Autor-, Leserschaft und Beruf: Observationsverhör mit Slata Roschal (3)
Seit den 1980er-Jahren gibt es das Format der Poetikvorlesung am Institut für Deutsche Philologie der LMU München: Autorinnen und Autoren werden an die Universität eingeladen, um über ihr Schreiben, ihre Bücher und ihre Poetik zu sprechen. 2024 gab es wieder eine Neuauflage. Um die Forschung zur Gegenwartsliteratur am Verlags- und Buchstandort München weiter voranzutreiben und das literarische Leben in Forschung und Lehre besser zu vermitteln, stand die diesjährige Poetikvorlesung unter dem Vorzeichen „Werkstatt und Maschinenraum“. Als Vortragende konnte die Schriftstellerin Slata Roschal gewonnen werden. Roschal sprach in drei Vorlesungen über die Bedeutung des Literaturbetriebs für ihre Arbeit, über Geld, Macht und Konkurrenz, über das kollaborative Entstehen von Büchern und über die besondere Herausforderung, sich dem Literaturmarkt zu stellen, wenn man Familie und Kinder hat. Begleitend dazu entstanden drei Interviews, die von Studierenden der LMU mit der Autorin geführt wurden. Das dritte und letzte Interview bringen wir hier.
*
Wir beginnen mit einer kleinen Rekapitulation der letzten Wochen: Während der Moderation in der Poetikvorlesung, die am zweiten Abend von Studierenden organisiert wurde, und in den Gesprächen, die Sie mit uns geführt haben, standen Sie in engem Austausch mit uns. Wie war es denn für Sie, mit Studierenden zusammenzuarbeiten? Und warum haben Sie generell zugestimmt, bei unserem Projekt dabei zu sein?
Ja, ich fand es schön, ich bin zufrieden! Es ist immer gut, etwas mit Studierenden zusammen zu machen, nicht nur mit den Dozenten, bei Ihnen ist die Chance höher, dass Sie noch keine allzu feste Meinung haben oder dass noch Dinge im Prozess sind. Und das mitzukriegen und beeinflussen zu können ist spannend.
Die Poetikvorlesungen sind ein sehr spezielles Format, das es längere Zeit nicht mehr gab. Wie haben Sie sich darauf vorbereitet? Es ist bestimmt ganz anders als eine „normale“ Lesung für ein Buch abzuhalten.
Ich habe zuerst immer PowerPoint-Folien erstellt und geschaut, welches Material ich zu einem Thema habe, und mir dann Notizen gemacht, mit größerer Schrift kann man auch freier reden.
Es gab einige Memes darin, die meisten waren ursprünglich russisch, die habe ich dann auf Canvas bearbeitet und übersetzt. Mit unserem Gast Katharina Bendixen in der letzten Vorlesung haben wir im Vorfeld besprochen, dass wir uns je drei Fragen überlegen und gegenseitig stellen.
Und wie kamen Sie zu den Themen der einzelnen Vorlesungen?
Die Themen haben sich aus dem ergeben, was ich bisher gemacht habe. Das erste Thema „Geld, Macht und Konkurrenz“ war der Arbeitstitel einer FAZ-Reihe, die ich im Frühjahr letzten Jahres angefangen habe, im Sommer saß ich noch an den letzten Änderungen und sie erschien dann im September, das hat einige Monate gedauert.
Das zweite Thema, „Das kollaborative Buch“, war etwas Neues für mich. Darüber hatte ich zuvor noch nie genau nachgedacht beziehungsweise war ich mir auch nicht sicher, wie selbstverständlich das ist, weil alle Autoren wissen, dass sie nicht so viel am Buch bestimmen können, wie sie gerne würden, oder wie wichtig gleichzeitig gutes Lektorat ist.
Und das dritte Thema, „Elternschaft & Autorschaft“, hat mich auch schon lange beschäftigt, besonders seit ich den „other writers“ beigetreten bin. Das prägt einfach meinen Alltag, weil ich immer überlegen muss, worauf ich mich bewerbe, was ich mir überhaupt leisten kann an Reisen und so weiter.
Wie haben Ihnen die Vorlesungen denn gefallen? Fanden Sie irgendetwas nicht so schön? Lief etwas anders, als Sie es sich am Anfang vorgestellt hatten? Oder hätten Sie – im Nachhinein – gerne etwas anders gemacht?
Ich hätte die erste Vorlesung ein bisschen gekürzt, denn es war mir nicht ganz klar, wie viel Zeit wir haben und wann ich fertig sein muss. Es gab dazu so viel zu sagen, dass es schwer war, einige Folien wieder herauszustreichen.
Wahrscheinlich haben sich auch mehr Leute für die finanziellen Faktoren interessiert als für die Elternschaft, am letzten Abend nahm die Besucheranzahl leicht ab. Wir haben angefangen mit dem sehr großen Thema und sind dann immer mehr ins Detail gegangen, Elternschaft war dann ein spezifischer Faktor unter anderen. Ich glaube, ich hätte da noch ein wenig mehr den Bezug zu allen im Publikum betonen sollen; unabhängig davon, ob man selber ein Kind hat, kann man dabei helfen, familienfreundlichere Strukturen durchzusetzen.
Und wie hat es Ihnen allgemein gefallen, eine Vorlesung in dieser Richtung durchzuführen, vor allem über diese speziellen Themen?
Es war ganz angenehm, es war eine gute Erfahrung. Ich hatte zuerst die Vorstellung, dass von mir verlangt wird, einen literarischen, komplizierten Text zu schreiben und den eine Stunde lang vorzulesen. Aber ich hätte das erstens zeitlich gar nicht geschafft und zweitens auch keine Lust darauf gehabt. Das wäre langweilig, es hat immer etwas sehr Selbstgenügsames, wenn man dasteht und über sich selbst redet. Solche Veranstaltungen versuche ich zu vermeiden und würde sie ungern halten.
Sie haben sich in Ihrer Vorbereitungsphase mit den drei Themenblöcken sicher intensiv beschäftigt. Hat Sie das anders über bestimmte Aspekte denken lassen oder ist es Ihnen bei irgendetwas besonders schwergefallen, darüber zu sprechen, weil es an manchen Stellen doch sehr persönliche Themen waren?
Es macht keinen Sinn darüber zu reden, wenn man nicht ins Persönliche geht. Und es ist die Frage, wie sehr man es tut. Es besteht die Gefahr, wenn man Zahlen offenlegt, dass jemand im Saal sofort ruft, So gut wie Sie verdienen! Davon träumen andere Menschen!
Diese heikle Frage, mit welcher Arbeit wie viel Geld verdient wird. Alle sind unzufrieden mit dem, was sie bekommen, wahrscheinlich geht es einem Bauarbeiter finanziell, arbeitszeitlich usw. schlechter als mir. Gleichzeitig habe ich die Möglichkeit, mich vor anderen Leuten öffentlich zu beschweren, und er eher nicht, sein Vortrag würde an der Uni voraussichtlich keinen interessieren.
Was ich Neues gelernt habe, zum Beispiel, wenn man in etwas drinsteckt, erschleicht einen so eine Unsicherheit, ich frage mich dann, ob das alles doch nur mein privates Problem ist, ob ich einfach verrückt bin und mir etwas einbilde, was es nicht gibt. Und wenn man daraus einen Vortrag entwickelt, merkt man, dass das alles schon stimmt, es ist nicht nur dieses Private und Beleidigte und Sensible, sondern da stecken auch Strukturen dahinter, die verrückt machen. Und über diese Strukturen reden Autoren höchstens nach Veranstaltungen unter sich, legen ausnahmsweise ihre Honorare offen. Ich erinnere mich an eine Textwerkstatt, es herrschte eine Art Klassenfahrtstimmung, alle außer mir begannen zu trinken, es war schon Nacht und die Dozentin meinte ‒ Hört jetzt gut zu, denn das, was ihr jetzt hört, werdet ihr normalerweise nicht zu hören bekommen.
Das bleiben meist rein interne Themen, bei denen man vorsichtig ist, sie werden mündlich und informell verhandelt, und es ist interessant, davon Leuten zu erzählen, die nicht im Literaturbetrieb involviert sind, ihre Reaktionen zu beobachten. In kaum einem anderen Beruf wird das Thema Geld so sehr tabuisiert.
Ich entnehme Ihren Antworten, dass Sie schon viel Spaß an den Poetikvorlesungen hatten. Ist es dann etwas, das Sie noch einmal tun würden, wenn sich die Gelegenheit ergeben würde?
Ja, ich denke schon.
Haben Sie Feedback oder Rezensionen über die Poetikvorlesungen persönlich mitbekommen? Wenn ja, konnten Sie diese dann auch nachvollziehen?
Ich habe vielen Münchner Autoren die Ankündigungen geschickt und nach der ersten Vorlesung auch gefragt, was sie denken, was ich noch einbauen sollte. Denn die Themen betreffen ja uns alle. Es kamen dann einige thematische Vorschläge, zum Teil haben sie sich überschnitten, und einiges habe ich versucht einzubauen. Das Feedback war insgesamt sehr positiv. Was ich in der Vorlesung nicht angesprochen habe, war ein Thema aus unserer Vorbesprechung im Seminar, Tipps, worauf man bei den ersten Veröffentlichungen achten sollte. Das ist wahrscheinlich ein Sache für sich, die man besser in einem kleineren Format besprechen kann.
