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31.07.2013, 15:22 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [214]: Es geht nichts, nichts über die Liebe

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Grand Guignol – das Theater des Grauens erfreute sich in Paris lange Zeit größter Beliebtheit.

Der Sonnenstrahl fiel vor seinem Untergang in die leere Augenhöhle eines Totenschädels – in Phiolen hingen Menschen-Blüten, kleine Grundstriche, nach denen das Schicksal den Menschen gar ausziehen wollte, Menschchen mit verhängendem großen Kopf und großen Herzen, aber mit einem großen Kopfe ohne einen Irrtum und einem großen Herzen ohne einen Schmerz – auf einer Tafel lag eine schwarze Färbers-Hand, an deren Farbe der Doktor Proben machen wollte....

Die Szenerie mutet fast „gotisch“ an, der Ort ist die Seele, hier können nur die Gefühle ausgebrütet und erweitert werden, die im Reich des Todes noch möglich sind. Amandus hasst – der Hass findet seinen Ort auch in der Anatomierstube seines Vaters, in die der Freund kommt, um Abschied zu nehmen – doch als der ihm „seine neue Wandnachbarschaft und den Verlust der alten“ mitteilt, ist es aus mit der Beherrschung. Die Übersteigerung des Amandusschen Hasses und der Gustavschen Liebe – denn Gustav wankt und wedelt nicht – besitzt fast kolportagehafte Züge: die Erinnerung an literarisierte Emotionsbereiche, die schauerlich und horrormäßig anmuten. Jean Paul geht an die Grenze dessen, was Puristen „Takt“ nennen würden, er überschreitet sozusagen Geschmacksgrenzen, weil er weiß, dass mit den Requisiten des Grauens schöne grandguignolhafte Szenen zu gewinnen sind. Denn was gibt ihm der „zertrümmerte“ Amandus? Die „kalte schwarze – Färbers-Faust“.

Als Amandus das Haus verlässt, beginnt Gustav zu weinen. Jean Paul findet für diese Szene, im Verborgenen der Kammer, einen Ausdruck, der ihn unversehens – inmitten allen Grand Guignols und allen O-Mensch-Pathos´ – zu einem modernen macht:

Kaum hatte Amandus den gemißhandelten Jugendfreund über die Gasse zittern sehen: so ging er in sein Zimmer, hüllte sich mit dem Kopfkissen zu und ließ, ohne sich anzuklagen oder zu entschuldigen, seine Augen so viel weinen, als sie konnten.

Dieses hüllte sich mit dem Kopfkissen zu markiert (ich kann dieses Detail nicht anders lesen) die Grenze zwischen dem 18. Jahrhundert und der Gegenwart – aber ist auch der Satz, mit dem der Erzähler den 24. Sektor abschließt, modern?

O der Mensch! – warum will dein so bald in Salz, Wasser und Erde zerbröckelndes Herz ein anderes zerbröckelndes Herz zerschlagen – Ach eh' du mit deiner aufgehobnen Totenhand zuschlägst: fällt sie ab in den Gottesacker hin – ach eh' du dem feindlichen Busen die Wunde gegeben, liegt er um und fühlt sie nicht, und dein Hass ist tot oder auch du.

Es wiederholt das, was Gustav empfindet:

Zürne und hasse, aber ich muss dir vergeben und dich lieben – mein ganzes Herz mit allem seinem Blut bleibet deinem getreu und sucht es auf in deiner Brust – und wenn du mich auch künftig verkennest: so will ich doch alle Wochen kommen, ich will dich ansehen, ich will dir zuhören, wenn du mit einem Fremden redest, und wenn du mich dann mit Hass anblickst: so will ich mit einem Seufzer gehen, aber dich doch lieben – ach ich werde alsdann daran denken, dass deine Augen, da sie noch zerschnitten waren, mich schöner anblickten und besser erkannten.... o stoße mich nicht so weg von dir, gib mir nur deine Hand und blicke weg.

O der Mensch... Man mag das kitschig, gefühlig, geschwollen, pathetisch, übersteigert finden. In Wahrheit fordern „Jean Paul“ und sein Autor die Rettung des Menschen vor sich selbst. Sie fordern eine Welt, in der die Hände gereicht werden, aber nicht vertrocknet oder zu Fäusten geballt sind. Sibylle Berg, die ja nun wirklich nicht fürs Pathos bekannt ist, sogar Sibylle Berg hat es in ihrem neuesten Buch[1] bekräftigt: Es geht nichts, nichts über die Liebe. Die Geschichte von Amandus und Gustav ist, so betrachtet, die Probe aufs Exempel.

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[1] Wie halte ich das nur alles aus? Fragen Sie Frau Sibylle.