Deutsch-jüdische Gespräche (12): Joana Osman und Lena Gorelik
Zur Reihe: Zeit wahrzunehmen, zuzuhören und zu erwidern. – Angesichts eines zunehmend aufgeheizten und toxischen Kommunikationsklimas möchten wir hier einen Raum der deutsch-jüdischen Gespräche eröffnen. Denn Literatur ist immer auch ein Verhandeln und Transformieren von Wirklichkeiten und Möglichkeiten; ein Im-Gespräch-stehen. Wir laden ein zum Lesen, Zuhören und zum Erwidern; zu einem Austausch zwischen deutschsprachigen jüdischen und nichtjüdischen Schreibenden und Kunstschaffenden über alles, worüber sie jeweils miteinander reden mögen.
Das zwölfte Gespräch führte Andrea Heuser mit den Schriftstellerinnen Joana Osman und Lena Gorelik.
*
ANDREA HEUSER: Liebe Lena, liebe Joana, vor ungefähr neun Monaten, im März 2024, war ich bei euch auf einer meet your neighbours-Veranstaltung, wo ihr miteinander diskutiert habt über Möglichkeiten des Sprechens in diesen polemisch recht aufgeladenen und politisch hochsensiblen Zeiten. Der 7. Oktober war zudem eine weitere Zäsur, die das öffentliche Sprechen über deutsch-jüdische Identitätsentwürfe und jüdisches Leben, über Antisemitismus, Minderheiten- und Mehrheitskollektive doch nochmal sehr erschwert und herausgefordert hat. Damals habt ihr beide sehr eindrücklich gesagt, dass ihr euch gegen Zuschreibungen wehrt und euch auch als Künstlerinnen dagegen aussprecht, für fixe Positionen, „Seiten“ vereinnahmt zu werden.
Seitdem sind neun Monate vergangen – ein ganzer Geburtenzyklus sozusagen. Hat sich seitdem etwas für euch verändert im öffentlichen Sprechen?
JOANA OSMAN: Bei mir hat sich tatsächlich nicht so viel verändert. Das Thema ist nicht mehr so sehr in den Köpfen wie es nach dem 7. Oktober ja ganz extrem war, ist mein Eindruck. Sicherlich spielt da auch die Gewöhnung einer Gesellschaft an die Gegebenheiten mit hinein. Aber ich bin, glaube ich, immer noch oft in dieser Position, „Klassensprecherin“ für die Palästinenser*innen zu sein. Gerade bei Podiumsdiskussionen geht es ganz oft darum. Also viel geändert hat sich da nicht. Wie ist es für dich?
Joana Osman © Mica Zeitz
LENA GORELIK: Für mich hat sich ganz viel verändert in dem Sinne, dass sich alles zugespitzt hat. Ich habe das Gefühl, es ist alles noch stärker polarisiert. Dieses „Canceling“ zum Beispiel – was ja einerseits dank Antisemitismusresolution quasi von staatlicher Seite, von der das gewollt ist, mit befördert wird, das passiert aber genauso von innen, ist von zwei Seiten wirksam. Man hört auch von vielen Autor*innen inzwischen Sätze wie „mit der oder dem gehe ich nicht aufs Podium.“ Letzte Woche erst habe ich zwei solche Diskussionen geführt; ich finde, das hat sich total verschärft: wer mit wem redet, wie fragmentiert die Kreise sind. Das passiert ja auch alles aus einer Verletzung, aus einer Angst heraus, oder aus einer Retraumatisierung – das kann man sich alles erklären, und es tut trotzdem nicht weniger weh. Innerhalb des Kulturbetriebs hat sich das also zugespitzt meiner Meinung nach.
Seitens des Publikums ist meine Erfahrung von Trotzdem sprechen [Anm. d. Red.: Essayband von Lena Gorelik], dass da in erster Linie ein Bedürfnis ist nach Räumen, in denen gesprochen wird. Im Publikum hört man dann auch Sätze wie „ach ist das toll, dass eine Jüdin mit einer Palästinenserin auf einer Bühne sitzt“. Früher habe ich mich da sehr „ausgestellt“ gefühlt, so wie im Zoo. Und mittlerweile denke ich, wenn es aber nun mal Menschen beruhigt zu sehen, dass man miteinander spricht, und wenn es das ist, was ich beitragen kann angesichts dieser schlimmen Situation sowohl im Nahen Osten als auch was hier passiert, wenn meine Anwesenheit in einem Raum dazu beiträgt, dass das Gefühl da ist, man spricht noch miteinander: I am good to go.