Es ist vielleicht eine sehr einfach wirkende Frage, aber haben Sie ein Lieblingswort, das entweder in Ihrer Lyrik oder Ihren Romanen immer wieder auftaucht und zu dem Sie eine spezielle Beziehung haben? Wenn nicht: Aus welchem Grund taucht ggf. dieses Lieblingswort nicht in Ihren veröffentlichten Texten auf?
Ich mag Füllwörter, die ganzen mündlichen Partikel, „irgendwie“, „also“, „sozusagen“ – das wiederholt sich immer wieder. Von den richtigen Wörtern wiederholt sich nichts von Buch zu Buch, glaube ich, das wäre auch blöd, dann verliert es den Reiz. Zum Beispiel in den Formen des Nichtseins steht am Ende dieses „krakeelt“, das finde ich sehr interessant als Wort, seltsames „ee“, keinerlei Zusammenhang zwischen Klang (Krake, Krähe, russ. rak = Krebs) und Inhalt. Oder auch Zitate von Schildern, Aushängen, Durchsagen, so etwas wie „Nicht einsteigen Sbahn endet hier“ oder „Einen Hammer für den Notausstieg“. Aber auch das darf sich nicht zu oft wiederholen.
Also Sie setzen dann diese Wörter ganz bewusst und geben ihnen einen besonderen Platz?
Genau, „krakeelt“ zum Beispiel ist nun mal ein besonderes Wort und steht im letzten Kapitel, muss eine abschließende Pointe darstellen, also sich auch auf dieses Buch beschränken.
Wir würden gerne noch einmal Bezug auf Ihre erste Poetikvorlesung nehmen. Da haben Sie davon gesprochen, dass es ein wahnsinniger Spagat sei, zwischen Kritik üben und gleichzeitig mit der Angst umzugehen, deswegen ausgeladen zu werden. Jetzt haben wir den Fall, dass manche Autoren ein Pseudonym wählen, um Kritik zu üben. Sie haben sich dagegen entschieden und da würden uns die Beweggründe interessieren, wieso Sie sich entschieden haben, unter Klarnamen Kritik zu üben?
Ich bin mir gar nicht sicher, ob es mit einem Pseudonym funktionieren würde, die Sache ist ja immer, um sich Kritik leisten zu können, muss man selber involviert sein. Wenn ich zum Beispiel einen Preis nicht bekomme, mich hinstelle und das Ganze kritisiere, sieht es nicht gut aus, als wäre ich einfach beleidigt, und Verlierern hört man sowieso nicht gerne zu. Wenn ich aber einen Preis bekomme und das Ganze als Gewinner kritisiere, also etwas sehr Komisches mache, was eigentlich meinem Vorteil widerspricht, dann funktioniert das eher. Und ich sollte schon mit meinem Namen markieren, dass ich Teil des Literaturbetriebes bin, zeigen, woher ich dieses Wissen, diese Erfahrung habe.
Bei der zweiten Poetikvorlesung würden wir gern noch einmal Ihren letzten Satz in den Blick nehmen: Da hatten Sie gesagt, dass Ihre Texte unendlich seien und dass nur die Buchdeckel die Grenzen bilden. Sind Ihre Werke fließend zwischen Lyrik und Roman oder unterteilen Sie sie selbst noch einmal anders?
Also ich denke das generell über alle Texte, an den eigenen merke es ich es vielleicht nur stärker.
Bei Lyrikbänden ist das nochmal relativer, sie bestehen aus einzelnen Texte, die für sich funktionieren, und irgendwann setzt man den Punkt und sagt ‒ daraus wird jetzt ein Buch. An sich könnte man weiterschreiben, dann wäre es ein größerer Band, und die Frage ist auch, ob es gut ist, viele Jahre nichts zu publizieren, das sind dann wieder diese eher pragmatischen Gründe, dann hat man ein paar Jahre keine Lesungen, das wird finanziell schwierig. Und es gibt natürlich auch diese Erwartung, dass man ständig etwas Neues produziert.
Bei den Formen des Nichtseins zum Beispiel könnte man diese 153 Kapitel an sich endlos fortsetzen oder sie mit einigen Passagen aus dem Ullstein-Buch austauschen oder auch Gedichte hineinpacken.
Dann geht es wiederum um pragmatische Fragen, ob es taktisch gesehen geschickt ist, und auch, ob der Gesamttext auf diese Weise funktioniert, nicht zu lang, nicht zu kurz ist, ob die Struktur, der Spannungsbogen erhalten bleiben, es kann auch auseinanderdriften und undicht werden.
Und wenn man beschlossen hat, dass es ein Buch ist, wird der Text von Anfang bis Ende als Ganzes nochmal überarbeitet, bei Lyrik kann man zum Beispiel schauen, in welcher Reihenfolge die Texte stehen, ob der Akzent auf klassischen Gedichten oder auf lyrischer Prosa liegt, welche Motive sich wo wiederholen.
Zu dieser Thematik der Verbindung von Lyrik und Prosa hätte mich noch interessiert, wie sich die Leserschaft unterscheidet oder gibt es da auch im Literaturbetrieb Differenzen zu erkennen zwischen den Gattungen? Inwieweit kann man Lyrik und Prosa zu einem Werk verbinden? Hätte das dann eine Schnittmenge als Leserschaft oder doch eher weniger, weil die Teams unterschiedlich sind?
Ich denke, es sind weniger Themen als die Betriebe, es sind unterschiedliche Verlage, und Lyrikverlage bekommen viel weniger öffentliche Aufmerksamkeit als Prosaverlage. Es gibt einige große Prosaverlage, die auch Lyrik machen, aber sehr begrenzt, sie nehmen meist keine neuen Autoren mehr auf, oder erlauben bekannteren Autoren, die bei ihnen sowieso Prosa produzieren, auch Lyrik zu machen.
Und die Autoren sind unterschiedlich, die meisten Lyriker sind Intellektuelle mit klassischer Uniausbildung, arbeiten auch oft als Dozenten und Professoren an Hochschulen, in der Prosa ist es gemischter. Für mich ist der Lyrikbetrieb manchmal etwas verkrampft, auf sich selbst gerichtet. So eine Art Blase, Lyriker lesen und rezensieren Lyriker, es gibt relativ wenig Preise und Stipendien für Lyrik, und die Konkurrenzsituation ist, glaube ich, nochmal stärker als in der Prosa, da kaum externe Leserschaft vorhanden ist, die Leute sind schneller verbittert.
Beim Prosabetrieb geht es ein wenig lockerer zu, aber auch oft oberflächlicher. Bei Lyriklesungen fragt man zum Beispiel so gut wie nie, ob der Text denn autofiktional sei, da ist man es eher gewohnt, wirklich über Texte zu reden, ist vielleicht auch mehr dazu imstande. Von Lyrik kann man kaum leben, und es gibt mehr Chancen auf Nominierungen, wenn man auch einen Roman veröffentlicht. Lyrik ist meist ästhetisch und verkaufstechnisch komplizierter. Ich versuche, beides zu machen, und Romane so zu schreiben, wie ich sie schreiben will, also ziemlich lyrisch.
Wenn ich Sie richtig verstehe, dann wären Sie also schon ein Fan vom Gattungsmix, dass man verwebt anstatt klar trennt?
Ja, genau. Es gibt an sich ja Lyrikbände, wo die Texte reine Prosa sind, und umgekehrt, es gibt Autoren, die Romane schreiben, das aber viel lyrischer, konzentrierter, als manche Gedichte. Es geht bei diesen Gattungsbezeichnungen, denke ich, weniger um klare stilistische Unterschiede als vor allem um die Vermarktung.
Eine Frage würde sich noch um Ihre Hauptprotagonistin drehen, beziehungsweise um das Bild, das Sie von ihr haben. Sie haben bei der letzten Poetikvorlesung gesagt, dass Sie sie eigentlich manchmal schon ziemlich unangenehm finden. Jetzt würde uns der Kontrast interessieren: Welche Figur finden Sie dann wahnsinnig sympathisch und wieso haben Sie sie so angelegt?
Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich das sage, weil das vielleicht von mir erwartet wird, oder weil so viele gesagt haben, sie sei unangenehm, und ich mich vorsichtshalber von ihr distanziere. An sich finde ich sowohl Ksenia als auch Maria schon ziemlich angenehm auf eine Art. Ich wäre, glaube ich, gern mit ihnen befreundet, ich weiß nicht, ob es klappen würde, aber sie sind interessant. Wenn es rein positive Figuren wären, ließe sich mit ihnen nichts anfangen, das wäre sehr langweilig. Ich glaube, Maria ist etwas erwachsener und auch ein bisschen düsterer, vielleicht sogar aggressiver und verschlossener. Ksenia ist einfach jünger und da ist vielleicht noch mehr möglich als bei der zweiten Figur.
Man kann sie vielleicht auch als Weiterführungen lesen. Wenn Ksenia nicht rechtzeitig handeln, zum Beispiel in Mecklenburg bleiben und noch ein Kind bekommen würde, dann wäre sie vielleicht Maria geworden, die beiden als optimistische und pessimistische Version.
