Logen-Blog [28]: Über ober- und unterirdische Erziehung
Der Knabe vergisst schnell – seinen Erzieher, den er so liebt. Die neuen Eindrücke, oberirdisch, machen es, dass er dem Schmerz über das plötzliche Verschwinden des „Genius“ nicht viel Raum und Zeit gibt – so wie eine Katze vergisst, dass sie einmal von einem Menschen geliebt wurde, der mit einem Mal nicht mehr anwesend ist, obwohl man sich oft und lange schnurrend in seinen Armen wohlfühlte. Man kann ihn ja verstehen: alles ist neu für ihn. Der Dichter entschuldigt selbst dieses Vergessen, er schreibt es seiner Jugend und seinem Charakter zu, dass das Vergessen – „die Abendstunden der schmerzlichsten Sehnsucht ausgenommen“ – ihn in Besitz nimmt. Die Natur hat das, wie ich letztens schmerzerfüllt lesen musste, schon gut eingerichtet: dieses (totale oder partielle) Vergessen auch des Schönen. Würde man nicht vergessen, würde man wahnsinnig werden; das ist richtig – oder eine Treue bis in den Tod bewahren, die selbstmörderisch wäre.
Der Knabe also entdeckt die Welt, nun wohnt er in jenen engen Häusern, „die nicht 38 Quadratschuhe vom Himmel sichtbar lassen“. Allein es ist eine seltsame, nicht ganz geglückte ironische Wendung, dass der Autor behauptet: genau dies sei gut, da der Kontrast zum „natürlichen“ Leben, in dem man Sonnenaufgänge sehen könne, dafür sorge, dass man beides optimal wahrnehmen könne. Das Gute an diesem vergleichenden Witz scheint mir allerdings die Formel zu sein, dass die „vornehmen Kinder“ Sonnenaufgänge gewöhnlich nur „in der Postkalesche oder in Karlsbad“ erleben würden. Scheint es nicht so, als würde der Erzähler die neue, die oberirdische Art der Erziehung nun verteidigen? Da doch die unterirdische schon perfekt schien? Als sei die wahre Erziehung ein Ding, das die äußere Anschauung nicht eigentlich bräuchte?
Jein – denn die Begeisterung, mit der Gustav die strahlende, blühende, natürliche Welt nun entdeckt, ist so stark, dass sie das einzige Äquivalent zu den innerlichen Lehren des Genius zu sein vermag.
Wieder eine Seltsamkeit: ich lese folgenden Satz: „Ebenso bücken wir uns am Lebens-Abend an alten Gräbern unsrer frühen Freunde, die niemand bedauert als wir; bis endlich den letzten Greis aus dem liebenden Zirkel ein fremder Jüngling beerdigt; aber keine einzige Seele erinnert sich der schönen Jugend des letzten Greises!“ Heute morgen lese ich eine Todesanzeige; wieder – zum dritten Mal in diesen Wochen – ist einer meiner Bekannten gestorben. Ein zweifelhafter „Vorteil“, wenn man relativ jung stirbt: es werden Seelen am Grabe stehen, die sich noch erinnern.
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Der Knabe vergisst schnell – seinen Erzieher, den er so liebt. Die neuen Eindrücke, oberirdisch, machen es, dass er dem Schmerz über das plötzliche Verschwinden des „Genius“ nicht viel Raum und Zeit gibt – so wie eine Katze vergisst, dass sie einmal von einem Menschen geliebt wurde, der mit einem Mal nicht mehr anwesend ist, obwohl man sich oft und lange schnurrend in seinen Armen wohlfühlte. Man kann ihn ja verstehen: alles ist neu für ihn. Der Dichter entschuldigt selbst dieses Vergessen, er schreibt es seiner Jugend und seinem Charakter zu, dass das Vergessen – „die Abendstunden der schmerzlichsten Sehnsucht ausgenommen“ – ihn in Besitz nimmt. Die Natur hat das, wie ich letztens schmerzerfüllt lesen musste, schon gut eingerichtet: dieses (totale oder partielle) Vergessen auch des Schönen. Würde man nicht vergessen, würde man wahnsinnig werden; das ist richtig – oder eine Treue bis in den Tod bewahren, die selbstmörderisch wäre.
Der Knabe also entdeckt die Welt, nun wohnt er in jenen engen Häusern, „die nicht 38 Quadratschuhe vom Himmel sichtbar lassen“. Allein es ist eine seltsame, nicht ganz geglückte ironische Wendung, dass der Autor behauptet: genau dies sei gut, da der Kontrast zum „natürlichen“ Leben, in dem man Sonnenaufgänge sehen könne, dafür sorge, dass man beides optimal wahrnehmen könne. Das Gute an diesem vergleichenden Witz scheint mir allerdings die Formel zu sein, dass die „vornehmen Kinder“ Sonnenaufgänge gewöhnlich nur „in der Postkalesche oder in Karlsbad“ erleben würden. Scheint es nicht so, als würde der Erzähler die neue, die oberirdische Art der Erziehung nun verteidigen? Da doch die unterirdische schon perfekt schien? Als sei die wahre Erziehung ein Ding, das die äußere Anschauung nicht eigentlich bräuchte?
Jein – denn die Begeisterung, mit der Gustav die strahlende, blühende, natürliche Welt nun entdeckt, ist so stark, dass sie das einzige Äquivalent zu den innerlichen Lehren des Genius zu sein vermag.
Wieder eine Seltsamkeit: ich lese folgenden Satz: „Ebenso bücken wir uns am Lebens-Abend an alten Gräbern unsrer frühen Freunde, die niemand bedauert als wir; bis endlich den letzten Greis aus dem liebenden Zirkel ein fremder Jüngling beerdigt; aber keine einzige Seele erinnert sich der schönen Jugend des letzten Greises!“ Heute morgen lese ich eine Todesanzeige; wieder – zum dritten Mal in diesen Wochen – ist einer meiner Bekannten gestorben. Ein zweifelhafter „Vorteil“, wenn man relativ jung stirbt: es werden Seelen am Grabe stehen, die sich noch erinnern.