Logen-Blog [321]: Ein Stück Oblomow
Um Weihnachten herum steht russische Lektüre an. Winterstimmung, weiße Seiten. Im letzten Jahr war es, wie passend, Andrej Belyjs Petersburg, diesmal war es Iwan Gontscharows Обломов, der seit vielen Jahren darauf wartete, von mir gelesen zu werden – und gleichfalls in St. Petersburg, der schönen Stadt an der Neva, spielt.
Oblomow also, ein Typus: ein Mann, der seine reifen und späten Jahre auf dem Sofa verbringt. Lediglich eine kurz aufflackernde Liebesgeschichte und eine Ausquartierung vermögen ihn scheinbar aus der Lethargie zu reißen, bevor er wieder auf seine Schlafstätte zurücksinkt. Die ersten 200 Seiten schildern ausschließlich den vergeblichen Versuch Oblomows, aufzustehen, während er diverse Besuche bekommt... 580 Seiten Prosa über einen müden Mann – ist das spannend? Oho, es ist außerordentlich spannend – und witzig – und, sieh an, sogar bedenkenswert. Denn „in jedem von uns schlummert ein bedeutender Oblomow-Anteil und es ist zu früh, um uns selbst eine Grabesrede zu schreiben“, wie Gontscharow geschrieben hat.
Ein Stück Oblomow in uns selbst? In uns, die wir früh aufstehen, Kaffee kochen, trinken, währenddessen den PC anstellen, die Zeitung aus dem Kasten holen und aufschlagen und schließlich sofort den Jean Paul-Band zur Hand nehmen, um mit der täglichen Lektüre-Arbeit und Schreib-Arbeit zu beginnen, bevor wir „in die Arbeit gehen“, die wir den Tag über tätig sind und noch abends die Kultur besichtigen, darüber reflektieren, mitunter abends noch schreiben, mitunter nachts noch, wie auch immer, tätig sind? Wer ist dagegen Oblomow? Ein extrem antriebsschwacher Mensch, dem man öfters gern eins „in die Fresse hauen“ würde (wie Daniil Charms geschrieben hätte), ein Opfer der furchtbaren oblomowschtschina, ein typisch „überflüssiger Mensch“, wie er in der russischen Literatur öfters auftaucht. Ist Ilja Iljitsch Oblomow nicht der völlig Andere?
Und wenn er es wäre! Oblomows Lebenshaltung mag auf den ersten Blick abstoßend, wenn auch amüsant wirken. Sein Gegenpol, der durchaus nicht unsympathsiche „Deutsche“ mit dem sprechenden Namen „Stolz“, dem alles gelingt, der die richtige Frau fürs Leben bekommt (Olga, die Oblomow durch seine krankhafte Trägheit verspielte), der die Welt bereist, ein schönes Haus an der See besitzt, eine Familie gründet, tiefsinnige Gespräche führt und das Leben mit seiner Arbeit und seinen Bemühungen um Frau und Kind ausfüllt – dieser Stolz ist nicht glücklich, wird auch nie glücklich werden. Nicht, dass er unglücklich wäre – aber Gontscharow macht klar, dass das durch den „höheren Geist“ provozierte Grübeln, das diesem hellwachen, intelligenten Intellekt entspringt, notwendigerweise dazu führt, die Angenehmheit des Lebens zu versalzen. Auch Olga ist von dieses Gedankens Blässe angekränkelt; zusammen sind sie ein treffliches Paar, das ein „schönes Leben“ – und ein allzu skrupulöses führt. Nicht, dass Dummheit glücklich machen würde; man kann nicht einmal behaupten, dass Oblomow dumm wäre, gelegentliche Aufwallungen zeigen, dass er erstklassige Anlagen hat. Aber die Bescheidenheit, mit der er sich in das „gute Leben“ fügt, das aus viel Schlaf, warmen Mahlzeiten und der Abwesenheit jeglichen Geistes in seiner Umgebung, der Wiborgskajastrasse, besteht, dieses gute Leben und Oblomows Hineinsinken wird so geschildert, dass man ihm unmöglich böse sein kann. Während Stolz tätig ist und hat, woran er immer zweifelt, ist Oblomow einfach, aber sicher: er ist in seinem Sein, das keiner Erklärung und keiner Entwicklung bedarf, um ein vollkommenes zu sein. Urteile verbieten sich, wo Oblomow herzensgut bleibt – was schließlich eine Qualifikation ist, die ihm Stolz' tiefe Freundschaft bis zu jenem Moment garantiert, in dem der Deutsche erkennen muss, dass die kleinbürgerlich-apathische Lebensweise – unter den Fittichen der Witwe und Frau Agafja Matwejewna – eine Mauer zwischen ihm und Oblomow errichtet. Doch ist er es, der sie aufmauert – und auch dies ist natürlich.