Wenn Sie sich dann an einen Ihrer Texte setzen – wie sieht Ihr Schreibprozess aus? Passiert Schreiben bei Ihnen intuitiv oder geplant? Manche Autoren oder Autorinnen überlegen sich ja vorher genau, was sie in ihren Texten besprechen wollen und wann. Planen Sie Ihr Schreiben? Oder entwickeln sich Ihre Figuren und Themen während des Schreibens, sozusagen im Flow?
Wahrscheinlich beides parallel. Richtig zum Schreiben am Block komme ich selten und dann meistens bei Residenzstipendien oder über Feiertage, wenn wenig los ist, letztes Jahr konnte ich über Weihnachten und Neujahr gut schreiben. Ich mache mir Notizen zu ganz kleinen Details, einzelnen Wörtern, Ausdrücken, oder notiere mir Zitate, wenn ich Filme schaue oder Radio höre, oder mögliche Fortsetzungen eines Textes, das kam mir früher komisch vor, aber jetzt denke ich, warum nicht. Dann hat das, was man macht, zumindest irgendeinen Sinn.
Oder auch reale Menschen, zum nächsten Roman denke ich etwa über eine Nachbarin nach, was sie gerade macht und woran das liegen könnte, was ich alles über sie nicht weiß, und eine Szene dazu und einen roten Faden. Dann ist es wie ein Mosaik, wo diese kleinen Details und ganz großen Strukturprinzipien oder Themen zusammengefügt werden. Zuerst sind ganz viele Lücken da, eigentlich nur Lücken, die allmählich an unterschiedlichen Stellen gefüllt werden. Anschließend muss man schauen, ob das Ganze funktioniert von Anfang bis Ende, und dann sagt zum Beispiel der Lektor, was er nicht verstanden hat, wo er mehr Informationen will, und es werden weitere Leerstellen gefüllt.
Haben Sie auch manchmal Momente, in denen sich die Geschichte anders entwickelt, als Sie sich das vorher überlegt hatten? Also Momente, in denen das Mosaik dann durcheinanderkommt, in denen Sie von sich selbst überrascht werden oder die Figuren etwas tun, was Sie eigentlich nicht erwartet hätten?
Ja, vielleicht liegt das gar nicht so sehr auf der Ebene von Figurencharakter als auf der Ebene des Textmaterials. Zum Beispiel gibt es am Ende von Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten einen großen Tod, den Tod der Großmutter, goldene Äpfel und so weiter. Das war ursprünglich ein Text, den ich als Lyrik geschrieben habe, in Kooperation mit einem spanischen Dichter, und ich wusste natürlich nicht, dass es das Ende vom nächsten Buch sein wird oder inwiefern es mit irgendeiner noch nicht existierenden Erzählerin zu tun hat. Und so entstehen manchmal Überraschungsmomente, es ist auch nicht gut, wenn man alles zu sehr durchplant, ein Text muss sich auch selbst entwickeln. Es geht weniger um totale Kontrolle als darum, zu schauen, wo sich Kontraste ergeben oder Spannungen oder auch unverständliche Stellen, bei denen der Zusammenhang hergestellt werden muss, also diese ganzen Brüche und Widersprüche ausmachen, einige davon muss man glätten und feilen, wenn es zu viele werden oder keine Funktion erfüllen, und andere bleiben da.
Welche Rolle spielt in diesem Zug für Sie Recherche? Recherchieren Sie gezielt auch zu Themen vor dem Schreiben oder auch während des Schreibens? Oder ist es mehr so, wie Sie schon erwähnt haben, dass Sie sich immer mal wieder kleine Notizen machen?
Es kommt mir immer künstlich vor, wenn Autoren sagen, dass sie Recherche betreiben. Und dafür ins Fitnessstudio gehen und Selfies machen oder einen Stangentanz auf Insta aufführen, das finde ich peinlich.
Beim Ullstein-Buch verwende ich diese Auswandererbriefe, natürlich musste ich irgendwie darauf kommen, sie bestellen, mich damit beschäftigen. Aber ich habe mich darum bemüht, keinerlei theoretische Kommentare einzubauen, und ich weiß über diese Briefe eigentlich genauso wenig wie Sie und natürlich viel weniger als Historiker oder die zuständigen Archivare. Und ich finde, dass das gut so ist, ich kann nicht schnell mal zu einem Geschichtswissenschaftler werden, und hier geht vor allem um Texte als literarische Einheiten, nicht um genaue historische Zusammenhänge.
Beim nächsten Buch überlege ich noch und bin mir unsicher, dort soll unter anderem eine Putzfrau in einem teuren Hotel eine Rolle spielen. Bei den anderen Figuren verstehe ich gut, wie sie funktionieren, weil sich ihr Leben oft mit meinen Erfahrungen überschneidet, bei ihr ist es anders, und ich mag es nicht, aus einer Ich-Perspektive über Dinge zu schreiben, die ich nicht auf irgendeine Art kenne, darauf habe ich kein Recht und es kann schnell anmaßend werden.
Vielleicht kennen Sie den Roman Der Sandler von dem Münchner Autor Markus Ostermair, er hat dieses Dilemma elegant gelöst. Es geht dort um einen Obdachlosen, der Roman wird aber nicht aus der Ich-Perspektive erzählt, sondern aus einer personalen Perspektive, der Erzähler ist dem Obdachlosen sehr nah, aber nicht zu nah, damit räumt er das ethische Problem aus dem Weg.
Die BISS kennen Sie wahrscheinlich, die Straßenzeitschrift in München, dort am Ende gibt es immer so kleine Kolumnen, in denen die Verkäufer der Zeitschrift über sich erzählen. Man merkt natürlich, dass diese Erzählungen glattgeschliffen sind, es gibt dort auf der sprachlichen Ebene wenig Individuelles und der Akzent liegt auf dem Inhalt, dem Erzählten. Aber ich lese diese Kolumnen sehr gerne und möchte einen Ausschnitt daraus in den nächsten Roman einbauen, und eine Verkäuferin hat auch als Putzfrau gearbeitet und schreibt darüber, wie sie an einem Arbeitstag vierzig Hotelzimmer zu reinigen hatte, von den vielen Putzmitteln Asthma bekam, krank wurde und dann diese Straßenzeitschrift zu verkaufen begann. Natürlich wäre es schon cool, mich mit dieser Frau für ein Gespräch zu verabreden, um herauszufinden, wie genau ihre Arbeit ablief, noch überlege ich, wie man das gestalten könnte.
Natürlich muss so ein Interview auch bezahlt werden, sonst nutze ich sie einfach aus und bekomme dafür noch Rezensionen und Preise und sie nicht, es ist eine delikate Sache. Da hilft es auch nicht, sich einmal andere Kleidung anzulegen und selbst zu versuchen, ein Hotelzimmer zu putzen, wie in einer schlechten Fernsehsendung, und erstaunt festzustellen, wie anstrengend dieser Job ist. Gut wäre es, auf natürliche Weise etwa eine Bekannte zu haben, die lage als Putzfrau gearbeitet hat, dann würde ich beobachten, zum Beispiel wie sauber es bei ihr zu Hause aussieht, was sie fortführt aus ihrer Arbeit, würde bestimmt etwas auf sie projizieren und könnte das eine vom anderen nicht auseinanderhalten. Ja, ich finde „Recherche“ schwierig.
Sie haben in der Vergangenheit Ihre Doktorarbeit erfolgreich abgeschlossen und arbeiten aktuell auch für die Universität. Das heißt, Sie sind Autorin von Lyrik und Prosa, aber auch gleichzeitig Wissenschaftlerin und begegnen damit dem Schreiben auf mehreren Ebenen. Wo sehen Sie die wichtigsten Unterschiede zwischen dem wissenschaftlichen und dem kreativen Schreiben und haben Sie manchmal Probleme damit, zwischendurch „umzuschalten“?
Also ich sage von mir eigentlich nie, dass ich Wissenschaftler bin, die Ausbildung qualifiziert einen nicht lebenslang zu dieser Behauptung, und man muss, ähnlich wie in der Literatur, auch Teil des Betriebs sein, das bin ich wahrscheinlich seit ein paar Jahren nicht mehr.
Aber diese Kombination ist auf jeden Fall gut, Literaturwissenschaft zu studieren und Literatur zu machen. Das ermöglicht ein Fingerspitzengefühl, wenn man weiß, wie viele Möglichkeiten es gibt, sich Literatur zu nähern, es ermöglicht eine Auswahl und eine Positionierung, und man gewöhnt sich an ein genaues Lesen, bemerkt, ähnlich wie beim Übersetzen, das riesige Potential eines guten Textes, seine Alleinstellungsmerkmale. Ich bin, glaube ich, ganz zufrieden mit dieser Kombination, und sehe da auch keinen großen Widerspruch, damit kann man auch gut Rezensionen schreiben, vor allem bei Lyrik.
Zum Abschluss möchten wir auf das Berufliche und die Frage danach, wie man mit dem Schreiben Geld verdient, eingehen. Sie haben in der ersten Poetikvorlesung sehr transparent Zahlen offengelegt, wie viel man als Autor verdient und über welche Mittel man das bekommt. Haben Sie denn für die Poetikvorlesungen und die Interviews Geld bekommen und wenn ja, wie viel?
