Logen-Blog [221]: Zwei zufällige Beobachtungen nebst zwei Interappendices als Nachträge
Lesen bildet – manchmal sogar Zeitunglesen. In unserem Markgräflichen Morgenblatte, d.h. in der Markgräflichen Oberpostamtszeitung, wie ich sie zärtlich zu nennen pflege, wurde heute ein kurzer Artikel platziert: Wagner trainiert das Gehirn. Untertitel: Psychologie-Professor: Musik verhindert Depression.
Musik kann also doch – wie ich es gelegentlichst erfahren habe – sogenannte seelische Leiden lindern; die Musiktherapie weiß davon, die Wagnerianer[1] kennen dieses Amalgam aus Leidensdruck und Ekstase. Der Professor – Helmut Reuter vom Kölner Institut für Bildung und Kultur[2] – meint anlässlich eines Vortrags bei der Gesellschaft der Freunde von Bayreuth, dass man allein durch Begeisterung bestimmte Gehirnprozesse steuern könne: „zum Beispiel um Depressionen zu verhindern“. Musik beanspruche vollständig das Gehirn, gesteigert werden kann diese Musikbegeisterung „lediglich noch durch die Musik Richard Wagners“, einer „Ekstase des Musik-Erlebens“, wie Professor Reuter sagt. Das Gehirn werde auf den Ebenen der Emotion, des Intellekts und der Motorik beansprucht, außerdem habe Wagner unbewusste Sehnsüchte gestaltet – und diese Sehnsüchte, ergänze ich, berühren, anders als jede andere „klassische“ Musik, den Hörer in gleichsam unerhörter Weise.
Durch die Ekstase gelangt man also zur seelischen Heilung – aber um welchen Preis? Um den Preis der ewigen Unbefriedigung, die dem Hörer durch die raffinierten Sehnsuchtsausmalungen bewusst oder unbewusst klar werden muss? Ist dies der Grund, warum wir immer wieder Wagner hören müssen – immer und immer wieder? Sind wir nicht alle krank, weil ewig unbefriedigt, die wir nach der Musik des „Meisters“ geradezu gieren?
Just gestern fiel mir im neuen Bayreuther Jean-Paul-Museum das letzte dort verbliebene Exemplar des Jean-Paul-Jahrbuchs in die Hände. Rein zufällig enthält der 10. Band von 1975 einen Beitrag Norbert Millers, des Mitherausgebers der zehnbändigen Jean-Paul-Werkausgabe, in der ich die Loge lese: einen Vortrag über „Ottomars Vernichtvision“ (und Wulf Köpkes Aufsatz über die Loge: Die Aufklärung des Lesers durch den „Anti-Roman“). Ich werde vielleicht darauf zurückkommen, wenn es um dieses Kapitel geht.
Ich treffe einen Jean-Paul-Kenner und -Liebhaber und frage ihn, ob er wüsste, welche Bedeutung der Begriff „kombrisch“ besäße, der nach wie vor ungeklärt ist. Wolfram Benda, dessen Bear Press wir (neben vielem anderem) einige kostbare bibliophile Jean-Paul-Ausgaben, darunter auch Erstausgaben, verdanken, vermutet, nachdem auch er den Begriff nirgendwo finden konnte, dass Jean Paul, als er die Philosophen Ariaga und Bekanus als kombrisch bezeichnete, Männer der Gegenreformation klassifizieren wollte. Falls der Dichter schon Ende des 18. Jahrhunderts wusste, dass die Leute am Niger Kombrier waren, würde das Sinn machen: denn für den satirisch aufgelegten Protestanten sind die Gegenreformatoren ja Wilde.
Drei Repräsentanten des holländischen Geistes: Pierre Bayle, Pierre Coste und La Mettrie
In Zusammenhang mit Ottomars Brief hat „Jean Paul“ den holländischen Geist erwähnt. Ich vermutete, dass es sich hier um eine konkrete Person handelt: um Franz Hemsterhuis, aber auch hier hilft mir Wolfram Benda auf die Sprünge. Gemeint ist nicht eine einzelne aufgeklärte Person, sondern eine Geistesrichtung: die der Freiheit. Die Niederlande waren ja ein Hort der Druckfreiheit; ich nenne die Namen von Pierre Bayle und Pierre Coste, auf die mich der Jean-Paul-Kenner und Shaftesbury-Experte aufmerksam macht: Bayle veröffentlichte 1697 das bedeutende Dictionnaire historique et critique, und „Pierre Coste war u.a. Herausgeber & Übersetzer von Locke, Montaigne &c.“, auch von Shaftesbury, den nun Herr Benda ausgesprochen gut kennt. Auch La Mettrie, denke ich, könnte ein Gewährsmann für Jean Pauls „holländischen Geist“ sein – denn Julien Offray de La Mettrie hatte 45 Jahre zuvor seinen berühmten L'homme machine in den Niederlanden verfasst und in Leyden zum Druck befördert. Allerdings war dies selbst für die Holländer starker Tobak, woraufhin La Mettrie ins ultraliberale Preußen ging. Jean Paul kannte auch diese Schrift; in Der Maschinenmann nebst seinen Eigenschaften hatte er sich 1789 mit ihr auseinander gesetzt. Umstritten ist nur, ob er La Mettries materialistisches Menschenbild kritisierte oder dessen emanzipatorischen Gehalt betonte. Ich vermute: er konnte dem Materialismus nicht viel abgewinnen.