Muss man, soll man Oblomow beneiden, der, buchstäblich, den Hintern nicht hochbekommt und dadurch ein kleines Königreich gewinnt? Muss man ihn verachten, weil er sich – wofür er nicht verantwortlich ist – der Leistungsgesellschaft verweigert? Vielleicht würde man heute den Mann mit Psychopharmaka behandeln, würde ihn aktivieren, würde ihn zwingen zu leben, denn Leben bedeutet schließlich Arbeit. Schon recht – doch würde man mit dieser Methode keinen Roman mehr schreiben können, der einen derart interessanten Charakter besitzt – einen Charakter, der nicht interessant ist, weil er grandiose Heldentaten vollbringt, die Menschheit rettet oder ein Gesamtwerk von 65 Bänden produziert, denn er ist nicht einmal in der Lage, ein Buch geschweige denn eine Zeitung zu Ende zu lesen. Was verschlägt's? Wir können ihm nicht böse sein, solange die Alternative darin besteht, sich in „des Lebens Mühen“ Sorgen um das Leben zu machen, die erst dann beginnen, wenn man dieses Leben beginnt. Warum sollte man es, wenn man ökonomisch unabhängig ist? Zugegeben: das ökonomische Sein bestimmt (auch) sein Bewusstsein. Oblomow hat nicht die Luxussorgen Stolz' und Olgas, die nur deshalb ins Leben traten, weil sie beide intellektuell entwickelter sind als der Mann auf dem Sofa. Allein diese Erkenntnis würde ausreichen, dem Mann auf dem Sofa jene Ehre zu erweisen, die man allen erweisen sollte, die nichts dafür tun, dass im Leben zwar nicht das Gute, das Schöpferische – doch auch nicht das Schlechte, das Destruktive einen Platz hat. Wer nichts tut, kann auch nichts Schlechtes tun.
Ein Stück Oblomow in uns selbst? Man kann nur hoffen, dass es so ist. Es muss ja kein großes Stück sein.
Iwan Alexandrowitsch Gontscharow, 1860.
Und was hat Oblomow mit Jean Pauls Romanwerk zu tun? Womöglich mehr, als man denkt. Am Ende des Romans nämlich tritt überraschenderweise eine neue Figur in diesem übersichtlich geordneten Kosmos auf: ein Schriftsteller. Ein etwas müder Schriftsteller, wie man hinzufügen muss. Dass es der Erzähler des Romans „Oblomow“, dieser Biographie[1] des müden Menschen ist: muss man es betonen? Und muss man darauf hinweisen, dass das Stilmittel des Auftretens des Erzählers und Autors im Roman selbst eine extrem jeanpauleske Idee ist?
Wichtiger ist vielleicht die Beobachtung, dass die Charaktere dieses Romans allesamt, natürlich in sprachlich völlig anderer Form, bei Jean Paul auftreten könnten, weil sie entweder extrem oder noch in ihrer „Normalität“ interessant, im Falle Stolz' und Olgas (fast, s.o.) ideal erscheinen. Hier die Schlafmütze auf dem Sofa, begleitet von einem unfähigen, aufmüpfigen, krächzenden alten Diener, assistiert von einem „Freund“ wie Tarentjew, der ihn ausnimmt, von verbrecherischen Typen wie dem Bruder der gutmütig-schlichten „Hausfrau“, von müden Typen wie Alexej Alexejwitsch, die fast ebenso apathisch in der staubigen Stube herumsitzen – dort die Menschen, die wir uns auch auf einem jeanpaulschen Landgut vorstellen können: die freundliche Tante Olgas, die hübsche, junge, aufgeweckte, sensible Frau (weniger zurückhaltend als Beata, aber ebenso offen für die Segnungen des Gutseins), der fleißige, erfolgreiche, dem Recht verpflichtete Kaufmann. Dass die russische Literatur mit Jean Paul zusammenhängt, haben wir ja schon bei Nikolai Karamsin gesehen, der übrigens einmal, neben Dimitriew[2], Batjuschkow[3] und Schukowskij[4], im Oblomow erwähnt wird. Alle drei sind übrigens Dichter der Jean-Paul-Zeit.
Konstantin Nikolajewitsch Batjuschkow und Wassili Andrejewitsch Schukowski, 1815.
-----------------------------------------------------------------------
[1] Eine Lebensbeschreibung – so lautet bekanntlich der Untertitel der Unsichtbaren Loge.
[2] Iwan Iwanowitsch Dmítrijew (1760-1837).
[3] Konstantin Nikolajewitsch Batjuschkow (1787-1855).
[4] Wassili Andrejewitsch Schukowski (1783-1852). Orest A. Kiprenski, dessen Gemälde in den großen russischen Kunstmuseen zu finden sind, hat Batjuschkow und Schukowski im selben Jahr 1815 gemalt.
