze über den Don Quijote. In seinem Aufsatz Philosophie und Wissenschaft als Literatur?, der 1988 innerhalb der Aufsatzsammlung Nachmetaphysisches Denken zum Druck befördert wurde, geht Habermas – selten genug hat er sich auf rein literarisches Gebiet gewagt – auf Italo Calvinos Interpretation des spanischen Romans ein, wie jener sie in Kybernetik und Gespenster[2] vorgelegt hatte: „Der Text“, sagt Habermas, „kann nicht nur den Autor, sondern auch den kategorialen Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschlingen, indem er die Operation der Erzeugung einer neuen Welt in sich transparent macht.“ Und dann zitiert der Philosoph den Dichter einer eigentümlich phantastischen Literatur, der über die Literatur nachgedacht hat: „Die Figur des Don Quijote ermöglicht die Auseinandersetzung und die Begegnung zwischen zwei antithetischen Sprachen, ja zwischen zwei literarischen Welten ohne Gemeinsamkeiten: das Wunderbare des Ritterromans und das Komische des Schelmenromans.“ Habermas referiert Calvino: „Damit eröffnet Cervantes nicht nur eine neue Dimension, vielmehr lässt er aus dem Erlebnishorizont einer im Schnittpunkt zweier literarisch vorgeprägter Welten stehenden Figur die neue, quichotische Lesart der Welt im ganzen hervorgehen. An dieser Figur spiegelt der Text selbstbezüglich eben die Operation der Welterschließung, die ihn selbst zu einem literarischen Text macht.“
Mir scheint, als hätten Calvino und Habermas, wie im Nebenbei, hier auch einen Königsweg zur Deutung der Unsichtbaren Loge gefunden – denn (ohne dass Gustav, der Verteidiger der Unschuld, ein Don Quijote und Beata seine Dulcinea wäre): Scheint es nicht so, als würde Jean Paul in seiner permanenten Vermischung von Satire und Pathos, von Humor und Trauer, die beiden Kategorien des Schelmenhaften und des Ritterlichen derart kreuzen, dass von einer „Ordnung“ nur mehr bedingt die Rede sein kann (was die zeitgenössischen Rezensenten nicht grundlos verschreckt hat)? Verfügt der Dichter nicht über zwei antithetische Sprachen, die ihm eine Welt erschließen, die er sich – diese Sprachen souverän benutzend – selbst erschafft? Und war Jean Paul die Welt nicht vor allem ein Mittel, mit ihrer Hilfe einen permanenten Text zu kreieren, in dem das Komische und das Pathetische so im Dauerclinch liegen, wie in Leben und Taten des Ritters die noblen Ansprüche des Hidalgos auf die Interessen einer verrohten Umwelt treffen – was erst die Komik, doch auch die Trauer ermöglicht? Denn Don Quijote ist, als Tragikomödie, bekanntlich nicht vorbehaltlos der komischen Literatur zuzuschlagen: als solche würde er vor dem Horizont der Literaturgeschichte nicht versagt, aber vielleicht nur eine eingeschränkte Wirkung erzielt haben.
Jean Paul hat von diesem Reichtum gewusst, den er selbst immer wieder in seine tragikomischen Erzählungen einbrachte. In der Vorschule der Ästhetik hat er es (im § 32 Humoristische Totalität des VII. Programm Über die humoristische Poesie) festgehalten:
Cervantes – dessen Genius zu groß war zu einem langen Spaße über eine zufällige Verrückung und eine gemeine Einfalt – führt, vielleicht mit weniger Bewusstsein als Shakespeare, die humoristische Parallele zwischen Realismus und Idealismus, zwischen Leib und Seele vor dem Angesichte der unendlichen Gleichung durch; und sein Zwillings-Gestirn der Torheit steht über dem ganzen Menschengeschlecht.
Im Übrigen ähnelten manche Passagen seines eigenen Lebens manchen Details des Don Quijote. Jean Paul, ein Roman in Episoden. Der Erzähler hebt an:
Ich war in der Tat ein wenig müde von dem langen Wege und der Hitze. Aber Jean Paul hatte was schön Erquickliches bei sich: eine große Flasche des köstlichsten Weines und eine Viertelpastete, ihm von Frankfurter Kaufleuten auf die Reise mitgegeben. Da auch er außer seinem Kaffee noch nichts genossen hatte, ließen wir's uns wohl schmecken – und unser Freund Sancho hat nicht frischer gekaut und seinen Weinschlauch zärtlicher umarmt und mit zum Himmel gehobnem Blick daraus gekluckt, wie wir aus unsrer Flasche, die auch rein geleert ward. „Der Hurensohn, das war ein Wein!“
Heinrich Voß an Bernhard Rudolf Abeken, Heidelberg, 29. Juni 1818
Fotos: Frank Piontek, 26.4. 2014
----------------------------------------------------------------
[1] Schon im Juni 2014 werden wir auf ihn zurückkommen müssen – so wie der Blogger im Herbst auf den göttlichen Don stoßen wird.
[2] München (!) 1984.
Logen-Blog [409]: Das Komische und das Pathetische im Dauerclinch>
Wer mit offenen Augen und gewissen literarischen Grundkenntnissen durch München zu laufen vermag, dem ist die Stadt ein einziges Lesebuch.
