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18.12.2013, 17:28 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [306]: Wilhelmshöhe – Der Landgraf – Die schöne Madonna – Luini

Als Jean Paul die Unsichtbare Loge beendete – im Jahre 1792 – begann in Kassel ein Bauvorhaben größeren Ausmaßes. Das Schloss Wilhelmshöhe stand schon oben über der Stadt, zwischen Herkules und Allee, aber ihm fehlte noch der Mittelbau. Wo sich heute das Corps de logis erhebt, befand sich damals, zwischen zwei separat errichteten Seitenflügeln, ein altes Schloss, das nach Plänen des Architekten Heinrich Christoph Jussow ersetzt wurde. So haben sich zwei große Baumeister dort oben verewigt: Jussow und Simon Louis du Ry, dem man in Hessen-Kassel allenthalben begegnet.

„Frei und gegeneinander wohl abgewogen standen nun die drei Teile des Schlosses – ein fürstliches Landschloss in innigem Zusammenhang, die es umwob und durchflutete“, heißt es im uralten Schlossführer, in dem es vor allem um den Weißensteinflügel geht. Man kann ihn in einer Führung selbst dann besichtigen, wenn es schon zu dunkel ist, um die Gemälde noch genau zu sehen; er allein ist in seiner historischen Innensubstanz erhalten, während sich im Corps de logis heute die phänomenale wie hinreißende Galerie der Alten Meister und die Antikensammlung befindet.

Es war der 1743 geborene Landgraf Wilhelm IX. von Hessen-Kassel, der den Bau initiierte und zwei Jahre nach Jean Pauls Kassel-Besuch zum Kurfürst ernannt werden konnte – womit es 1806 ein Ende hatte, als Napoleons Truppen die Hauptstadt besetzten und das Kurfürstentum dem neu geschaffenen Königreich Westphalen eingliederten. Wir werden vielleicht noch auf ihn zurückkommen.

Hat Jean Paul ihn gesehen, als er sich – durchaus zweideutig – über die Sonne auf der Wilhelmshöhe äußerte?

Wir müssen uns die Wilhelmshöhe zu Jean Pauls Zeiten anders vorstellen. Der Mittelbau hatte noch eine Kuppel, die Farbe des Gebäudes war weiß, nicht rötlich – die Sonne, die auf diese Mauern fiel, war heller als jene, die wir heute wahrnehmen, aber gleich blieb die grandiose Lage des Schlosses inmitten der Landschaft des Bergparks – und wieder begegnet die Gleichzeitigkeit des gleichsam Ungleichzeitigen: hier sitzt ein Schulmeister in einem winzigen Haus, das Palais genannt wird, dort baut sich ein Landgraf ein höchst repräsentatives Schloss, in dem die Herrschaften sitzen, die der kleine Schulmeister gerade beschreibt, und die er ein paar Jahre später kennenlernen soll.

Die Alten Meister – Jean Paul hat auch die berühmten Kasseler Gemälde gesehen; er, der Augenmensch, ging in die berühmte Galerie – doch war die Galerie seinerzeit nicht auf der Wilhelmshöhe zu finden. Noch befand sich die Sammlung in einem Galeriegebäude hinter dem Landgrafenpalais zwischen dem Hang der Karlsaue und der Frankfurter Straße.

Hier, am Friedrichsplatz, zwischen Fridericianum, Königsstraße und Staatstheater, beginnt die Frankfurter Straße, die am Auenhang entlangführt; Jean Paul wird sie heruntergelaufen sein, um irgendwann wieder in der Altstadt zu landen.

Der Göttinger Professor Georg Sartorius hat uns – man kann das in einem Brief an Goethe nachlesen – einige „Bemerkungen des Herrn Jean Paul“ überliefert, die er „während meines Verweilens auf der Bildergalerie“ einsammeln konnte. Besonders interessant ist ein Satz, den er auf eine schöne Frau bezog.

In dem Gesichte der heiligen Jungfrau von Leonardo hat er den Charakter einer Schwäbin gefunden.

Den Charakter einer Schwäbin? Man wüsste wirklich gern, was der Dichter von Schwäbinnen hielt. Fand er sie lieblich? Offensichtlich – denn man findet bei ihm, ein paar Jährchen später – anlässlich einer Besprechung von Hebels Allemanischen Gedichten – ein Lob der schwäbischen Mundart, das man auf das Madonnenbildnis beziehen darf:

Ich wünschte es wäre in der eleganten Welt das Schwäbische nur halb so einheimisch als das Französische. Denn nur die Mundart jenes Landes, das sonst das Mutterland einer unvergleichlichen Dichtkunst war und das jetzt das Vaterland einiger großen Dichter ist, spricht das zarte spielende Musenkind; und mit der schwäbischen Mundart entzöge man ihm seine halbe Kindlichkeit und Anmut. Manchem Dichter wären die wohllauten schwäbischen Zusammenziehungen – z.B. Sagi'm statt: sage ich ihm – zu gönnen und das Ausmustern unserer engen n; das Eintauschen des i gegen das ewige deutsche e; und die Verwandlung des harten Verkleinerung -chen in das süße -li; und am meisten der Reichtum an Diminutiven, den mit den Schwaben noch Schweizer, Östreicher und Letten teilen.

In allen Sprachen verkleinert die Liebe ihr Geliebtes, gleichsam um es zu verjüngen und zum Kinde zu machen, das ja der Amor selber ist.