Lena Gorelik © Gerald von Foris/Graf Verlag
OSMAN: Ja, so geht’s mir auch. Ich habe seit meet your neighbours noch mehrere Sitzungen gehabt zusammen mit Jüdinnen und Juden auf dem Podium, wo es mir ungefähr so vorkam, als würde man ein Pflaster auf eine Schussverletzung kleben. Aber es ist trotzdem notwendig, dass man das tut. Ich empfinde das so wie du, Lena. Und ich weiß auch, dass viele das gar nicht erst tun, weil sie sagen, das ist mir zu brisant oder das ist mir zu kontrovers, man könnte ja sensible Themen anschneiden und vielleicht wird das Publikum dann angetriggert und dann muss man sich mit Antisemitismus, Rassismus oder dem Krieg plötzlich auf einer ganz tiefen Ebene auseinandersetzen.
Ich habe außerdem das Gefühl, dass man in Deutschland sehr stark dieses Gefühl braucht: wir sind gut miteinander. Und wenn da jetzt eine Jüdin und eine Palästinenserin zusammen auf dem Podium sitzen, dann können alle mit einem guten Gefühl nach Hause gehen und man muss die Konflikte nicht ganz so tief an sich ranlassen.
Vielfach sind es aber Publikumsfragen, die das Ganze dann wohltuend aufbrechen: „Wie schafft man es zu sprechen?“ Während die Sprachlosigkeit ja überall um sich greift. Es ist nicht die Sprachlosigkeit darüber zu sprechen was passiert, denn darüber wird ja sehr viel gesprochen. Sondern dass ein jeder in seiner Blase spricht, aber die Blasen nicht miteinander. Das wiederum ist mir also positiv aufgefallen, dass das Publikum dahingehend sensibilisiert ist und entsprechend nachfragt, wie es einem damit geht. Und damit kann man wieder einen Raum öffnen und die Fragmentierung der Gesellschaft ansprechen.
HEUSER: Aber kann dieses Sprechen denn dann überhaupt noch das Eigene sein? Unabhängig davon, wie es von außen wahrgenommen wird, seid ihr ja eben diejenigen, die „trotzdem sprechen“ – als Schriftstellerinnen, als Individuen in ganz unterschiedlichen, eigenen Rollen, die ja auch nicht immer so selbstverständlich in einem selbst vereinbar sind. Inwiefern, liebe Lena, hat sich sowohl dein literarisches Schreiben verändert als auch dein Reden im öffentlichen Raum und sicherlich auch das Kommunizieren im Privaten? Das sind ja drei unterschiedliche Räume: die literarisch-transformierte Sprache, das öffentliche Reden und dann das private Sprechen.
GORELIK: Ich fange mal mit dem öffentlichen Sprechen an, weil es die einfachste Frage ist. Ich glaube, es hat sich insofern verändert, weil ich inzwischen mit dem Wissen spreche, dass alles, was ich sage, gegen mich verwendet werden kann. Alles wird überprüft, auch woran, an was ich teilnehme. Das ist etwas, was ich im Hinterkopf habe. Das hatte ich früher nie. So kenne ich mich gar nicht. Ich bin mir dessen bewusst, nicht, weil ich Dinge vielleicht in einem anderen Moment anders formulieren würde, sondern weil ich weiß, dass derzeit sehr viel mit dem Gegenteil von Vertrauen gelesen wird. Dass gesucht wird nach dem, wo man Fehler begangen haben könnte. Und die Strafe dafür ist Ausschluss. Dann gehörst du nicht dazu. Und das ist gar nicht an Gruppen, etwa an Pro-Palästinensisch versus Pro-Jüdisch gebunden. Es gibt auch einen sehr migrantischen Anti-Weißen-Diskurs. Da vermischen sich ganz schön viele Dinge.
Im Literarischen wiederum bin ich weniger vorsichtig, weil ich da die Worte viel gewählter suche. Aber ich verspüre da jetzt eine andere Dringlichkeit. Ich erwische mich beim Romanschreiben gerade ständig dabei, dass ich denke: wer braucht hier jetzt eigentlich noch einen Roman? Obwohl ich mir geschworen habe, dass ich nichts mehr mache außer Romanschreiben. Aber im Moment habe ich das Gefühl, alles was in irgendeiner Weise politisch ist, hat eine ganz andere Bedeutung jetzt.
Und im Privaten: anders als im öffentlichen Sprechen kennt man da ja meistens die Hintergrundgeschichten und den Kontext. Die Re-Traumatisierungen sehe ich hier, höre mit diesem Wissen zu. Trotzdem ist es manchmal schwierig auszuhalten. Aber dann sage ich mir: diese Person erlebt gerade etwas, was ich nicht beurteilen kann.
HEUSER: Ja und im Privaten ist die Bereitschaft zuzuhören natürlich noch mal eine andere. Weil ich die Person ja erstmal wertschätze. Joana, du hast damals gesagt: den Blick des Anderen einzunehmen, bei allen Unterschieden, ist wichtig. Da schwingt für mich der Begriff der Empathie mit. Wobei, ist die Empathie überhaupt noch eine gesellschaftlich etablierte Tugend, ein relevantes Kriterium des Sich-Begegnens?