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[1] Unter den Wagnerianern finden sich nicht mehr Individuen, die, populär ausgedrückt, „einen an der Klatsche haben“ und die Musik als Ausgleich für nicht gelebte Träume benötigen – sie fallen, an einem Ort zusammenkommend, hier nur mehr auf.
[2] Laut Homepage verbindet man hier „Aspekte von Alltag, Gesellschaft, Musik und Kunst mit dem Themengebiet der Psychologie. Des Weiteren sind die Optimierung von Organisation und Kommunikation in betrieblichen Abläufen und konkrete Problemlösungen ein wesentliches Tätigkeitsfeld des IfBK.“ Der Schluss zielt auf betriebswirtschaftlich optimierte Abläufe, deren Inhalt sich den Nützlichkeitszwecken des Berufs- und Alltagslebens andient: „Unsere Absicht ist es, die Persönlichkeit in Identität, Kompetenz und Bildungsniveau für das Berufs- und Alltagsleben zu stärken.“ Im Prinzip zielt auch Jean Pauls Literatur, zielt – ob sie will oder nicht – alle gute Literatur dahin: durch die „schönen Künste“ zum „ganzen Menschen“ „gebildet“ zu werden. Die Frage bleibt nur, ob sich die Theorie und das freie Spiel dieser Künste nicht mit dem Zweck an sich beißen – weil ein Zweck formuliert wurde. Besteht nicht die Gefahr, dass das idealistisch formulierte Ziel im Überschwang wieder jenen wirtschaftlichen Prozessen unterworfen wird, die es zu humanisieren galt? Vermutlich denke ich hier wieder zu dialektisch – aber die Kölner sind ehrlich: sie behaupten nicht, dass sie idealistische Ziele haben (ich verstehe den Begriff, Musil folgend, als problematischen Terminus).
Logen-Blog [221]: Zwei zufällige Beobachtungen nebst zwei Interappendices als Nachträge>
Lesen bildet – manchmal sogar Zeitunglesen. In unserem Markgräflichen Morgenblatte, d.h. in der Markgräflichen Oberpostamtszeitung, wie ich sie zärtlich zu nennen pflege, wurde heute ein kurzer Artikel platziert: Wagner trainiert das Gehirn. Untertitel: Psychologie-Professor: Musik verhindert Depression.
Musik kann also doch – wie ich es gelegentlichst erfahren habe – sogenannte seelische Leiden lindern; die Musiktherapie weiß davon, die Wagnerianer[1] kennen dieses Amalgam aus Leidensdruck und Ekstase. Der Professor – Helmut Reuter vom Kölner Institut für Bildung und Kultur[2] – meint anlässlich eines Vortrags bei der Gesellschaft der Freunde von Bayreuth, dass man allein durch Begeisterung bestimmte Gehirnprozesse steuern könne: „zum Beispiel um Depressionen zu verhindern“. Musik beanspruche vollständig das Gehirn, gesteigert werden kann diese Musikbegeisterung „lediglich noch durch die Musik Richard Wagners“, einer „Ekstase des Musik-Erlebens“, wie Professor Reuter sagt. Das Gehirn werde auf den Ebenen der Emotion, des Intellekts und der Motorik beansprucht, außerdem habe Wagner unbewusste Sehnsüchte gestaltet – und diese Sehnsüchte, ergänze ich, berühren, anders als jede andere „klassische“ Musik, den Hörer in gleichsam unerhörter Weise.
Durch die Ekstase gelangt man also zur seelischen Heilung – aber um welchen Preis? Um den Preis der ewigen Unbefriedigung, die dem Hörer durch die raffinierten Sehnsuchtsausmalungen bewusst oder unbewusst klar werden muss? Ist dies der Grund, warum wir immer wieder Wagner hören müssen – immer und immer wieder? Sind wir nicht alle krank, weil ewig unbefriedigt, die wir nach der Musik des „Meisters“ geradezu gieren?
