Deutsch-jüdische Gespräche (11) Tanja Dückers und Vladimir Vertlib

Zur Reihe: Zeit wahrzunehmen, zuzuhören und zu erwidern. – Angesichts eines zunehmend aufgeheizten und toxischen Kommunikationsklimas möchten wir hier einen Raum der deutsch-jüdischen Gespräche eröffnen. Denn Literatur ist immer auch ein Verhandeln und Transformieren von Wirklichkeiten und Möglichkeiten; ein Im-Gespräch-stehen. Wir laden ein zum Lesen, Zuhören und zum Erwidern; zu einem Austausch zwischen deutschsprachigen jüdischen und nichtjüdischen Schreibenden und Kunstschaffenden über alles, worüber sie jeweils miteinander reden mögen.

Das elfte Gespräch führte die Autorin Tanja Dückers mit dem Schriftsteller Vladimir Vertlib. 

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TANJA DÜCKERS: Lieber Vladimir, wir sind ja per Du. Meine erste Frage betrifft Deinen bisherigen Lebensweg. Du bist 1966 in Leningrad geboren, 1971 bist Du mit Deiner Familie emigriert. Über viele Stationen, darunter New York und Israel, bist Du nach Wien gekommen. War der Grund Eurer Ausreise eher in der generellen, viele Menschen betreffenden wirtschaftlichen und menschenrechtlichen Misere in der Sowjetunion zu finden oder konkret auch Eure Situation als Angehörige einer Minderheit, als Juden?

VLADIMIR VERTLIB:  Es war beides. Meine Eltern, Jahrgänge 1931 und 1938, hatten sowohl den Krieg als auch die Stalinzeit hautnah, dramatisch und traumatisierend erlebt. Sie hatten sowohl unter dem Stalinterror als auch nach Stalins Tod weiterhin unter dem korrupten und repressiven Sowjetregime zu leiden. Hinzu kam für sie allerdings noch der staatliche Antisemitismus, die Diskriminierung und Verfolgung aufgrund ihrer jüdischen Herkunft sowie der in der Bevölkerung weit verbreitete Judenhass. Mein Vater war schon in seiner Jugend Regimegegner, und er wäre Dissident geworden, wenn er von prosowjetischen wie auch von sowjetkritischen Menschen nicht oftmals zu hören bekommen hätte, er gehöre in Russland nicht dazu, er sei hier nicht wirklich zu Hause, weil er kein Russe, sondern Jude sei. So entschloss er sich schließlich auszuwandern, wurde Zionist, und meine Mutter folgte ihm. Wäre es nach ihr allein gegangen, wäre sie wohl niemals ausgewandert, aber als traditionell denkende Frau ihrer Generation folgte sie ihrem Mann.

DÜCKERS: Du kennst Russland sehr gut, bist dort geboren und hast dort einen Teil Deiner Kindheit verbracht. Wie würdest Du rückblickend das Leben Deiner jüdischen Familie in Leningrad beurteilen? Wart ihr Teil einer Community, die respektiert wurde, wart ihr mit Antisemitismus konfrontiert?

VERTLIB: Ich selbst war erst knapp fünf Jahre alt, als meine Eltern und ich emigriert sind. Was ich von meinen Eltern weiß, ist allerdings, dass sie und ihre Familien in Russland integriert waren. Sie waren jüdischer Herkunft, aber keine gläubigen Juden, sie waren mit der russischen Kultur aufgewachsen, fühlten sich ihrem Land, ihrer Sprache und ihrer Kultur verbunden und hatten viele Freunde und Bekannte. Was ihnen das Leben schwer machte, waren die staatlichen Diskriminierungen (mein Onkel z.B. durfte nicht das studieren, was er wollte; meine Mutter durfte ihr Abitur nicht mit Auszeichnung machen, weil schon ein anderes Mädchen jüdischer Herkunft in der Schule einen ausgezeichneten Erfolg vorzuweisen hatte und somit die jüdische "Quote" erfüllt war; berufliche Karrieren waren für Menschen jüdischer Herkunft viel schwerer zu machen als für andere, etc.), die zudem ja nie offiziell waren.