Der „Korridor des humanen Sprechens“, wie der israelische Philosoph Omri Boehm es so treffend ausgedrückt hat, wird derzeit immer schmaler. Und wir haben ja schon gesagt, dass diese mangelnde Empathie, sich auf die Perspektive des Anderen einzulassen, oder ein Zuhören, wie du es nennst, Lena, bewusst einzuüben, diese Verständigungsvorgänge werden durch Re-Traumatisierungen und Ängste eben erschwert. Wie siehst du, Joana, das für dich mit diesen drei Ebenen des literarischen, öffentlichen und privaten Sprechens derzeit?
OSMAN: Öffentliches Sprechen – die Position, die ich vor dem 7. Oktober vertreten habe, wo ich ja auch schon viel öffentlich geredet habe, hat sich nicht verändert. Ich weiß aber, dass es vielen so geht, deren Haltung sich seitdem verändert hat. Auch Friedensaktivist*innen haben ihre Haltungen tatsächlich revidiert nach dem 7. Oktober. Ich aber nicht, weil ich immer schon die Haltung vertreten habe, dass das eigentliche Problem Extremismus ist: Extremist*innen beider Seiten führen Krieg gegen friedliebende Menschen auf beiden Seiten, und eben nicht primär einen Krieg zwischen der palästinensischen und der israelischen Zivilbevölkerung, auch wenn das sich inzwischen dahingehend zugespitzt hat. Das ist die Ebene, die wir uns ansehen müssen.
Und das ist wohl auch der Grund, weswegen sich mein öffentliches Sprechen nicht verändert hat. Deswegen werde ich wohl auch oft eingeladen. Weil das nicht unbedingt die Position ist, die man in den Medien sehr oft hört. Und das wird mir auch oft gespiegelt als etwas „Erfrischendes“. Ich persönlich kann mich davon aber abgrenzen und mir sagen: dann bin ich jetzt halt mal die Stimme, die es ausspricht. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass ich mich vorsichtiger ausdrücke. Ich habe nur das Gefühl, dass ich die Worte sorgfältiger wähle, weil ich inzwischen weiß: es muss deutlicher gesagt werden. Weil wir leider nicht mehr über etwas sprechen, das selbstverständlich ist oder es sein sollte.
Was das Schreiben angeht: da habe ich gemerkt, dass das, was im letzten Jahr passiert ist, mich auf vielen Ebenen viel mehr getroffen hat und vielmehr mit mir gemacht, mich mehr beschädigt hat, als mir lange klar war. Als ich mit meinem Roman Wo die Geister tanzen fertig war, wollte ich mich einem neuen Thema widmen. Der Nahe Osten ist ja nicht das einzige Thema, worüber ich schreibe und was mich ausmacht. Gerade arbeite ich an einem Roman, der 2026 rauskommt, der vor allen Dingen ein psychologischer Roman ist; es ist ein coming off age-Roman – und da habe ich gemerkt, dass das Manuskript, im Vergleich zu der eher leichtfüßigen Fassung von 2018 jetzt sehr viel dunkler geworden ist, worin sich meine eigene momentane Stimmungslage auch spiegelt. Dieses Jahr, in dem auch die Gesellschaft noch sehr viel mehr auseinandergedriftet ist, hat viel mit mir gemacht. Ich habe Verwandte im Libanon, in Beirut, die direkt betroffen waren – die letzten Monate waren extrem traumatisierend.
Das macht was mit meinem Schreibhandeln. Dass ich anders schreibe, dass ich trauriger bin und das drückt sich im Schreiben aus. Ich schreibe mehr über Verlust inzwischen. Ich schreibe mehr, um ein Trauma zu verarbeiten. Es ist wie der Versuch einer Selbsttherapie geworden. Und auch im Privaten habe ich das Gefühl, und da merke ich es am Deutlichsten: dass ich mich unglaublich zurückgezogen habe. Ich habe mich tatsächlich sehr isoliert im Privaten. Ich war mit Verwandten im Austausch und da ging es darum, ob sie noch leben. Aber auch das war oft zu viel zu bewältigen. Ich habe immer versucht, eine Art Kokon um mich herum zu bauen, auch weil ich in der Öffentlichkeit diesen schützenden Kokon nicht habe, habe ich das Gefühl, ich brauche ihn im Privaten. Und ich hatte so oft das Gefühl, dass ich mich mit Menschen, die nicht diesen Hintergrund haben, nicht darüber verständigen kann. Dass ich da auf jeden Fall einen Schritt zurückgetreten bin, auch wenn sie wohlmeinend und empathisch sind. Aber weil da eine Kluft entstanden ist, die ich mit Worten nicht überbrücken kann. Da gibt es keine Übersetzung.