Ja, ich glaube, ganz kostenlos würde ich das nicht machen. Vielleicht für die Vita, aber dann wäre ich die ganze Zeit genervt und würde mich auch schlechter vorbereiten. Ich bekomme 2.000 Euro plus Umsatzsteuer dafür. Das ist ein Bruttohonorar, das heißt, davon werden noch Sozialversicherungen gezahlt. Wobei ich gerade das Glück habe, dass die meisten Versicherungen über meine halbe Stelle an der Uni laufen, sodass ich nur die Rentenversicherung über die KSK zahlen muss, rund 230 Euro, davor waren es fast 500, und von dem Ganzen wird noch die Einkommenssteuer abgezogen, am Ende bleiben, schätze ich, ca. 1.200 Euro netto.
Bleiben wir bei der ersten Poetikvorlesung: Sie waren dem Beruf des Autors gegenüber sehr negativ eingestellt. Das hat wohl auch mit Ihrer Agenda zu tun, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie es ist, als Autor Geld zu verdienen. Warum entscheiden Sie sich trotzdem immer wieder dafür, als Autorin Geld verdienen zu wollen? Haben Sie jemals andere berufliche Wege, neben der Wissenschaft, weil dort ja ähnlich prekäre Bedingungen herrschen, in Erwägung gezogen?
Ja, es war natürlich ein bisschen heikel, weil es den Leuten, vor denen ich mich beschwert habe, oft ja nicht viel besser geht im Unibetrieb. Da wären Leute mit guter Festanstellung, an Künstlerhäusern oder Kulturreferaten, vielleicht geeigneter. Selbst kurz vor einer Professur hat man oft eine Teilzeitstelle und arbeitet dabei in Vollzeit.
Ich habe aber keine anderen Berufe in Betracht gezogen. Wenn man einmal aus dem Literaturbetrieb raus ist, kommt man nicht mehr so schnell hinein, denke ich, es sind lange Prozesse, und mit einem anderen Beruf parallel geht es zeitlich auf Kosten des Literarischen, das hat dann Konsequenzen, wenn man wieder etwas will wie Stipendien oder Lesungen, wird es nicht einfach sein, es ergeben sich Lücken im Lebenslauf. Und, ich glaube, ich kann halt auch nichts anderes. Ich habe keine Alternativen, höchstens sowas ein Literaturhaus zu leiten irgendwann, aber warum sollte ich andere Autoren einladen, ohne selber einer zu sein, da wäre ich zu egoistisch dafür. Ein wenig mache ich es natürlich auch, mit einem Freund zusammen leite ich eine kleine Lesereihe in München, wo es um andere Autoren geht, schreibe kleine Rezensionen zu Büchern, die normalerweise nicht oft besprochen werden, etwa zu Lyrik aus kleinen Verlagen. Insgesamt versuche ich aber schon zu schauen, dass ich im Groben bei meinem eigenen Lebenslauf bleibe. Wenn Ihnen Alternativen einfallen, dann sagen Sie das gerne, aber ich habe noch keine gefunden.
Sie haben die erste Poetikvorlesung damit gestartet, dass Sie gesagt haben, es gäbe heutzutage mehr Menschen, die schreiben, als lesen wollen. Wir leben in einem kapitalistischen System, in dem es um Angebot und Nachfrage geht. Sehen Sie denn die Leserschaft in der Verantwortung, die Existenz von Autoren zu sichern?
Es gibt, glaube ich, keine allzu direkte Verbindung, wenn wir jetzt zu fünft ein Buch von einem Autor kaufen, erhöht das nicht automatisch die Chance, dass sein nächstes Buch von einem großen Verlag aufgekauft wird. Wir sollten uns aber generell die Frage stellen, was wir kaufen und ob wir überhaupt Bücher kaufen. In einem Seminar, das ich gerade leite, versuche ich natürlich keinen dazu zu zwingen, Bücher zu kaufen, weil ich verstehe, dass es im Studium schwierig ist. Andererseits ist es etwas unfair dem Autor gegenüber, wenn man einen kleinen Comic-Band komplett abscannt und online stellt und dann vielleicht noch mal ausgedruckt mitbringt. Ich kaufe viele Bücher allerdings auch gebraucht, ein neues Buch kostet um die zwanzig, dreißig Euro, es ist nicht wenig Geld, gleichzeitig sollte man auch schauen, welche Verlage man unterstützen möchte, und mit dem Kauf zeigen, dass es einem wert ist. Also vielleicht weniger die Frage, was man kauft, als was man nicht kauft, keine Spiegelbestseller bei Hugendubel zum Beispiel, keine hässlichen Taschenbücher im Angebot für den Urlaub. Ich denke, man kann schon viel bewirken, ein einzelner Kauf wird nicht die Welt umstürzen, aber wenn wir alle etwas bewusster rangehen, ändern sich Tendenzen, auf die Verleger sehr achten.
In Ihren Romanen haben die Protagonistinnen Schwierigkeiten, mit ihrem Schreiben Geld zu verdienen. Sie haben sich ja auch vorgenommen, ein Bewusstsein für diese Problematik zu schaffen. Würde es Ihre Agenda nicht unterstützen, wenn Sie Ihre Werke als Autofiktionen betitelten?
Möglicherweise machen es deshalb einige Autoren und sprechen in Interviews von Autofiktionalem, sie wissen, dass das gut ankommt und der Moderator und alle anderen das hören wollen.
Ich glaube nicht, dass ich das mit gutem Gewissen machen könnte, weil ich ja weiß, dass es falsch ist und nichts bringt. Kurzfristig wäre dadurch vielleicht etwas gewonnen, aber ich hätte keine Freude mehr an Lesungen oder Interviews, wenn ich die ganze Zeit Dinge sagen würde, die ich nicht denke. Ich weiß gar nicht, womit man das vergleichen kann. Wenn man nicht rauchen will und es absolut nicht gut findet, fängt ja auch nicht damit an, weil alle in den Raucherpausen Kollektive bilden, nützliche Informationen austauschen. Natürlich kann man es sich vornehmen, mit dem Rauchen anzufangen, weil es einem sozial gesehen etwas bringt, das Beispiel haut jetzt nicht ganz hin, aber es geht um die Frage, ob ich langfristig damit leben kann. Mit dem Rauchen kann ich ja aufhören, ich kann aber nicht ein paar Jahre später sagen, das mit der Autofiktion sei alles Unfug gewesen, das hätte ich nur behauptet, um Aufmerksamkeit zu bekommen.
Empfinden Sie den Begriff der Autofiktion als ein Phänomen der Aneignung Ihrer Privatsphäre?
Natürlich spielt Selbstschutz eine Rolle, aber nicht in erster Linie, darauf könnte man sonst jedes Argument zurückführen. Ich weiß auf jeden Fall, dass meine Texte spannender sind als mein privates Leben. Wir sollten uns eher fragen, ob wir uns dadurch neuen Ebenen eines Textes nähern, die wir sonst übersehen würden.
Uns interessiert, warum Sie das so stark von sich weisen. Könnte es Ihnen nicht egal sein, wenn Ihre Romane in Rezensionen als autofiktional dargestellt werden?
Ich kann nichts verbieten und auch wenig beeinflussen, was in Rezensionen zu meinen Büchern steht. Wenn ich aber zum hundertsten Mal gefragt werde, ob ich autofiktional schreibe, muss ich schon irgendwie aggressiv reagieren, das geht nicht anders.
Natürlich kann man in Rezensionen alles schreiben, was man will, man kann bestimmt auch ganze Aufsätze über die Autofiktionalität eines Buches von mir schreiben, warum nicht, aber ich hätte keinen Spaß daran, so einen Text zu lesen, auch Veranstaltungen mit diesem Schwerpunkt würde ich umgehen, es ergibt nun einmal keinen Sinn. Es ist alles mit einem verbunden, man kann nicht über Sachen schreiben, die man nicht kennt. Ich persönlich setze mir eine zusätzliche Grenze, indem ich etwa sage, ich schreibe über keine Astronauten oder Tierschützer aus der Ich-Perspektive, weil ich mich damit nicht auskenne, und die Ich-Perspektive finde ich am eindringlichsten, aber es bedeutet nicht, dass ich also autofiktional schreibe. Es ist schade auch bei Lesungen, ich habe das Gefühl, dass Leute, die über das Biografische reden wollen, gar nicht in der Lage sind, über Texte als Literatur zu reden, vielleicht sind ihnen Texte auch egal. Ich glaube sogar eher umgekehrt, zum Selbstschutz wäre es leichter, sich auf das Autofiktionale einzulassen und sich zum Mittelpunkt des eigenen Textes zu stilisieren, ohne große Diskussionen. Diese Haltung ist verbreitet genug, „Ich beobachte mich beim Schreiben und es führt mich zu mir selbst zurück, ich bin wertvoll als Mensch, weil ich aus meinem Lebenslauf ein Kunstwerk mache“, aber es sind unterschiedliche Sachen, zuerst kommt der Text und alles andere ist ziemlich egal.
Das Observationsverhör wurde am 30. Mai 2024 geführt. Das Gespräch führten Manuela Floßmann, Jasmin Geppert, Katharina Jürgens und Mathilda Trausch.