Natürlich gab das Regime niemals zu, dass es jüdische Menschen verfolgte oder diskriminierte, weil sie Juden“ waren. Vielmehr bezeichnete man die Opfer der Repressionen als "Zionisten", als "vaterlandslose Gesellen", als "Volksfeinde", etc. oder auch nichts von alledem. Das Regime brauchte sich gar nicht zu erklären, wenn es jemanden schlecht behandelte. 1953 wären alle Juden beinahe in entlegene Regionen Sibiriens oder nach Kasachstan deportiert worden - so wie es schon anderen Völkern der Sowjetunion ergangen war. Stalins Tod verhinderte dies. Seine Nachfolger sagten die Massendeportationen ab; die Diskriminierungen und der staatliche Antisemitismus blieben aber bis zur Perestrojka-Zeit bestehen. Auch im Alltag waren meine Eltern und ihre Angehörigen mit Antisemitismus konfrontiert. Beleidigungen, Anfeindungen und Übergriffe auf der Straße waren an der Tagesordnung. Menschen jüdischer Herkunft wurden von den anderen schlichtweg nicht als Einheimische gesehen, die dazugehörten. 

DÜCKERS: In Deinem in diesem Jahr erschienenen Roman Die Heimreise beschreibst Du eine Fahrt durch Russland, in Lucia Binar und die russische Seele (2017) geht es indirekt auch um Russland. Was verbindet Dich noch mit diesem Land, wie blickst Du auf den Krieg, die gegenwärtigen Ereignisse?

VERTLIB: Emotional, sprachlich und kulturell bin ich Russland weiterhin sehr verbunden. Während der Migration, die ich als Kind und als Jugendlicher mit meinen Eltern durchmachen musste mehrere Ortwechsel in verschiedenen Ländern zwischen meinem fünften und meinem sechzehnten Lebensjahr -, sprach ich mit meinen Eltern und mit vielen anderen Migrantinnen und Migranten nur russisch; die ersten Bücher, die ich las, waren russische Bücher, die Märchen, die mir meine Mutter erzählte, die Lieder, die sie mir vorsang, die Familiengeschichten, die ich oft zu hören bekam das alles war auf Russisch und bezog sich größtenteils auf Russland. Die russische Sprache und ein erworbenes, tradiertes Russlandbild waren für mich eine Art Heimat in der Fremde. Meine Heimat war dabei nicht das reale Russland, sondern das Bild, das in meiner Fantasie erstanden war.

Der Krieg, den das Putin-Regime gegen die Ukraine führt, ist ein Angriffs- und Vernichtungsfeldzug. Wir, alle Menschen mit Charakter, ja eigentlich die gesamte zivilisierte Menschheit, müssen alles tun, um der Ukraine in ihrem Kampf ums Überleben zu helfen.

Dazu gehört auch der Kampf gegen Putins Helferinnen und Helfershelfer in Europa wie die AfD, die FPÖ, Sarah Wagenknecht, das Rassemblement National, der mit kompromisslos mit allen demokratischen Mitteln geführt werden muss. Wenn Putin und seine Kumpane und ihre Mitläuferinnen und Mitläufer in Europa und anderswo gewinnen, wird die Ukraine nicht ihr letztes Opfer sein … Dass so viele Bürgerinnen und Bürger der Russischen Föderation Putin unterstützen (zum Teil gehören dazu auch jene, die sehr wohl wissen, was das für ein Regime ist und worum es in diesem Krieg geht), trifft mich sehr. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass es auch ein anderes Russland gibt, dass Millionen von Menschen dieses Regime abscheulich finden und ins Exil gegangen sind. 

DÜCKERS: Glaubst Du, dass die Linke im Westen, um ein politisches Sammelbecken verkürzend mit einem Begriff zu belegen, das emanzipatorische Moment der UDSSR überschätzt und gleichzeitig die erfahrene Kränkung durch den Zusammenbruch 1991 unterschätzt hat? Mit all den Folgen, die wir heute in Folge des Ukrainekriegs, aber auch schon der vorausgegangenen Kriege (zweimal in Tschetschenien), kriegerischen Interventionen (Georgien, Syrien) und seit den Neunzigern eingefrorenen Kriege (Transnistrien) erleben müssen?

VERTLIB: Das mag stimmen - historisch betrachtet! Für die 1990er Jahre trifft das wohl für sehr viele politisch denkende Menschen im Westen zu - und das nicht nur für Linke. Allerdings ist Die Linke im Westen" eine sehr verkürzte, allgemeine Darstellung einer im Prinzip sehr heterogenen Gruppe. Was nun die Gegenwart betrifft: Es gibt Linke, die Putins chauvinistische, totalitäre Gewaltherrschaft verharmlosen (Die politische Partei "Die Linke" in Deutschland z.B. und viele andere linke Gruppen weltweit), aber auch Linke, die besonders vehement gegen ihn auftreten und die Ukraine unterstützen. Zu Letzteren gehören beispielsweise die deutschen oder die österreichischen Grünen, die österreichische Sozialdemokratie oder Labour in Großbritannien ...