GORELIK: Das habe ich auch so erlebt – ich weiß jetzt gar nicht, ob es diesen Middle Eastern-Hintergrund braucht, aber jedenfalls das Bewusstsein davon, was es bedeutet. Eines meiner krassesten Erlebnisse kurz nach dem 7. Oktober war, als ich jemandem aus dem Kulturbereich, also eine sicherlich informierte Person, bei einer Theater-Premiere traf und sie fragte, wie es mir geht, und ich sagte: „Naja, der siebte Oktober…“ Und sie sagte daraufhin: „Und sonst so?“ Und dieses „Und sonst so?“, das hängt mir nach. Es kostest mich enorm viel Kraft mit Menschen zu sprechen, für die all diese Themen, da hängt sicher auch nochmal der Rechtsruck in Deutschland dran – nebensächlicher sind. Dieses „Und sonst so“ kostest mich zu viel Kraft. Ich möchte mich mit Menschen umgeben, die sich der Dringlichkeit dieser Themen bewusst sind. Und wo ich das nicht erklären muss. Oder so einen Satz äußern wie: Die AFD ist schon schlimm. Und dann aber im Gespräch einfach gleich weitergehen. Das schaffe ich nicht.
OSMAN: So ging es mir nach der USA-Wahl von Donald Trump. Ich habe das auf verschiedenen Ebenen der Psyche und meines Geistes gespürt, dass sich etwas jetzt unwiderruflich zum Schlechten verändert hat. Und zwar nicht nur zum Schlechten, sondern zum Katastrophalen. Ich habe das körperlich gespürt…
GORELIK: Ja, sofort!
HEUSER: Man fühlt sich richtig krank…
OSMAN: Das ist ein Schock, ein Instinkt, den wir haben: wir sind hier in Gefahr. Als Menschheit, aber auch speziell als Frauen und als marginalisierte Personen. Und ich übertreibe, glaube ich, nicht, wenn ich sage: der Faschismus ist eine extrem unterschätzte Gefahr. Ich habe von Bekannten und Kolleg*innen hier dann gehört: „Ach ja, schon blöd. Aber sonst so?“ Es gibt aber kein „Und-sonst-so“. Das ist die Realität, mit der muss man sich auseinandersetzen. Da geht es mir ganz genau wie dir, Lena. Das ist sehr dringlich und steht im Raum und wir können nicht einfach um diesen Elefanten im Raum herum leben, sondern müssen sehen, was wir tun können, um den Schaden möglichst zu begrenzen.
HEUSER: Was bleibt uns? Was machen wir damit, wenn wir in dieser Welt weiterleben wollen? Wenn es kein richtiges Leben im Falschen gibt? Ich habe immer gedacht, dass Freundschaft so eine Qualität ist, die, obwohl inzwischen ein rein privates Phänomen, eine immense gesellschaftspolitische Kraft im Sinne des Verständigens entfalten könnte: Freundschaften, Solidaritäten. In diesem Sinne lautet meine Abschlussfrage, den schönen Satz von David Ben Gurion aufgreifend, Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist: Glaubt ihr an Wunder?
GORELIK: Was mir spontan einfällt: Ich würde nicht hier sitzen und ich würde nicht schreiben, wenn ich nicht an Wunder glauben würde. All diese Sätze, die man schreibt und die vielleicht nur ein paar Leute lesen, die können ja nur entstehen aus einem Glauben, dass die Dinge besser werden können.
OSMAN: Mein Debütroman geht ja buchstäblich um ein Wunder. Insofern wäre es jetzt blöd, wenn ich sagen würde, ich glaube nicht an Wunder. Ich sehe es wie Lena. Wenn ich nicht daran glauben würde, dass wir als Menschheit die Möglichkeit haben uns zu verändern, zu entwickeln und wieder in diese Selbstverantwortung hineinzukommen, nicht passiv zuzuschauen, wenn Unrecht geschieht, dann könnte ich nicht schreiben. Aus diesem Glauben an positive Veränderung speist sich mein Schreiben. Und meine Antwort auf alles, was passiert, ist immer: Schreiben. Ich schreibe gerade ein Sachbuch, wo es buchstäblich darum geht: Frieden. Und das ist so ein Riesenwort. Kein Mensch im Nahen Osten redet über Frieden. Das ist einfach zu groß. Aber da bin ich wieder bei deinem wunderbaren Buch Trotzdem sprechen, Lena. Ich finde, wir sollten noch eine Schippe drauflegen und nicht trotzdem, sondern deswegen sprechen.
Denn wenn wir jetzt nicht über so große Dinge wie Wunder oder Frieden sprechen, dann haben wir gar keine Ziele, auf die wir hinarbeiten können. Jetzt erst recht.
Deswegen!