Autor-, Leserschaft und Beruf: Observationsverhör mit Slata Roschal (3)>
Seit den 1980er-Jahren gibt es das Format der Poetikvorlesung am Institut für Deutsche Philologie der LMU München: Autorinnen und Autoren werden an die Universität eingeladen, um über ihr Schreiben, ihre Bücher und ihre Poetik zu sprechen. 2024 gab es wieder eine Neuauflage. Um die Forschung zur Gegenwartsliteratur am Verlags- und Buchstandort München weiter voranzutreiben und das literarische Leben in Forschung und Lehre besser zu vermitteln, stand die diesjährige Poetikvorlesung unter dem Vorzeichen „Werkstatt und Maschinenraum“. Als Vortragende konnte die Schriftstellerin Slata Roschal gewonnen werden. Roschal sprach in drei Vorlesungen über die Bedeutung des Literaturbetriebs für ihre Arbeit, über Geld, Macht und Konkurrenz, über das kollaborative Entstehen von Büchern und über die besondere Herausforderung, sich dem Literaturmarkt zu stellen, wenn man Familie und Kinder hat. Begleitend dazu entstanden drei Interviews, die von Studierenden der LMU mit der Autorin geführt wurden. Das dritte und letzte Interview bringen wir hier.
*
Wir beginnen mit einer kleinen Rekapitulation der letzten Wochen: Während der Moderation in der Poetikvorlesung, die am zweiten Abend von Studierenden organisiert wurde, und in den Gesprächen, die Sie mit uns geführt haben, standen Sie in engem Austausch mit uns. Wie war es denn für Sie, mit Studierenden zusammenzuarbeiten? Und warum haben Sie generell zugestimmt, bei unserem Projekt dabei zu sein?
Ja, ich fand es schön, ich bin zufrieden! Es ist immer gut, etwas mit Studierenden zusammen zu machen, nicht nur mit den Dozenten, bei Ihnen ist die Chance höher, dass Sie noch keine allzu feste Meinung haben oder dass noch Dinge im Prozess sind. Und das mitzukriegen und beeinflussen zu können ist spannend.
Die Poetikvorlesungen sind ein sehr spezielles Format, das es längere Zeit nicht mehr gab. Wie haben Sie sich darauf vorbereitet? Es ist bestimmt ganz anders als eine „normale“ Lesung für ein Buch abzuhalten.
Ich habe zuerst immer PowerPoint-Folien erstellt und geschaut, welches Material ich zu einem Thema habe, und mir dann Notizen gemacht, mit größerer Schrift kann man auch freier reden.
Es gab einige Memes darin, die meisten waren ursprünglich russisch, die habe ich dann auf Canvas bearbeitet und übersetzt. Mit unserem Gast Katharina Bendixen in der letzten Vorlesung haben wir im Vorfeld besprochen, dass wir uns je drei Fragen überlegen und gegenseitig stellen.
Und wie kamen Sie zu den Themen der einzelnen Vorlesungen?
Die Themen haben sich aus dem ergeben, was ich bisher gemacht habe. Das erste Thema „Geld, Macht und Konkurrenz“ war der Arbeitstitel einer FAZ-Reihe, die ich im Frühjahr letzten Jahres angefangen habe, im Sommer saß ich noch an den letzten Änderungen und sie erschien dann im September, das hat einige Monate gedauert.
Das zweite Thema, „Das kollaborative Buch“, war etwas Neues für mich. Darüber hatte ich zuvor noch nie genau nachgedacht beziehungsweise war ich mir auch nicht sicher, wie selbstverständlich das ist, weil alle Autoren wissen, dass sie nicht so viel am Buch bestimmen können, wie sie gerne würden, oder wie wichtig gleichzeitig gutes Lektorat ist.
Und das dritte Thema, „Elternschaft & Autorschaft“, hat mich auch schon lange beschäftigt, besonders seit ich den „other writers“ beigetreten bin. Das prägt einfach meinen Alltag, weil ich immer überlegen muss, worauf ich mich bewerbe, was ich mir überhaupt leisten kann an Reisen und so weiter.
Wie haben Ihnen die Vorlesungen denn gefallen? Fanden Sie irgendetwas nicht so schön? Lief etwas anders, als Sie es sich am Anfang vorgestellt hatten? Oder hätten Sie – im Nachhinein – gerne etwas anders gemacht?
Ich hätte die erste Vorlesung ein bisschen gekürzt, denn es war mir nicht ganz klar, wie viel Zeit wir haben und wann ich fertig sein muss. Es gab dazu so viel zu sagen, dass es schwer war, einige Folien wieder herauszustreichen.
Wahrscheinlich haben sich auch mehr Leute für die finanziellen Faktoren interessiert als für die Elternschaft, am letzten Abend nahm die Besucheranzahl leicht ab. Wir haben angefangen mit dem sehr großen Thema und sind dann immer mehr ins Detail gegangen, Elternschaft war dann ein spezifischer Faktor unter anderen. Ich glaube, ich hätte da noch ein wenig mehr den Bezug zu allen im Publikum betonen sollen; unabhängig davon, ob man selber ein Kind hat, kann man dabei helfen, familienfreundlichere Strukturen durchzusetzen.
Und wie hat es Ihnen allgemein gefallen, eine Vorlesung in dieser Richtung durchzuführen, vor allem über diese speziellen Themen?
Es war ganz angenehm, es war eine gute Erfahrung. Ich hatte zuerst die Vorstellung, dass von mir verlangt wird, einen literarischen, komplizierten Text zu schreiben und den eine Stunde lang vorzulesen. Aber ich hätte das erstens zeitlich gar nicht geschafft und zweitens auch keine Lust darauf gehabt. Das wäre langweilig, es hat immer etwas sehr Selbstgenügsames, wenn man dasteht und über sich selbst redet. Solche Veranstaltungen versuche ich zu vermeiden und würde sie ungern halten.
Sie haben sich in Ihrer Vorbereitungsphase mit den drei Themenblöcken sicher intensiv beschäftigt. Hat Sie das anders über bestimmte Aspekte denken lassen oder ist es Ihnen bei irgendetwas besonders schwergefallen, darüber zu sprechen, weil es an manchen Stellen doch sehr persönliche Themen waren?
Es macht keinen Sinn darüber zu reden, wenn man nicht ins Persönliche geht. Und es ist die Frage, wie sehr man es tut. Es besteht die Gefahr, wenn man Zahlen offenlegt, dass jemand im Saal sofort ruft, So gut wie Sie verdienen! Davon träumen andere Menschen!
Diese heikle Frage, mit welcher Arbeit wie viel Geld verdient wird. Alle sind unzufrieden mit dem, was sie bekommen, wahrscheinlich geht es einem Bauarbeiter finanziell, arbeitszeitlich usw. schlechter als mir. Gleichzeitig habe ich die Möglichkeit, mich vor anderen Leuten öffentlich zu beschweren, und er eher nicht, sein Vortrag würde an der Uni voraussichtlich keinen interessieren.
Was ich Neues gelernt habe, zum Beispiel, wenn man in etwas drinsteckt, erschleicht einen so eine Unsicherheit, ich frage mich dann, ob das alles doch nur mein privates Problem ist, ob ich einfach verrückt bin und mir etwas einbilde, was es nicht gibt. Und wenn man daraus einen Vortrag entwickelt, merkt man, dass das alles schon stimmt, es ist nicht nur dieses Private und Beleidigte und Sensible, sondern da stecken auch Strukturen dahinter, die verrückt machen. Und über diese Strukturen reden Autoren höchstens nach Veranstaltungen unter sich, legen ausnahmsweise ihre Honorare offen. Ich erinnere mich an eine Textwerkstatt, es herrschte eine Art Klassenfahrtstimmung, alle außer mir begannen zu trinken, es war schon Nacht und die Dozentin meinte ‒ Hört jetzt gut zu, denn das, was ihr jetzt hört, werdet ihr normalerweise nicht zu hören bekommen.
Das bleiben meist rein interne Themen, bei denen man vorsichtig ist, sie werden mündlich und informell verhandelt, und es ist interessant, davon Leuten zu erzählen, die nicht im Literaturbetrieb involviert sind, ihre Reaktionen zu beobachten. In kaum einem anderen Beruf wird das Thema Geld so sehr tabuisiert.
Ich entnehme Ihren Antworten, dass Sie schon viel Spaß an den Poetikvorlesungen hatten. Ist es dann etwas, das Sie noch einmal tun würden, wenn sich die Gelegenheit ergeben würde?
Ja, ich denke schon.
Haben Sie Feedback oder Rezensionen über die Poetikvorlesungen persönlich mitbekommen? Wenn ja, konnten Sie diese dann auch nachvollziehen?
Ich habe vielen Münchner Autoren die Ankündigungen geschickt und nach der ersten Vorlesung auch gefragt, was sie denken, was ich noch einbauen sollte. Denn die Themen betreffen ja uns alle. Es kamen dann einige thematische Vorschläge, zum Teil haben sie sich überschnitten, und einiges habe ich versucht einzubauen. Das Feedback war insgesamt sehr positiv. Was ich in der Vorlesung nicht angesprochen habe, war ein Thema aus unserer Vorbesprechung im Seminar, Tipps, worauf man bei den ersten Veröffentlichungen achten sollte. Das ist wahrscheinlich ein Sache für sich, die man besser in einem kleineren Format besprechen kann.