In Deutschland kommt außerdem noch ein zumindest latentes Schuldgefühl für den NS-Überfall auf die Sowjetunion hinzu, weswegen man sich in manchen Kreisen scheut, das heutige Russland allzu scharf zu kritisieren oder Waffen an die Ukraine zu liefern. Das ist aber ganz falsch, denn das heutige Russland steht sehr viel mehr in einer faschistischen als in einer antifaschistischen Tradition, und es gibt in Europa sicher kein Land, das heute politisch, ideell und atmosphärisch dem NS-Reich ähnlicher wäre als die Russische Föderation. 

DÜCKERS: In Deinem zeitlosen Roman Letzter Wunsch schreibst Du auf sehr witzige Weise über das Judentum mit all seinen verschiedenen Strömungen, über Jüdinnen und Juden in Deutschland und die Frage, wer ist ein richtiger Jude? Ich konnte viel lernen bei dieser Lektüre und habe gleichzeitig viel gelacht. Wie wichtig ist Jüdinnen und Juden heute noch diese Selbstreflektion und -definition? Wie wichtig ist sie Dir? Führte die lange kollektive Heimatlosigkeit“ der Jüdinnen und Juden nach einem stärkeren Wunsch nach Selbstverortung, Identitätsklärung, einer Form von Halt in dieser Welt?

VERTLIB: Das ist wahrscheinlich tatsächlich so, obwohl ich natürlich nur für mich selbst, allenfalls für Menschen, die ich kenne, und nicht für alle Jüdinnen und Juden sprechen kann. In meinem Fall war und ist die Frage nach Identität stets eine fundamentale - nicht nur aufgrund meiner jüdischen Herkunft, sondern auch als Folge der langen Migration und der damit verbundenen historischen, persönlichen und geographischen Rahmenverhältnisse. Das Exil und der Zwischenraum, die Uneindeutigkeit und die Ambivalenz sind meine Normalität. Wenn ich mich selbst nicht hinterfragen würde, wenn ich nicht auch über die Absurdität meines Daseins lachen könnte, dann würde ich mich selbst und diese Welt wahrscheinlich kaum aushalten können. Jedenfalls ist Gott ein guter Satiriker, finde ich.

DÜCKERS: Aufgrund Deiner Familiengeschichte, Deiner Ankunft als jüdischer Exilant hast ein besonderes Sensorium für die moralische Verfasstheit Österreichs. In Deiner Dankesrede zur Verleihung des Theodor-Kramer-Preises in diesem Jahr an Dich sagst Du „es war mir schon als Kind bewusst, dass ich, wäre ich nur einundzwanzigeinhalb Jahre früher auf die Welt gekommen, in diesem Land sofort umgebracht worden wäre.“ Wie sehr spürst Du offene und auch subkutane antisemitische Manifestationen in Deinem Alltag in Österreich? Du hast berichtet, dass der jüdische Friedhof, auf dem Dein Vater begraben liegt, geschändet wurde.

VERTLIB: Der Antisemitismus hat in Österreich eine lange Tradition. Er war immer da - auch in jenen Zeiten, als man Angst hatte, ihn offen zu zeigen. Inzwischen ist er wieder salonfähiger geworden, und seit dem 7. Oktober 2023 ist er noch spürbarer und bedrohlicher als zuvor. Besonders beängstigend ist für mich die Tatsache, dass sich der traditionelle, tief verankerte Antisemitismus in Österreich und der importierte, aus dem muslimischen Raum kommende Antisemitismus nun hierzulande gegenseitig verstärken, voneinander lernen und sozusagen Hand in Hand marschieren.

Wenn einheimische Feministinnen und LGBTQ-Aktivist*innen auf Pro-Palästina-Demos „From the river to the sea!“ skandieren (dieser Slogan ist in Österreich inzwischen verboten) und die Hamas als Befreiungsbewegung bezeichnen, dann wird mir klar, dass diesen Menschen ihr Hass gegen Juden letztlich wichtiger ist, als die Sicherheit oder die Rechte von Frauen oder von Homosexuellen und Transpersonen ganz allgemein. Bekanntermaßen haben Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 in Israel Frauen und Kinder gefoltert, vergewaltigt und entführt. Homosexuelle und Transpersonen werden im islamistischen Machtbereich verachtet, gequält und ermordet. Das alles ist den fortschrittlichen“ linken Demonstrant*innen egal, genauso wie ihnen letzten das Los von Palästinenserinnen und Palästinensern egal ist. Es geht ihnen um ihren Israelhass (in dem ein latenter oder auch durchaus manifester Judenhass enthalten ist), der stärker ist als alles andere … Sollte mir das keine Angst machen?