Deutsch-jüdische Gespräche (12): Joana Osman und Lena Gorelik>
Zur Reihe: Zeit wahrzunehmen, zuzuhören und zu erwidern. – Angesichts eines zunehmend aufgeheizten und toxischen Kommunikationsklimas möchten wir hier einen Raum der deutsch-jüdischen Gespräche eröffnen. Denn Literatur ist immer auch ein Verhandeln und Transformieren von Wirklichkeiten und Möglichkeiten; ein Im-Gespräch-stehen. Wir laden ein zum Lesen, Zuhören und zum Erwidern; zu einem Austausch zwischen deutschsprachigen jüdischen und nichtjüdischen Schreibenden und Kunstschaffenden über alles, worüber sie jeweils miteinander reden mögen.
Das zwölfte Gespräch führte Andrea Heuser mit den Schriftstellerinnen Joana Osman und Lena Gorelik.
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ANDREA HEUSER: Liebe Lena, liebe Joana, vor ungefähr neun Monaten, im März 2024, war ich bei euch auf einer meet your neighbours-Veranstaltung, wo ihr miteinander diskutiert habt über Möglichkeiten des Sprechens in diesen polemisch recht aufgeladenen und politisch hochsensiblen Zeiten. Der 7. Oktober war zudem eine weitere Zäsur, die das öffentliche Sprechen über deutsch-jüdische Identitätsentwürfe und jüdisches Leben, über Antisemitismus, Minderheiten- und Mehrheitskollektive doch nochmal sehr erschwert und herausgefordert hat. Damals habt ihr beide sehr eindrücklich gesagt, dass ihr euch gegen Zuschreibungen wehrt und euch auch als Künstlerinnen dagegen aussprecht, für fixe Positionen, „Seiten“ vereinnahmt zu werden.
Seitdem sind neun Monate vergangen – ein ganzer Geburtenzyklus sozusagen. Hat sich seitdem etwas für euch verändert im öffentlichen Sprechen?
JOANA OSMAN: Bei mir hat sich tatsächlich nicht so viel verändert. Das Thema ist nicht mehr so sehr in den Köpfen wie es nach dem 7. Oktober ja ganz extrem war, ist mein Eindruck. Sicherlich spielt da auch die Gewöhnung einer Gesellschaft an die Gegebenheiten mit hinein. Aber ich bin, glaube ich, immer noch oft in dieser Position, „Klassensprecherin“ für die Palästinenser*innen zu sein. Gerade bei Podiumsdiskussionen geht es ganz oft darum. Also viel geändert hat sich da nicht. Wie ist es für dich?
Joana Osman © Mica Zeitz
LENA GORELIK: Für mich hat sich ganz viel verändert in dem Sinne, dass sich alles zugespitzt hat. Ich habe das Gefühl, es ist alles noch stärker polarisiert. Dieses „Canceling“ zum Beispiel – was ja einerseits dank Antisemitismusresolution quasi von staatlicher Seite, von der das gewollt ist, mit befördert wird, das passiert aber genauso von innen, ist von zwei Seiten wirksam. Man hört auch von vielen Autor*innen inzwischen Sätze wie „mit der oder dem gehe ich nicht aufs Podium.“ Letzte Woche erst habe ich zwei solche Diskussionen geführt; ich finde, das hat sich total verschärft: wer mit wem redet, wie fragmentiert die Kreise sind. Das passiert ja auch alles aus einer Verletzung, aus einer Angst heraus, oder aus einer Retraumatisierung – das kann man sich alles erklären, und es tut trotzdem nicht weniger weh. Innerhalb des Kulturbetriebs hat sich das also zugespitzt meiner Meinung nach.
Seitens des Publikums ist meine Erfahrung von Trotzdem sprechen [Anm. d. Red.: Essayband von Lena Gorelik], dass da in erster Linie ein Bedürfnis ist nach Räumen, in denen gesprochen wird. Im Publikum hört man dann auch Sätze wie „ach ist das toll, dass eine Jüdin mit einer Palästinenserin auf einer Bühne sitzt“. Früher habe ich mich da sehr „ausgestellt“ gefühlt, so wie im Zoo. Und mittlerweile denke ich, wenn es aber nun mal Menschen beruhigt zu sehen, dass man miteinander spricht, und wenn es das ist, was ich beitragen kann angesichts dieser schlimmen Situation sowohl im Nahen Osten als auch was hier passiert, wenn meine Anwesenheit in einem Raum dazu beiträgt, dass das Gefühl da ist, man spricht noch miteinander: I am good to go.