Just gestern fiel mir im neuen Bayreuther Jean-Paul-Museum das letzte dort verbliebene Exemplar des Jean-Paul-Jahrbuchs in die Hände. Rein zufällig enthält der 10. Band von 1975 einen Beitrag Norbert Millers, des Mitherausgebers der zehnbändigen Jean-Paul-Werkausgabe, in der ich die Loge lese: einen Vortrag über „Ottomars Vernichtvision“ (und Wulf Köpkes Aufsatz über die Loge: Die Aufklärung des Lesers durch den „Anti-Roman“). Ich werde vielleicht darauf zurückkommen, wenn es um dieses Kapitel geht.
Ich treffe einen Jean-Paul-Kenner und -Liebhaber und frage ihn, ob er wüsste, welche Bedeutung der Begriff „kombrisch“ besäße, der nach wie vor ungeklärt ist. Wolfram Benda, dessen Bear Press wir (neben vielem anderem) einige kostbare bibliophile Jean-Paul-Ausgaben, darunter auch Erstausgaben, verdanken, vermutet, nachdem auch er den Begriff nirgendwo finden konnte, dass Jean Paul, als er die Philosophen Ariaga und Bekanus als kombrisch bezeichnete, Männer der Gegenreformation klassifizieren wollte. Falls der Dichter schon Ende des 18. Jahrhunderts wusste, dass die Leute am Niger Kombrier waren, würde das Sinn machen: denn für den satirisch aufgelegten Protestanten sind die Gegenreformatoren ja Wilde.
Drei Repräsentanten des holländischen Geistes: Pierre Bayle, Pierre Coste und La Mettrie
In Zusammenhang mit Ottomars Brief hat „Jean Paul“ den holländischen Geist erwähnt. Ich vermutete, dass es sich hier um eine konkrete Person handelt: um Franz Hemsterhuis, aber auch hier hilft mir Wolfram Benda auf die Sprünge. Gemeint ist nicht eine einzelne aufgeklärte Person, sondern eine Geistesrichtung: die der Freiheit. Die Niederlande waren ja ein Hort der Druckfreiheit; ich nenne die Namen von Pierre Bayle und Pierre Coste, auf die mich der Jean-Paul-Kenner und Shaftesbury-Experte aufmerksam macht: Bayle veröffentlichte 1697 das bedeutende Dictionnaire historique et critique, und „Pierre Coste war u.a. Herausgeber & Übersetzer von Locke, Montaigne &c.“, auch von Shaftesbury, den nun Herr Benda ausgesprochen gut kennt. Auch La Mettrie, denke ich, könnte ein Gewährsmann für Jean Pauls „holländischen Geist“ sein – denn Julien Offray de La Mettrie hatte 45 Jahre zuvor seinen berühmten L'homme machine in den Niederlanden verfasst und in Leyden zum Druck befördert. Allerdings war dies selbst für die Holländer starker Tobak, woraufhin La Mettrie ins ultraliberale Preußen ging. Jean Paul kannte auch diese Schrift; in Der Maschinenmann nebst seinen Eigenschaften hatte er sich 1789 mit ihr auseinander gesetzt. Umstritten ist nur, ob er La Mettries materialistisches Menschenbild kritisierte oder dessen emanzipatorischen Gehalt betonte. Ich vermute: er konnte dem Materialismus nicht viel abgewinnen.
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[1] Unter den Wagnerianern finden sich nicht mehr Individuen, die, populär ausgedrückt, „einen an der Klatsche haben“ und die Musik als Ausgleich für nicht gelebte Träume benötigen – sie fallen, an einem Ort zusammenkommend, hier nur mehr auf.
[2] Laut Homepage verbindet man hier „Aspekte von Alltag, Gesellschaft, Musik und Kunst mit dem Themengebiet der Psychologie. Des Weiteren sind die Optimierung von Organisation und Kommunikation in betrieblichen Abläufen und konkrete Problemlösungen ein wesentliches Tätigkeitsfeld des IfBK.“ Der Schluss zielt auf betriebswirtschaftlich optimierte Abläufe, deren Inhalt sich den Nützlichkeitszwecken des Berufs- und Alltagslebens andient: „Unsere Absicht ist es, die Persönlichkeit in Identität, Kompetenz und Bildungsniveau für das Berufs- und Alltagsleben zu stärken.“ Im Prinzip zielt auch Jean Pauls Literatur, zielt – ob sie will oder nicht – alle gute Literatur dahin: durch die „schönen Künste“ zum „ganzen Menschen“ „gebildet“ zu werden. Die Frage bleibt nur, ob sich die Theorie und das freie Spiel dieser Künste nicht mit dem Zweck an sich beißen – weil ein Zweck formuliert wurde. Besteht nicht die Gefahr, dass das idealistisch formulierte Ziel im Überschwang wieder jenen wirtschaftlichen Prozessen unterworfen wird, die es zu humanisieren galt? Vermutlich denke ich hier wieder zu dialektisch – aber die Kölner sind ehrlich: sie behaupten nicht, dass sie idealistische Ziele haben (ich verstehe den Begriff, Musil folgend, als problematischen Terminus).