Es ist vielleicht eine sehr einfach wirkende Frage, aber haben Sie ein Lieblingswort, das entweder in Ihrer Lyrik oder Ihren Romanen immer wieder auftaucht und zu dem Sie eine spezielle Beziehung haben? Wenn nicht: Aus welchem Grund taucht ggf. dieses Lieblingswort nicht in Ihren veröffentlichten Texten auf?
Ich mag Füllwörter, die ganzen mündlichen Partikel, „irgendwie“, „also“, „sozusagen“ – das wiederholt sich immer wieder. Von den richtigen Wörtern wiederholt sich nichts von Buch zu Buch, glaube ich, das wäre auch blöd, dann verliert es den Reiz. Zum Beispiel in den Formen des Nichtseins steht am Ende dieses „krakeelt“, das finde ich sehr interessant als Wort, seltsames „ee“, keinerlei Zusammenhang zwischen Klang (Krake, Krähe, russ. rak = Krebs) und Inhalt. Oder auch Zitate von Schildern, Aushängen, Durchsagen, so etwas wie „Nicht einsteigen Sbahn endet hier“ oder „Einen Hammer für den Notausstieg“. Aber auch das darf sich nicht zu oft wiederholen.
Also Sie setzen dann diese Wörter ganz bewusst und geben ihnen einen besonderen Platz?
Genau, „krakeelt“ zum Beispiel ist nun mal ein besonderes Wort und steht im letzten Kapitel, muss eine abschließende Pointe darstellen, also sich auch auf dieses Buch beschränken.
Wir würden gerne noch einmal Bezug auf Ihre erste Poetikvorlesung nehmen. Da haben Sie davon gesprochen, dass es ein wahnsinniger Spagat sei, zwischen Kritik üben und gleichzeitig mit der Angst umzugehen, deswegen ausgeladen zu werden. Jetzt haben wir den Fall, dass manche Autoren ein Pseudonym wählen, um Kritik zu üben. Sie haben sich dagegen entschieden und da würden uns die Beweggründe interessieren, wieso Sie sich entschieden haben, unter Klarnamen Kritik zu üben?
Ich bin mir gar nicht sicher, ob es mit einem Pseudonym funktionieren würde, die Sache ist ja immer, um sich Kritik leisten zu können, muss man selber involviert sein. Wenn ich zum Beispiel einen Preis nicht bekomme, mich hinstelle und das Ganze kritisiere, sieht es nicht gut aus, als wäre ich einfach beleidigt, und Verlierern hört man sowieso nicht gerne zu. Wenn ich aber einen Preis bekomme und das Ganze als Gewinner kritisiere, also etwas sehr Komisches mache, was eigentlich meinem Vorteil widerspricht, dann funktioniert das eher. Und ich sollte schon mit meinem Namen markieren, dass ich Teil des Literaturbetriebes bin, zeigen, woher ich dieses Wissen, diese Erfahrung habe.
Bei der zweiten Poetikvorlesung würden wir gern noch einmal Ihren letzten Satz in den Blick nehmen: Da hatten Sie gesagt, dass Ihre Texte unendlich seien und dass nur die Buchdeckel die Grenzen bilden. Sind Ihre Werke fließend zwischen Lyrik und Roman oder unterteilen Sie sie selbst noch einmal anders?
Also ich denke das generell über alle Texte, an den eigenen merke es ich es vielleicht nur stärker.
Bei Lyrikbänden ist das nochmal relativer, sie bestehen aus einzelnen Texte, die für sich funktionieren, und irgendwann setzt man den Punkt und sagt ‒ daraus wird jetzt ein Buch. An sich könnte man weiterschreiben, dann wäre es ein größerer Band, und die Frage ist auch, ob es gut ist, viele Jahre nichts zu publizieren, das sind dann wieder diese eher pragmatischen Gründe, dann hat man ein paar Jahre keine Lesungen, das wird finanziell schwierig. Und es gibt natürlich auch diese Erwartung, dass man ständig etwas Neues produziert.
Bei den Formen des Nichtseins zum Beispiel könnte man diese 153 Kapitel an sich endlos fortsetzen oder sie mit einigen Passagen aus dem Ullstein-Buch austauschen oder auch Gedichte hineinpacken.
Dann geht es wiederum um pragmatische Fragen, ob es taktisch gesehen geschickt ist, und auch, ob der Gesamttext auf diese Weise funktioniert, nicht zu lang, nicht zu kurz ist, ob die Struktur, der Spannungsbogen erhalten bleiben, es kann auch auseinanderdriften und undicht werden.
Und wenn man beschlossen hat, dass es ein Buch ist, wird der Text von Anfang bis Ende als Ganzes nochmal überarbeitet, bei Lyrik kann man zum Beispiel schauen, in welcher Reihenfolge die Texte stehen, ob der Akzent auf klassischen Gedichten oder auf lyrischer Prosa liegt, welche Motive sich wo wiederholen.
Zu dieser Thematik der Verbindung von Lyrik und Prosa hätte mich noch interessiert, wie sich die Leserschaft unterscheidet oder gibt es da auch im Literaturbetrieb Differenzen zu erkennen zwischen den Gattungen? Inwieweit kann man Lyrik und Prosa zu einem Werk verbinden? Hätte das dann eine Schnittmenge als Leserschaft oder doch eher weniger, weil die Teams unterschiedlich sind?
Ich denke, es sind weniger Themen als die Betriebe, es sind unterschiedliche Verlage, und Lyrikverlage bekommen viel weniger öffentliche Aufmerksamkeit als Prosaverlage. Es gibt einige große Prosaverlage, die auch Lyrik machen, aber sehr begrenzt, sie nehmen meist keine neuen Autoren mehr auf, oder erlauben bekannteren Autoren, die bei ihnen sowieso Prosa produzieren, auch Lyrik zu machen.
Und die Autoren sind unterschiedlich, die meisten Lyriker sind Intellektuelle mit klassischer Uniausbildung, arbeiten auch oft als Dozenten und Professoren an Hochschulen, in der Prosa ist es gemischter. Für mich ist der Lyrikbetrieb manchmal etwas verkrampft, auf sich selbst gerichtet. So eine Art Blase, Lyriker lesen und rezensieren Lyriker, es gibt relativ wenig Preise und Stipendien für Lyrik, und die Konkurrenzsituation ist, glaube ich, nochmal stärker als in der Prosa, da kaum externe Leserschaft vorhanden ist, die Leute sind schneller verbittert.
Beim Prosabetrieb geht es ein wenig lockerer zu, aber auch oft oberflächlicher. Bei Lyriklesungen fragt man zum Beispiel so gut wie nie, ob der Text denn autofiktional sei, da ist man es eher gewohnt, wirklich über Texte zu reden, ist vielleicht auch mehr dazu imstande. Von Lyrik kann man kaum leben, und es gibt mehr Chancen auf Nominierungen, wenn man auch einen Roman veröffentlicht. Lyrik ist meist ästhetisch und verkaufstechnisch komplizierter. Ich versuche, beides zu machen, und Romane so zu schreiben, wie ich sie schreiben will, also ziemlich lyrisch.
Wenn ich Sie richtig verstehe, dann wären Sie also schon ein Fan vom Gattungsmix, dass man verwebt anstatt klar trennt?
Ja, genau. Es gibt an sich ja Lyrikbände, wo die Texte reine Prosa sind, und umgekehrt, es gibt Autoren, die Romane schreiben, das aber viel lyrischer, konzentrierter, als manche Gedichte. Es geht bei diesen Gattungsbezeichnungen, denke ich, weniger um klare stilistische Unterschiede als vor allem um die Vermarktung.
Eine Frage würde sich noch um Ihre Hauptprotagonistin drehen, beziehungsweise um das Bild, das Sie von ihr haben. Sie haben bei der letzten Poetikvorlesung gesagt, dass Sie sie eigentlich manchmal schon ziemlich unangenehm finden. Jetzt würde uns der Kontrast interessieren: Welche Figur finden Sie dann wahnsinnig sympathisch und wieso haben Sie sie so angelegt?
Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich das sage, weil das vielleicht von mir erwartet wird, oder weil so viele gesagt haben, sie sei unangenehm, und ich mich vorsichtshalber von ihr distanziere. An sich finde ich sowohl Ksenia als auch Maria schon ziemlich angenehm auf eine Art. Ich wäre, glaube ich, gern mit ihnen befreundet, ich weiß nicht, ob es klappen würde, aber sie sind interessant. Wenn es rein positive Figuren wären, ließe sich mit ihnen nichts anfangen, das wäre sehr langweilig. Ich glaube, Maria ist etwas erwachsener und auch ein bisschen düsterer, vielleicht sogar aggressiver und verschlossener. Ksenia ist einfach jünger und da ist vielleicht noch mehr möglich als bei der zweiten Figur.
Man kann sie vielleicht auch als Weiterführungen lesen. Wenn Ksenia nicht rechtzeitig handeln, zum Beispiel in Mecklenburg bleiben und noch ein Kind bekommen würde, dann wäre sie vielleicht Maria geworden, die beiden als optimistische und pessimistische Version.