Lena Gorelik © Gerald von Foris/Graf Verlag
OSMAN: Ja, so geht’s mir auch. Ich habe seit meet your neighbours noch mehrere Sitzungen gehabt zusammen mit Jüdinnen und Juden auf dem Podium, wo es mir ungefähr so vorkam, als würde man ein Pflaster auf eine Schussverletzung kleben. Aber es ist trotzdem notwendig, dass man das tut. Ich empfinde das so wie du, Lena. Und ich weiß auch, dass viele das gar nicht erst tun, weil sie sagen, das ist mir zu brisant oder das ist mir zu kontrovers, man könnte ja sensible Themen anschneiden und vielleicht wird das Publikum dann angetriggert und dann muss man sich mit Antisemitismus, Rassismus oder dem Krieg plötzlich auf einer ganz tiefen Ebene auseinandersetzen.
Ich habe außerdem das Gefühl, dass man in Deutschland sehr stark dieses Gefühl braucht: wir sind gut miteinander. Und wenn da jetzt eine Jüdin und eine Palästinenserin zusammen auf dem Podium sitzen, dann können alle mit einem guten Gefühl nach Hause gehen und man muss die Konflikte nicht ganz so tief an sich ranlassen.
Vielfach sind es aber Publikumsfragen, die das Ganze dann wohltuend aufbrechen: „Wie schafft man es zu sprechen?“ Während die Sprachlosigkeit ja überall um sich greift. Es ist nicht die Sprachlosigkeit darüber zu sprechen was passiert, denn darüber wird ja sehr viel gesprochen. Sondern dass ein jeder in seiner Blase spricht, aber die Blasen nicht miteinander. Das wiederum ist mir also positiv aufgefallen, dass das Publikum dahingehend sensibilisiert ist und entsprechend nachfragt, wie es einem damit geht. Und damit kann man wieder einen Raum öffnen und die Fragmentierung der Gesellschaft ansprechen.
HEUSER: Aber kann dieses Sprechen denn dann überhaupt noch das Eigene sein? Unabhängig davon, wie es von außen wahrgenommen wird, seid ihr ja eben diejenigen, die „trotzdem sprechen“ – als Schriftstellerinnen, als Individuen in ganz unterschiedlichen, eigenen Rollen, die ja auch nicht immer so selbstverständlich in einem selbst vereinbar sind. Inwiefern, liebe Lena, hat sich sowohl dein literarisches Schreiben verändert als auch dein Reden im öffentlichen Raum und sicherlich auch das Kommunizieren im Privaten? Das sind ja drei unterschiedliche Räume: die literarisch-transformierte Sprache, das öffentliche Reden und dann das private Sprechen.
GORELIK: Ich fange mal mit dem öffentlichen Sprechen an, weil es die einfachste Frage ist. Ich glaube, es hat sich insofern verändert, weil ich inzwischen mit dem Wissen spreche, dass alles, was ich sage, gegen mich verwendet werden kann. Alles wird überprüft, auch woran, an was ich teilnehme. Das ist etwas, was ich im Hinterkopf habe. Das hatte ich früher nie. So kenne ich mich gar nicht. Ich bin mir dessen bewusst, nicht, weil ich Dinge vielleicht in einem anderen Moment anders formulieren würde, sondern weil ich weiß, dass derzeit sehr viel mit dem Gegenteil von Vertrauen gelesen wird. Dass gesucht wird nach dem, wo man Fehler begangen haben könnte. Und die Strafe dafür ist Ausschluss. Dann gehörst du nicht dazu. Und das ist gar nicht an Gruppen, etwa an Pro-Palästinensisch versus Pro-Jüdisch gebunden. Es gibt auch einen sehr migrantischen Anti-Weißen-Diskurs. Da vermischen sich ganz schön viele Dinge.
Im Literarischen wiederum bin ich weniger vorsichtig, weil ich da die Worte viel gewählter suche. Aber ich verspüre da jetzt eine andere Dringlichkeit. Ich erwische mich beim Romanschreiben gerade ständig dabei, dass ich denke: wer braucht hier jetzt eigentlich noch einen Roman? Obwohl ich mir geschworen habe, dass ich nichts mehr mache außer Romanschreiben. Aber im Moment habe ich das Gefühl, alles was in irgendeiner Weise politisch ist, hat eine ganz andere Bedeutung jetzt.
Und im Privaten: anders als im öffentlichen Sprechen kennt man da ja meistens die Hintergrundgeschichten und den Kontext. Die Re-Traumatisierungen sehe ich hier, höre mit diesem Wissen zu. Trotzdem ist es manchmal schwierig auszuhalten. Aber dann sage ich mir: diese Person erlebt gerade etwas, was ich nicht beurteilen kann.
HEUSER: Ja und im Privaten ist die Bereitschaft zuzuhören natürlich noch mal eine andere. Weil ich die Person ja erstmal wertschätze. Joana, du hast damals gesagt: den Blick des Anderen einzunehmen, bei allen Unterschieden, ist wichtig. Da schwingt für mich der Begriff der Empathie mit. Wobei, ist die Empathie überhaupt noch eine gesellschaftlich etablierte Tugend, ein relevantes Kriterium des Sich-Begegnens?