In Schwabing stolpert der Stadtwanderer über den Ritter mit der traurigen Gestalt. Zufällig liest der Blogger, da er gerade einen Vortrag über Jürgen Habermas vorbereitet, ein paar Tage später bei Habermas[1] – der in gewisser Weise auch ein „Münchner“ ist, da er jahrelang in Starnberg arbeitete – einige Sätze über den Don Quijote. In seinem Aufsatz Philosophie und Wissenschaft als Literatur?, der 1988 innerhalb der Aufsatzsammlung Nachmetaphysisches Denken zum Druck befördert wurde, geht Habermas – selten genug hat er sich auf rein literarisches Gebiet gewagt – auf Italo Calvinos Interpretation des spanischen Romans ein, wie jener sie in Kybernetik und Gespenster[2] vorgelegt hatte: „Der Text“, sagt Habermas, „kann nicht nur den Autor, sondern auch den kategorialen Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschlingen, indem er die Operation der Erzeugung einer neuen Welt in sich transparent macht.“ Und dann zitiert der Philosoph den Dichter einer eigentümlich phantastischen Literatur, der über die Literatur nachgedacht hat: „Die Figur des Don Quijote ermöglicht die Auseinandersetzung und die Begegnung zwischen zwei antithetischen Sprachen, ja zwischen zwei literarischen Welten ohne Gemeinsamkeiten: das Wunderbare des Ritterromans und das Komische des Schelmenromans.“ Habermas referiert Calvino: „Damit eröffnet Cervantes nicht nur eine neue Dimension, vielmehr lässt er aus dem Erlebnishorizont einer im Schnittpunkt zweier literarisch vorgeprägter Welten stehenden Figur die neue, quichotische Lesart der Welt im ganzen hervorgehen. An dieser Figur spiegelt der Text selbstbezüglich eben die Operation der Welterschließung, die ihn selbst zu einem literarischen Text macht.“
Mir scheint, als hätten Calvino und Habermas, wie im Nebenbei, hier auch einen Königsweg zur Deutung der Unsichtbaren Loge gefunden – denn (ohne dass Gustav, der Verteidiger der Unschuld, ein Don Quijote und Beata seine Dulcinea wäre): Scheint es nicht so, als würde Jean Paul in seiner permanenten Vermischung von Satire und Pathos, von Humor und Trauer, die beiden Kategorien des Schelmenhaften und des Ritterlichen derart kreuzen, dass von einer „Ordnung“ nur mehr bedingt die Rede sein kann (was die zeitgenössischen Rezensenten nicht grundlos verschreckt hat)? Verfügt der Dichter nicht über zwei antithetische Sprachen, die ihm eine Welt erschließen, die er sich – diese Sprachen souverän benutzend – selbst erschafft? Und war Jean Paul die Welt nicht vor allem ein Mittel, mit ihrer Hilfe einen permanenten Text zu kreieren, in dem das Komische und das Pathetische so im Dauerclinch liegen, wie in Leben und Taten des Ritters die noblen Ansprüche des Hidalgos auf die Interessen einer verrohten Umwelt treffen – was erst die Komik, doch auch die Trauer ermöglicht? Denn Don Quijote ist, als Tragikomödie, bekanntlich nicht vorbehaltlos der komischen Literatur zuzuschlagen: als solche würde er vor dem Horizont der Literaturgeschichte nicht versagt, aber vielleicht nur eine eingeschränkte Wirkung erzielt haben.
Jean Paul hat von diesem Reichtum gewusst, den er selbst immer wieder in seine tragikomischen Erzählungen einbrachte. In der Vorschule der Ästhetik hat er es (im § 32 Humoristische Totalität des VII. Programm Über die humoristische Poesie) festgehalten:
Cervantes – dessen Genius zu groß war zu einem langen Spaße über eine zufällige Verrückung und eine gemeine Einfalt – führt, vielleicht mit weniger Bewusstsein als Shakespeare, die humoristische Parallele zwischen Realismus und Idealismus, zwischen Leib und Seele vor dem Angesichte der unendlichen Gleichung durch; und sein Zwillings-Gestirn der Torheit steht über dem ganzen Menschengeschlecht.
Im Übrigen ähnelten manche Passagen seines eigenen Lebens manchen Details des Don Quijote. Jean Paul, ein Roman in Episoden. Der Erzähler hebt an:
Ich war in der Tat ein wenig müde von dem langen Wege und der Hitze. Aber Jean Paul hatte was schön Erquickliches bei sich: eine große Flasche des köstlichsten Weines und eine Viertelpastete, ihm von Frankfurter Kaufleuten auf die Reise mitgegeben. Da auch er außer seinem Kaffee noch nichts genossen hatte, ließen wir's uns wohl schmecken – und unser Freund Sancho hat nicht frischer gekaut und seinen Weinschlauch zärtlicher umarmt und mit zum Himmel gehobnem Blick daraus gekluckt, wie wir aus unsrer Flasche, die auch rein geleert ward. „Der Hurensohn, das war ein Wein!“
Heinrich Voß an Bernhard Rudolf Abeken, Heidelberg, 29. Juni 1818
Fotos: Frank Piontek, 26.4. 2014
----------------------------------------------------------------
[1] Schon im Juni 2014 werden wir auf ihn zurückkommen müssen – so wie der Blogger im Herbst auf den göttlichen Don stoßen wird.
[2] München (!) 1984.