Der Amor selbst... Scheint es nicht, als habe der Maler mindestens einen Amorknaben ins Bild gesetzt?

Jean Paul also fühlt sich an Schwäbisches erinnert, als er die schöne Madonna betrachtet: ein Werk Leonardos, wie Herr Sartorius meinte. Allein wer heute in Kassel ist, wird zwar einen Leonardo-Sschüler oder -Nachfolger entdecken: den Giampietrino, der eine Leda mit ihren Kindern malte – doch keine schwäbisch angehauchte Madonna. Man muss schon nach St. Petersburg fahren, um in der Eremitage jenes Bild[1] zu sehen, das Jean Paul damals vor Augen hatte. Wer das Original jenes Russischen Stücks betrachten will, muss allerdings nur nach Mailand reisen, in die berühmte Pinacoteca Ambrosiana. Dort hängt sie:  die Sacra Famiglia con San Giovannino e San Anna. Dort hängen auch noch andere Bilder des Meisters, der hierzulande kaum bekannt ist, weil sich seine Werke kaum in deutschen Gemäldegalerien finden lassen. Er blieb, sozusagen, ein Meister der Lombardei: Bernardino Luini.

Luini? Da tun ein paar Informationen gut: Luini wurde etwa um 1480 in einem Kaff beim Lago Maggiore geboren: in Runo. Mit etwa 30 Jahren hatte er seine Lehrjahre hinter sich gebracht und tritt als maestro in Erscheinung. Dass man in Kassel sein Bild für das Werk Leonardos hielt, verwundert nicht: seine Kunst besitzt die Züge Raffaels, Leonardos und Melozzo da Forlis – die zwar alle als ausgesprochen unterscheidbare Personalgenies in Erscheinung traten, aber im Sinne eines stilo dolce[2] zumindest oberflächlich vergleichbar sind. Am meisten scheint er mir noch etwas von Raffael, von seinem sfumato zu haben. Von Leonardo übernahm er, lese ich, „Erfindungen“; seine Inventionen sind also motivisch dem Werk des Älteren verwandt.

Thematisch und vom Ausdruck der Gesichter her könnte die Pariser Anna Selbdritt auch von Luini stammen – so wie die Kasseler Leda direkt von Leonardo abstammt.

Seine Salome mit dem Haupt Johannes des Täufers (in den Uffizien) stammt direkt von Leonardos La Scapigliata (in Parma) ab.[3]

Nun ist auch klar, wo jenes Bild herkam, dessen Kopie Jean Paul in Kassel sah. Die Vorlage hat sich in einer wundervollen Zeichnung erhalten: dem Burlington House Cartoon in der Londoner National Gallery.[4]

Auch dieses Gemälde – wieder eine Heilige Familie mit dem jungen Johannes (heute im Prado) – hat seine Vorlage bei Leonardo gehabt.

Bevor unser Mann mit etwa 50 Jahren, 1532 also in Mailand starb, malte er viele Heiligenbilder, auch noch Heilige Familien.

Er malte Madonnen –

Madonnen –

und Madonnen –

und Madonnen. Sehr schöne Madonnen übrigens.

Er malte auch, wenn gewünscht, Susannas im Bade –

und andere Arten von Madonnen: zum Beispiel fein lächelnde Salomes

und Salomes,

die auch von Nahem betrachtet noch sehr schön sind.

Nun muss ich allerdings lesen, dass „seine lieblichen Madonnengemälde Luini den Ruf von Oberflächlichkeit eingetragen haben“. Sie „entsprechen allerdings vor allem den Vorlieben jener Epoche, in welcher der Kitsch als solcher erst entdeckt wurde“. Welcher Mensch hat so etwas ins meinungsmachende Internet-Lexikon gesetzt? Vermutlich ein verklemmter, sexfeindlicher, unsinnlicher, frustrierter, komplexbeladener Professor, der Angst vor schönen Frauen hat.

Belächeln wir ihn nicht – haben wir Mitleid mit ihm, der „Kitsch“[5] mit Schönheit verwechselt: eine Schönheit, die uns bleibt, und die Jean Paul umstandslos mit der schwäbischen Schönheit, mit Anmut und Liebe zusammenbringen konnte.

Fotos: Frank Piontek, 5.11. 2013, Mai 2010 / Mai 2011

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[1] Es wurde 1806 von den Franzosen geraubt und nach Paris verschleppt, wo sie im Malmaison, dem Palais der Kaiserin Josephine hingen, von wo sie weit nach Osten gelangten.

[2] Gibt es diesen Begriff bei den Kunsthistorikern? Nicht? Dann habe ich ihn gerade erfunden.

[3] Diese Zeichnung findet sich allerdings nicht bei Zöllner – ein typischer Fall von Abschreibung? Man muss freilich auch den Kunsthistorikern misstrauen, die bekanntlich (bekanntlich?) auch nur fehlbare Menschen sind (s.o., und siehe die seltsame Debatte mit Roberto Zapperi über die Identität der Mona Lisa, bei der die „akademische“ Meinungsmacherei – wie im Falle „Shakespeares“ – allzu oft den Weg zur Realität verbaut hat).

[4] Genaueres erfährt man natürlich bei Zöllner, insbes. S. 191ff., auch über Leonardos Leda.

[5] Brecht meinte immerhin noch: Kitsch ist gut gemeint. Nebenbei: im Sinne des Professors müssten dann auch auch die Meisterwerke Raffaels und Leonardos dem Kitschverdacht anheimfallen.