Der „Korridor des humanen Sprechens“, wie der israelische Philosoph Omri Boehm es so treffend ausgedrückt hat, wird derzeit immer schmaler. Und wir haben ja schon gesagt, dass diese mangelnde Empathie, sich auf die Perspektive des Anderen einzulassen, oder ein Zuhören, wie du es nennst, Lena, bewusst einzuüben, diese Verständigungsvorgänge werden durch Re-Traumatisierungen und Ängste eben erschwert. Wie siehst du, Joana, das für dich mit diesen drei Ebenen des literarischen, öffentlichen und privaten Sprechens derzeit?
OSMAN: Öffentliches Sprechen – die Position, die ich vor dem 7. Oktober vertreten habe, wo ich ja auch schon viel öffentlich geredet habe, hat sich nicht verändert. Ich weiß aber, dass es vielen so geht, deren Haltung sich seitdem verändert hat. Auch Friedensaktivist*innen haben ihre Haltungen tatsächlich revidiert nach dem 7. Oktober. Ich aber nicht, weil ich immer schon die Haltung vertreten habe, dass das eigentliche Problem Extremismus ist: Extremist*innen beider Seiten führen Krieg gegen friedliebende Menschen auf beiden Seiten, und eben nicht primär einen Krieg zwischen der palästinensischen und der israelischen Zivilbevölkerung, auch wenn das sich inzwischen dahingehend zugespitzt hat. Das ist die Ebene, die wir uns ansehen müssen.
Und das ist wohl auch der Grund, weswegen sich mein öffentliches Sprechen nicht verändert hat. Deswegen werde ich wohl auch oft eingeladen. Weil das nicht unbedingt die Position ist, die man in den Medien sehr oft hört. Und das wird mir auch oft gespiegelt als etwas „Erfrischendes“. Ich persönlich kann mich davon aber abgrenzen und mir sagen: dann bin ich jetzt halt mal die Stimme, die es ausspricht. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass ich mich vorsichtiger ausdrücke. Ich habe nur das Gefühl, dass ich die Worte sorgfältiger wähle, weil ich inzwischen weiß: es muss deutlicher gesagt werden. Weil wir leider nicht mehr über etwas sprechen, das selbstverständlich ist oder es sein sollte.
Was das Schreiben angeht: da habe ich gemerkt, dass das, was im letzten Jahr passiert ist, mich auf vielen Ebenen viel mehr getroffen hat und vielmehr mit mir gemacht, mich mehr beschädigt hat, als mir lange klar war. Als ich mit meinem Roman Wo die Geister tanzen fertig war, wollte ich mich einem neuen Thema widmen. Der Nahe Osten ist ja nicht das einzige Thema, worüber ich schreibe und was mich ausmacht. Gerade arbeite ich an einem Roman, der 2026 rauskommt, der vor allen Dingen ein psychologischer Roman ist; es ist ein coming off age-Roman – und da habe ich gemerkt, dass das Manuskript, im Vergleich zu der eher leichtfüßigen Fassung von 2018 jetzt sehr viel dunkler geworden ist, worin sich meine eigene momentane Stimmungslage auch spiegelt. Dieses Jahr, in dem auch die Gesellschaft noch sehr viel mehr auseinandergedriftet ist, hat viel mit mir gemacht. Ich habe Verwandte im Libanon, in Beirut, die direkt betroffen waren – die letzten Monate waren extrem traumatisierend.
Das macht was mit meinem Schreibhandeln. Dass ich anders schreibe, dass ich trauriger bin und das drückt sich im Schreiben aus. Ich schreibe mehr über Verlust inzwischen. Ich schreibe mehr, um ein Trauma zu verarbeiten. Es ist wie der Versuch einer Selbsttherapie geworden. Und auch im Privaten habe ich das Gefühl, und da merke ich es am Deutlichsten: dass ich mich unglaublich zurückgezogen habe. Ich habe mich tatsächlich sehr isoliert im Privaten. Ich war mit Verwandten im Austausch und da ging es darum, ob sie noch leben. Aber auch das war oft zu viel zu bewältigen. Ich habe immer versucht, eine Art Kokon um mich herum zu bauen, auch weil ich in der Öffentlichkeit diesen schützenden Kokon nicht habe, habe ich das Gefühl, ich brauche ihn im Privaten. Und ich hatte so oft das Gefühl, dass ich mich mit Menschen, die nicht diesen Hintergrund haben, nicht darüber verständigen kann. Dass ich da auf jeden Fall einen Schritt zurückgetreten bin, auch wenn sie wohlmeinend und empathisch sind. Aber weil da eine Kluft entstanden ist, die ich mit Worten nicht überbrücken kann. Da gibt es keine Übersetzung.