Logen-Blog [321]: Ein Stück Oblomow>
Um Weihnachten herum steht russische Lektüre an. Winterstimmung, weiße Seiten. Im letzten Jahr war es, wie passend, Andrej Belyjs Petersburg, diesmal war es Iwan Gontscharows Обломов, der seit vielen Jahren darauf wartete, von mir gelesen zu werden – und gleichfalls in St. Petersburg, der schönen Stadt an der Neva, spielt.
Oblomow also, ein Typus: ein Mann, der seine reifen und späten Jahre auf dem Sofa verbringt. Lediglich eine kurz aufflackernde Liebesgeschichte und eine Ausquartierung vermögen ihn scheinbar aus der Lethargie zu reißen, bevor er wieder auf seine Schlafstätte zurücksinkt. Die ersten 200 Seiten schildern ausschließlich den vergeblichen Versuch Oblomows, aufzustehen, während er diverse Besuche bekommt... 580 Seiten Prosa über einen müden Mann – ist das spannend? Oho, es ist außerordentlich spannend – und witzig – und, sieh an, sogar bedenkenswert. Denn „in jedem von uns schlummert ein bedeutender Oblomow-Anteil und es ist zu früh, um uns selbst eine Grabesrede zu schreiben“, wie Gontscharow geschrieben hat.
Ein Stück Oblomow in uns selbst? In uns, die wir früh aufstehen, Kaffee kochen, trinken, währenddessen den PC anstellen, die Zeitung aus dem Kasten holen und aufschlagen und schließlich sofort den Jean Paul-Band zur Hand nehmen, um mit der täglichen Lektüre-Arbeit und Schreib-Arbeit zu beginnen, bevor wir „in die Arbeit gehen“, die wir den Tag über tätig sind und noch abends die Kultur besichtigen, darüber reflektieren, mitunter abends noch schreiben, mitunter nachts noch, wie auch immer, tätig sind? Wer ist dagegen Oblomow? Ein extrem antriebsschwacher Mensch, dem man öfters gern eins „in die Fresse hauen“ würde (wie Daniil Charms geschrieben hätte), ein Opfer der furchtbaren oblomowschtschina, ein typisch „überflüssiger Mensch“, wie er in der russischen Literatur öfters auftaucht. Ist Ilja Iljitsch Oblomow nicht der völlig Andere?
Und wenn er es wäre! Oblomows Lebenshaltung mag auf den ersten Blick abstoßend, wenn auch amüsant wirken. Sein Gegenpol, der durchaus nicht unsympathsiche „Deutsche“ mit dem sprechenden Namen „Stolz“, dem alles gelingt, der die richtige Frau fürs Leben bekommt (Olga, die Oblomow durch seine krankhafte Trägheit verspielte), der die Welt bereist, ein schönes Haus an der See besitzt, eine Familie gründet, tiefsinnige Gespräche führt und das Leben mit seiner Arbeit und seinen Bemühungen um Frau und Kind ausfüllt – dieser Stolz ist nicht glücklich, wird auch nie glücklich werden. Nicht, dass er unglücklich wäre – aber Gontscharow macht klar, dass das durch den „höheren Geist“ provozierte Grübeln, das diesem hellwachen, intelligenten Intellekt entspringt, notwendigerweise dazu führt, die Angenehmheit des Lebens zu versalzen. Auch Olga ist von dieses Gedankens Blässe angekränkelt; zusammen sind sie ein treffliches Paar, das ein „schönes Leben“ – und ein allzu skrupulöses führt. Nicht, dass Dummheit glücklich machen würde; man kann nicht einmal behaupten, dass Oblomow dumm wäre, gelegentliche Aufwallungen zeigen, dass er erstklassige Anlagen hat. Aber die Bescheidenheit, mit der er sich in das „gute Leben“ fügt, das aus viel Schlaf, warmen Mahlzeiten und der Abwesenheit jeglichen Geistes in seiner Umgebung, der Wiborgskajastrasse, besteht, dieses gute Leben und Oblomows Hineinsinken wird so geschildert, dass man ihm unmöglich böse sein kann. Während Stolz tätig ist und hat, woran er immer zweifelt, ist Oblomow einfach, aber sicher: er ist in seinem Sein, das keiner Erklärung und keiner Entwicklung bedarf, um ein vollkommenes zu sein. Urteile verbieten sich, wo Oblomow herzensgut bleibt – was schließlich eine Qualifikation ist, die ihm Stolz' tiefe Freundschaft bis zu jenem Moment garantiert, in dem der Deutsche erkennen muss, dass die kleinbürgerlich-apathische Lebensweise – unter den Fittichen der Witwe und Frau Agafja Matwejewna – eine Mauer zwischen ihm und Oblomow errichtet. Doch ist er es, der sie aufmauert – und auch dies ist natürlich.