Wenn Sie sich dann an einen Ihrer Texte setzen – wie sieht Ihr Schreibprozess aus? Passiert Schreiben bei Ihnen intuitiv oder geplant? Manche Autoren oder Autorinnen überlegen sich ja vorher genau, was sie in ihren Texten besprechen wollen und wann. Planen Sie Ihr Schreiben? Oder entwickeln sich Ihre Figuren und Themen während des Schreibens, sozusagen im Flow?
Wahrscheinlich beides parallel. Richtig zum Schreiben am Block komme ich selten und dann meistens bei Residenzstipendien oder über Feiertage, wenn wenig los ist, letztes Jahr konnte ich über Weihnachten und Neujahr gut schreiben. Ich mache mir Notizen zu ganz kleinen Details, einzelnen Wörtern, Ausdrücken, oder notiere mir Zitate, wenn ich Filme schaue oder Radio höre, oder mögliche Fortsetzungen eines Textes, das kam mir früher komisch vor, aber jetzt denke ich, warum nicht. Dann hat das, was man macht, zumindest irgendeinen Sinn.
Oder auch reale Menschen, zum nächsten Roman denke ich etwa über eine Nachbarin nach, was sie gerade macht und woran das liegen könnte, was ich alles über sie nicht weiß, und eine Szene dazu und einen roten Faden. Dann ist es wie ein Mosaik, wo diese kleinen Details und ganz großen Strukturprinzipien oder Themen zusammengefügt werden. Zuerst sind ganz viele Lücken da, eigentlich nur Lücken, die allmählich an unterschiedlichen Stellen gefüllt werden. Anschließend muss man schauen, ob das Ganze funktioniert von Anfang bis Ende, und dann sagt zum Beispiel der Lektor, was er nicht verstanden hat, wo er mehr Informationen will, und es werden weitere Leerstellen gefüllt.
Haben Sie auch manchmal Momente, in denen sich die Geschichte anders entwickelt, als Sie sich das vorher überlegt hatten? Also Momente, in denen das Mosaik dann durcheinanderkommt, in denen Sie von sich selbst überrascht werden oder die Figuren etwas tun, was Sie eigentlich nicht erwartet hätten?
Ja, vielleicht liegt das gar nicht so sehr auf der Ebene von Figurencharakter als auf der Ebene des Textmaterials. Zum Beispiel gibt es am Ende von Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten einen großen Tod, den Tod der Großmutter, goldene Äpfel und so weiter. Das war ursprünglich ein Text, den ich als Lyrik geschrieben habe, in Kooperation mit einem spanischen Dichter, und ich wusste natürlich nicht, dass es das Ende vom nächsten Buch sein wird oder inwiefern es mit irgendeiner noch nicht existierenden Erzählerin zu tun hat. Und so entstehen manchmal Überraschungsmomente, es ist auch nicht gut, wenn man alles zu sehr durchplant, ein Text muss sich auch selbst entwickeln. Es geht weniger um totale Kontrolle als darum, zu schauen, wo sich Kontraste ergeben oder Spannungen oder auch unverständliche Stellen, bei denen der Zusammenhang hergestellt werden muss, also diese ganzen Brüche und Widersprüche ausmachen, einige davon muss man glätten und feilen, wenn es zu viele werden oder keine Funktion erfüllen, und andere bleiben da.
Welche Rolle spielt in diesem Zug für Sie Recherche? Recherchieren Sie gezielt auch zu Themen vor dem Schreiben oder auch während des Schreibens? Oder ist es mehr so, wie Sie schon erwähnt haben, dass Sie sich immer mal wieder kleine Notizen machen?
Es kommt mir immer künstlich vor, wenn Autoren sagen, dass sie Recherche betreiben. Und dafür ins Fitnessstudio gehen und Selfies machen oder einen Stangentanz auf Insta aufführen, das finde ich peinlich.
Beim Ullstein-Buch verwende ich diese Auswandererbriefe, natürlich musste ich irgendwie darauf kommen, sie bestellen, mich damit beschäftigen. Aber ich habe mich darum bemüht, keinerlei theoretische Kommentare einzubauen, und ich weiß über diese Briefe eigentlich genauso wenig wie Sie und natürlich viel weniger als Historiker oder die zuständigen Archivare. Und ich finde, dass das gut so ist, ich kann nicht schnell mal zu einem Geschichtswissenschaftler werden, und hier geht vor allem um Texte als literarische Einheiten, nicht um genaue historische Zusammenhänge.
Beim nächsten Buch überlege ich noch und bin mir unsicher, dort soll unter anderem eine Putzfrau in einem teuren Hotel eine Rolle spielen. Bei den anderen Figuren verstehe ich gut, wie sie funktionieren, weil sich ihr Leben oft mit meinen Erfahrungen überschneidet, bei ihr ist es anders, und ich mag es nicht, aus einer Ich-Perspektive über Dinge zu schreiben, die ich nicht auf irgendeine Art kenne, darauf habe ich kein Recht und es kann schnell anmaßend werden.
Vielleicht kennen Sie den Roman Der Sandler von dem Münchner Autor Markus Ostermair, er hat dieses Dilemma elegant gelöst. Es geht dort um einen Obdachlosen, der Roman wird aber nicht aus der Ich-Perspektive erzählt, sondern aus einer personalen Perspektive, der Erzähler ist dem Obdachlosen sehr nah, aber nicht zu nah, damit räumt er das ethische Problem aus dem Weg.
Die BISS kennen Sie wahrscheinlich, die Straßenzeitschrift in München, dort am Ende gibt es immer so kleine Kolumnen, in denen die Verkäufer der Zeitschrift über sich erzählen. Man merkt natürlich, dass diese Erzählungen glattgeschliffen sind, es gibt dort auf der sprachlichen Ebene wenig Individuelles und der Akzent liegt auf dem Inhalt, dem Erzählten. Aber ich lese diese Kolumnen sehr gerne und möchte einen Ausschnitt daraus in den nächsten Roman einbauen, und eine Verkäuferin hat auch als Putzfrau gearbeitet und schreibt darüber, wie sie an einem Arbeitstag vierzig Hotelzimmer zu reinigen hatte, von den vielen Putzmitteln Asthma bekam, krank wurde und dann diese Straßenzeitschrift zu verkaufen begann. Natürlich wäre es schon cool, mich mit dieser Frau für ein Gespräch zu verabreden, um herauszufinden, wie genau ihre Arbeit ablief, noch überlege ich, wie man das gestalten könnte.
Natürlich muss so ein Interview auch bezahlt werden, sonst nutze ich sie einfach aus und bekomme dafür noch Rezensionen und Preise und sie nicht, es ist eine delikate Sache. Da hilft es auch nicht, sich einmal andere Kleidung anzulegen und selbst zu versuchen, ein Hotelzimmer zu putzen, wie in einer schlechten Fernsehsendung, und erstaunt festzustellen, wie anstrengend dieser Job ist. Gut wäre es, auf natürliche Weise etwa eine Bekannte zu haben, die lage als Putzfrau gearbeitet hat, dann würde ich beobachten, zum Beispiel wie sauber es bei ihr zu Hause aussieht, was sie fortführt aus ihrer Arbeit, würde bestimmt etwas auf sie projizieren und könnte das eine vom anderen nicht auseinanderhalten. Ja, ich finde „Recherche“ schwierig.
Sie haben in der Vergangenheit Ihre Doktorarbeit erfolgreich abgeschlossen und arbeiten aktuell auch für die Universität. Das heißt, Sie sind Autorin von Lyrik und Prosa, aber auch gleichzeitig Wissenschaftlerin und begegnen damit dem Schreiben auf mehreren Ebenen. Wo sehen Sie die wichtigsten Unterschiede zwischen dem wissenschaftlichen und dem kreativen Schreiben und haben Sie manchmal Probleme damit, zwischendurch „umzuschalten“?
Also ich sage von mir eigentlich nie, dass ich Wissenschaftler bin, die Ausbildung qualifiziert einen nicht lebenslang zu dieser Behauptung, und man muss, ähnlich wie in der Literatur, auch Teil des Betriebs sein, das bin ich wahrscheinlich seit ein paar Jahren nicht mehr.
Aber diese Kombination ist auf jeden Fall gut, Literaturwissenschaft zu studieren und Literatur zu machen. Das ermöglicht ein Fingerspitzengefühl, wenn man weiß, wie viele Möglichkeiten es gibt, sich Literatur zu nähern, es ermöglicht eine Auswahl und eine Positionierung, und man gewöhnt sich an ein genaues Lesen, bemerkt, ähnlich wie beim Übersetzen, das riesige Potential eines guten Textes, seine Alleinstellungsmerkmale. Ich bin, glaube ich, ganz zufrieden mit dieser Kombination, und sehe da auch keinen großen Widerspruch, damit kann man auch gut Rezensionen schreiben, vor allem bei Lyrik.
Zum Abschluss möchten wir auf das Berufliche und die Frage danach, wie man mit dem Schreiben Geld verdient, eingehen. Sie haben in der ersten Poetikvorlesung sehr transparent Zahlen offengelegt, wie viel man als Autor verdient und über welche Mittel man das bekommt. Haben Sie denn für die Poetikvorlesungen und die Interviews Geld bekommen und wenn ja, wie viel?