GORELIK: Das habe ich auch so erlebt – ich weiß jetzt gar nicht, ob es diesen Middle Eastern-Hintergrund braucht, aber jedenfalls das Bewusstsein davon, was es bedeutet. Eines meiner krassesten Erlebnisse kurz nach dem 7. Oktober war, als ich jemandem aus dem Kulturbereich, also eine sicherlich informierte Person, bei einer Theater-Premiere traf und sie fragte, wie es mir geht, und ich sagte: „Naja, der siebte Oktober…“ Und sie sagte daraufhin: „Und sonst so?“ Und dieses „Und sonst so?“, das hängt mir nach. Es kostest mich enorm viel Kraft mit Menschen zu sprechen, für die all diese Themen, da hängt sicher auch nochmal der Rechtsruck in Deutschland dran – nebensächlicher sind. Dieses „Und sonst so“ kostest mich zu viel Kraft. Ich möchte mich mit Menschen umgeben, die sich der Dringlichkeit dieser Themen bewusst sind. Und wo ich das nicht erklären muss. Oder so einen Satz äußern wie: Die AFD ist schon schlimm. Und dann aber im Gespräch einfach gleich weitergehen. Das schaffe ich nicht.
OSMAN: So ging es mir nach der USA-Wahl von Donald Trump. Ich habe das auf verschiedenen Ebenen der Psyche und meines Geistes gespürt, dass sich etwas jetzt unwiderruflich zum Schlechten verändert hat. Und zwar nicht nur zum Schlechten, sondern zum Katastrophalen. Ich habe das körperlich gespürt…
GORELIK: Ja, sofort!
HEUSER: Man fühlt sich richtig krank…
OSMAN: Das ist ein Schock, ein Instinkt, den wir haben: wir sind hier in Gefahr. Als Menschheit, aber auch speziell als Frauen und als marginalisierte Personen. Und ich übertreibe, glaube ich, nicht, wenn ich sage: der Faschismus ist eine extrem unterschätzte Gefahr. Ich habe von Bekannten und Kolleg*innen hier dann gehört: „Ach ja, schon blöd. Aber sonst so?“ Es gibt aber kein „Und-sonst-so“. Das ist die Realität, mit der muss man sich auseinandersetzen. Da geht es mir ganz genau wie dir, Lena. Das ist sehr dringlich und steht im Raum und wir können nicht einfach um diesen Elefanten im Raum herum leben, sondern müssen sehen, was wir tun können, um den Schaden möglichst zu begrenzen.
HEUSER: Was bleibt uns? Was machen wir damit, wenn wir in dieser Welt weiterleben wollen? Wenn es kein richtiges Leben im Falschen gibt? Ich habe immer gedacht, dass Freundschaft so eine Qualität ist, die, obwohl inzwischen ein rein privates Phänomen, eine immense gesellschaftspolitische Kraft im Sinne des Verständigens entfalten könnte: Freundschaften, Solidaritäten. In diesem Sinne lautet meine Abschlussfrage, den schönen Satz von David Ben Gurion aufgreifend, Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist: Glaubt ihr an Wunder?
GORELIK: Was mir spontan einfällt: Ich würde nicht hier sitzen und ich würde nicht schreiben, wenn ich nicht an Wunder glauben würde. All diese Sätze, die man schreibt und die vielleicht nur ein paar Leute lesen, die können ja nur entstehen aus einem Glauben, dass die Dinge besser werden können.
OSMAN: Mein Debütroman geht ja buchstäblich um ein Wunder. Insofern wäre es jetzt blöd, wenn ich sagen würde, ich glaube nicht an Wunder. Ich sehe es wie Lena. Wenn ich nicht daran glauben würde, dass wir als Menschheit die Möglichkeit haben uns zu verändern, zu entwickeln und wieder in diese Selbstverantwortung hineinzukommen, nicht passiv zuzuschauen, wenn Unrecht geschieht, dann könnte ich nicht schreiben. Aus diesem Glauben an positive Veränderung speist sich mein Schreiben. Und meine Antwort auf alles, was passiert, ist immer: Schreiben. Ich schreibe gerade ein Sachbuch, wo es buchstäblich darum geht: Frieden. Und das ist so ein Riesenwort. Kein Mensch im Nahen Osten redet über Frieden. Das ist einfach zu groß. Aber da bin ich wieder bei deinem wunderbaren Buch Trotzdem sprechen, Lena. Ich finde, wir sollten noch eine Schippe drauflegen und nicht trotzdem, sondern deswegen sprechen.
Denn wenn wir jetzt nicht über so große Dinge wie Wunder oder Frieden sprechen, dann haben wir gar keine Ziele, auf die wir hinarbeiten können. Jetzt erst recht.
Deswegen!