Muss man, soll man Oblomow beneiden, der, buchstäblich, den Hintern nicht hochbekommt und dadurch ein kleines Königreich gewinnt? Muss man ihn verachten, weil er sich – wofür er nicht verantwortlich ist – der Leistungsgesellschaft verweigert? Vielleicht würde man heute den Mann mit Psychopharmaka behandeln, würde ihn aktivieren, würde ihn zwingen zu leben, denn Leben bedeutet schließlich Arbeit. Schon recht – doch würde man mit dieser Methode keinen Roman mehr schreiben können, der einen derart interessanten Charakter besitzt – einen Charakter, der nicht interessant ist, weil er grandiose Heldentaten vollbringt, die Menschheit rettet oder ein Gesamtwerk von 65 Bänden produziert, denn er ist nicht einmal in der Lage, ein Buch geschweige denn eine Zeitung zu Ende zu lesen. Was verschlägt's? Wir können ihm nicht böse sein, solange die Alternative darin besteht, sich in „des Lebens Mühen“ Sorgen um das Leben zu machen, die erst dann beginnen, wenn man dieses Leben beginnt. Warum sollte man es, wenn man ökonomisch unabhängig ist? Zugegeben: das ökonomische Sein bestimmt (auch) sein Bewusstsein. Oblomow hat nicht die Luxussorgen Stolz' und Olgas, die nur deshalb ins Leben traten, weil sie beide intellektuell entwickelter sind als der Mann auf dem Sofa. Allein diese Erkenntnis würde ausreichen, dem Mann auf dem Sofa jene Ehre zu erweisen, die man allen erweisen sollte, die nichts dafür tun, dass im Leben zwar nicht das Gute, das Schöpferische – doch auch nicht das Schlechte, das Destruktive einen Platz hat. Wer nichts tut, kann auch nichts Schlechtes tun.
Ein Stück Oblomow in uns selbst? Man kann nur hoffen, dass es so ist. Es muss ja kein großes Stück sein.
Iwan Alexandrowitsch Gontscharow, 1860.
Und was hat Oblomow mit Jean Pauls Romanwerk zu tun? Womöglich mehr, als man denkt. Am Ende des Romans nämlich tritt überraschenderweise eine neue Figur in diesem übersichtlich geordneten Kosmos auf: ein Schriftsteller. Ein etwas müder Schriftsteller, wie man hinzufügen muss. Dass es der Erzähler des Romans „Oblomow“, dieser Biographie[1] des müden Menschen ist: muss man es betonen? Und muss man darauf hinweisen, dass das Stilmittel des Auftretens des Erzählers und Autors im Roman selbst eine extrem jeanpauleske Idee ist?
Wichtiger ist vielleicht die Beobachtung, dass die Charaktere dieses Romans allesamt, natürlich in sprachlich völlig anderer Form, bei Jean Paul auftreten könnten, weil sie entweder extrem oder noch in ihrer „Normalität“ interessant, im Falle Stolz' und Olgas (fast, s.o.) ideal erscheinen. Hier die Schlafmütze auf dem Sofa, begleitet von einem unfähigen, aufmüpfigen, krächzenden alten Diener, assistiert von einem „Freund“ wie Tarentjew, der ihn ausnimmt, von verbrecherischen Typen wie dem Bruder der gutmütig-schlichten „Hausfrau“, von müden Typen wie Alexej Alexejwitsch, die fast ebenso apathisch in der staubigen Stube herumsitzen – dort die Menschen, die wir uns auch auf einem jeanpaulschen Landgut vorstellen können: die freundliche Tante Olgas, die hübsche, junge, aufgeweckte, sensible Frau (weniger zurückhaltend als Beata, aber ebenso offen für die Segnungen des Gutseins), der fleißige, erfolgreiche, dem Recht verpflichtete Kaufmann. Dass die russische Literatur mit Jean Paul zusammenhängt, haben wir ja schon bei Nikolai Karamsin gesehen, der übrigens einmal, neben Dimitriew[2], Batjuschkow[3] und Schukowskij[4], im Oblomow erwähnt wird. Alle drei sind übrigens Dichter der Jean-Paul-Zeit.
Konstantin Nikolajewitsch Batjuschkow und Wassili Andrejewitsch Schukowski, 1815.
-----------------------------------------------------------------------
[1] Eine Lebensbeschreibung – so lautet bekanntlich der Untertitel der Unsichtbaren Loge.
[2] Iwan Iwanowitsch Dmítrijew (1760-1837).
[3] Konstantin Nikolajewitsch Batjuschkow (1787-1855).
[4] Wassili Andrejewitsch Schukowski (1783-1852). Orest A. Kiprenski, dessen Gemälde in den großen russischen Kunstmuseen zu finden sind, hat Batjuschkow und Schukowski im selben Jahr 1815 gemalt.