Ja, ich glaube, ganz kostenlos würde ich das nicht machen. Vielleicht für die Vita, aber dann wäre ich die ganze Zeit genervt und würde mich auch schlechter vorbereiten. Ich bekomme 2.000 Euro plus Umsatzsteuer dafür. Das ist ein Bruttohonorar, das heißt, davon werden noch Sozialversicherungen gezahlt. Wobei ich gerade das Glück habe, dass die meisten Versicherungen über meine halbe Stelle an der Uni laufen, sodass ich nur die Rentenversicherung über die KSK zahlen muss, rund 230 Euro, davor waren es fast 500, und von dem Ganzen wird noch die Einkommenssteuer abgezogen, am Ende bleiben, schätze ich, ca. 1.200 Euro netto.
Bleiben wir bei der ersten Poetikvorlesung: Sie waren dem Beruf des Autors gegenüber sehr negativ eingestellt. Das hat wohl auch mit Ihrer Agenda zu tun, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie es ist, als Autor Geld zu verdienen. Warum entscheiden Sie sich trotzdem immer wieder dafür, als Autorin Geld verdienen zu wollen? Haben Sie jemals andere berufliche Wege, neben der Wissenschaft, weil dort ja ähnlich prekäre Bedingungen herrschen, in Erwägung gezogen?
Ja, es war natürlich ein bisschen heikel, weil es den Leuten, vor denen ich mich beschwert habe, oft ja nicht viel besser geht im Unibetrieb. Da wären Leute mit guter Festanstellung, an Künstlerhäusern oder Kulturreferaten, vielleicht geeigneter. Selbst kurz vor einer Professur hat man oft eine Teilzeitstelle und arbeitet dabei in Vollzeit.
Ich habe aber keine anderen Berufe in Betracht gezogen. Wenn man einmal aus dem Literaturbetrieb raus ist, kommt man nicht mehr so schnell hinein, denke ich, es sind lange Prozesse, und mit einem anderen Beruf parallel geht es zeitlich auf Kosten des Literarischen, das hat dann Konsequenzen, wenn man wieder etwas will wie Stipendien oder Lesungen, wird es nicht einfach sein, es ergeben sich Lücken im Lebenslauf. Und, ich glaube, ich kann halt auch nichts anderes. Ich habe keine Alternativen, höchstens sowas ein Literaturhaus zu leiten irgendwann, aber warum sollte ich andere Autoren einladen, ohne selber einer zu sein, da wäre ich zu egoistisch dafür. Ein wenig mache ich es natürlich auch, mit einem Freund zusammen leite ich eine kleine Lesereihe in München, wo es um andere Autoren geht, schreibe kleine Rezensionen zu Büchern, die normalerweise nicht oft besprochen werden, etwa zu Lyrik aus kleinen Verlagen. Insgesamt versuche ich aber schon zu schauen, dass ich im Groben bei meinem eigenen Lebenslauf bleibe. Wenn Ihnen Alternativen einfallen, dann sagen Sie das gerne, aber ich habe noch keine gefunden.
Sie haben die erste Poetikvorlesung damit gestartet, dass Sie gesagt haben, es gäbe heutzutage mehr Menschen, die schreiben, als lesen wollen. Wir leben in einem kapitalistischen System, in dem es um Angebot und Nachfrage geht. Sehen Sie denn die Leserschaft in der Verantwortung, die Existenz von Autoren zu sichern?
Es gibt, glaube ich, keine allzu direkte Verbindung, wenn wir jetzt zu fünft ein Buch von einem Autor kaufen, erhöht das nicht automatisch die Chance, dass sein nächstes Buch von einem großen Verlag aufgekauft wird. Wir sollten uns aber generell die Frage stellen, was wir kaufen und ob wir überhaupt Bücher kaufen. In einem Seminar, das ich gerade leite, versuche ich natürlich keinen dazu zu zwingen, Bücher zu kaufen, weil ich verstehe, dass es im Studium schwierig ist. Andererseits ist es etwas unfair dem Autor gegenüber, wenn man einen kleinen Comic-Band komplett abscannt und online stellt und dann vielleicht noch mal ausgedruckt mitbringt. Ich kaufe viele Bücher allerdings auch gebraucht, ein neues Buch kostet um die zwanzig, dreißig Euro, es ist nicht wenig Geld, gleichzeitig sollte man auch schauen, welche Verlage man unterstützen möchte, und mit dem Kauf zeigen, dass es einem wert ist. Also vielleicht weniger die Frage, was man kauft, als was man nicht kauft, keine Spiegelbestseller bei Hugendubel zum Beispiel, keine hässlichen Taschenbücher im Angebot für den Urlaub. Ich denke, man kann schon viel bewirken, ein einzelner Kauf wird nicht die Welt umstürzen, aber wenn wir alle etwas bewusster rangehen, ändern sich Tendenzen, auf die Verleger sehr achten.
In Ihren Romanen haben die Protagonistinnen Schwierigkeiten, mit ihrem Schreiben Geld zu verdienen. Sie haben sich ja auch vorgenommen, ein Bewusstsein für diese Problematik zu schaffen. Würde es Ihre Agenda nicht unterstützen, wenn Sie Ihre Werke als Autofiktionen betitelten?
Möglicherweise machen es deshalb einige Autoren und sprechen in Interviews von Autofiktionalem, sie wissen, dass das gut ankommt und der Moderator und alle anderen das hören wollen.
Ich glaube nicht, dass ich das mit gutem Gewissen machen könnte, weil ich ja weiß, dass es falsch ist und nichts bringt. Kurzfristig wäre dadurch vielleicht etwas gewonnen, aber ich hätte keine Freude mehr an Lesungen oder Interviews, wenn ich die ganze Zeit Dinge sagen würde, die ich nicht denke. Ich weiß gar nicht, womit man das vergleichen kann. Wenn man nicht rauchen will und es absolut nicht gut findet, fängt ja auch nicht damit an, weil alle in den Raucherpausen Kollektive bilden, nützliche Informationen austauschen. Natürlich kann man es sich vornehmen, mit dem Rauchen anzufangen, weil es einem sozial gesehen etwas bringt, das Beispiel haut jetzt nicht ganz hin, aber es geht um die Frage, ob ich langfristig damit leben kann. Mit dem Rauchen kann ich ja aufhören, ich kann aber nicht ein paar Jahre später sagen, das mit der Autofiktion sei alles Unfug gewesen, das hätte ich nur behauptet, um Aufmerksamkeit zu bekommen.
Empfinden Sie den Begriff der Autofiktion als ein Phänomen der Aneignung Ihrer Privatsphäre?
Natürlich spielt Selbstschutz eine Rolle, aber nicht in erster Linie, darauf könnte man sonst jedes Argument zurückführen. Ich weiß auf jeden Fall, dass meine Texte spannender sind als mein privates Leben. Wir sollten uns eher fragen, ob wir uns dadurch neuen Ebenen eines Textes nähern, die wir sonst übersehen würden.
Uns interessiert, warum Sie das so stark von sich weisen. Könnte es Ihnen nicht egal sein, wenn Ihre Romane in Rezensionen als autofiktional dargestellt werden?
Ich kann nichts verbieten und auch wenig beeinflussen, was in Rezensionen zu meinen Büchern steht. Wenn ich aber zum hundertsten Mal gefragt werde, ob ich autofiktional schreibe, muss ich schon irgendwie aggressiv reagieren, das geht nicht anders.
Natürlich kann man in Rezensionen alles schreiben, was man will, man kann bestimmt auch ganze Aufsätze über die Autofiktionalität eines Buches von mir schreiben, warum nicht, aber ich hätte keinen Spaß daran, so einen Text zu lesen, auch Veranstaltungen mit diesem Schwerpunkt würde ich umgehen, es ergibt nun einmal keinen Sinn. Es ist alles mit einem verbunden, man kann nicht über Sachen schreiben, die man nicht kennt. Ich persönlich setze mir eine zusätzliche Grenze, indem ich etwa sage, ich schreibe über keine Astronauten oder Tierschützer aus der Ich-Perspektive, weil ich mich damit nicht auskenne, und die Ich-Perspektive finde ich am eindringlichsten, aber es bedeutet nicht, dass ich also autofiktional schreibe. Es ist schade auch bei Lesungen, ich habe das Gefühl, dass Leute, die über das Biografische reden wollen, gar nicht in der Lage sind, über Texte als Literatur zu reden, vielleicht sind ihnen Texte auch egal. Ich glaube sogar eher umgekehrt, zum Selbstschutz wäre es leichter, sich auf das Autofiktionale einzulassen und sich zum Mittelpunkt des eigenen Textes zu stilisieren, ohne große Diskussionen. Diese Haltung ist verbreitet genug, „Ich beobachte mich beim Schreiben und es führt mich zu mir selbst zurück, ich bin wertvoll als Mensch, weil ich aus meinem Lebenslauf ein Kunstwerk mache“, aber es sind unterschiedliche Sachen, zuerst kommt der Text und alles andere ist ziemlich egal.
Das Observationsverhör wurde am 30. Mai 2024 geführt. Das Gespräch führten Manuela Floßmann, Jasmin Geppert, Katharina Jürgens und Mathilda Trausch.