DÜCKERS: Bist Du selber auch schon, als Jude, als engagierter Schriftsteller, der auch essayistische Texte verfasst, sich regelmäßig öffentlich zu Wort meldet, beleidigt bzw. Ziel von Hate Speech geworden?

VERTLIB: Ja. In Leserbriefen. In sozialen Netzwerken. Manchmal auch unterschwellig oder durch unbedachte Bemerkungen, deren antisemitischer Gehalt jenen, die sie tätigten, gar nicht bewusst war. Mit „Hate Speech“ für meine politische Haltung bin ich oftmals konfrontiert gewesen. Was mir glücklicherweise bislang erspart blieb, waren tätliche Angriffe oder Drohungen, die ich wirklich ernst nehmen hätte müssen. Einmal schrieb mir jemand auf Facebook: Wir beobachten Sie! Faden im Kreuz." Er nahm diese Drohung aber sofort zurück, als ich scharf reagierte und ihn zur Rede stellte.

DÜCKERS: Ist die Großstadt Wien – hier wird immer linksliberal gewählt - ein bisschen eine Oase für Dich, ein Ort, an dem Du Dich aufgehobener, mehr zuhause fühlst? Oder bekommst Du es hier auch mit Linkem Antisemitismus zu tun?

VERTLIB: Ich lebe in Salzburg und in Wien. Antisemitismus gibt es an beiden Orten und auch anderswo in Österreich. In Wien wird nicht immer und überall linksliberal gewählt. Es gibt Bezirke, in denen die FPÖ fast gleich so stark ist wie die SPÖ oder zeitweise sogar die stärkste Partei. Aber zweifellos ist Wien liberaler und weltoffener als einige andere Regionen in Österreich, und der Zuwandereranteil in Wien ist sehr hoch. 

Mir ist aber klar, dass eine starke und nicht immer zu kontrollierende Zuwanderung problematisch werden kann und die Gesellschaft vor Herausforderungen stellt. Mit linkem Antisemitismus bin ich in Wien genauso konfrontiert wie anderswo. Es gibt aber weiterhin einen rechten Antisemitismus und einen Antisemitismus von Musliminnen und Muslimen. Es gibt Unterschiede, aber auch Überlappungsbereiche dieser Antisemitismen. Das verstärkt den Antisemitismus insgesamt. Man darf nie vergessen, dass sich negative und destruktive Gefühle und Verhaltensweisen meist gegenseitig verstärken. Das Negative verbreitet sich wie ein Virus; verschiedene Zugänge zum selben negativen Gefühl schließen sich selten aus. Aber ja, ich fühle mich in Wien mehr zu Hause als anderswo, in erster Linie deshalb, weil ich einen Teil meiner Kindheit und Jugend hier verbracht habe und viel Persönliches mit dieser Stadt verbinde. 

DÜCKERS: Wurde der Linke Antisemitismus, den zum Beispiel die Berliner Wochenzeitung Jungle World seit ihrer Gründung Ende der 90er Jahre immer wieder – gewissermaßen einsam in der Wüste – untersucht und angeprangert hat, lange Zeit unterschätzt? Weil Linke ja angeblich keine Vorurteile haben? Hat der Linke Antisemitismus nach dem 7. Oktober zugenommen?

VERTLIB: So ist es. Beides stimmt. Der linke Antisemitismus wurde lange unterschätzt, obwohl schon Jean Améry vor fünfzig bis sechzig Jahren darüber geschrieben hat (seine Analysen und Schlussfolgerungen treffen auch heute noch zu), und nach dem 7. Oktober 2023 hat der linke, so wie auch der rechte Antisemitismus sehr stark zugenommen. In manchen Kreisen ist es geradezu schick geworden, Israel zu hassen und Juden Völkermord vorzuwerfen.

Der Vorwurf des Völkermordes an Juden entlastet für manche indirekt ein wenig die eigenen Vorfahren, die als NS-Verbrecherinnen und Verbrecher direkt oder indirekt am Holocaust beteiligt waren. Dieser Gedanke bzw. dieses Gefühl folgt der irrationalen, zutiefst unmoralischen, aber psychologisch und emotional erklärbaren Vorstellung: Wenn die Juden“ selbst einen Völkermord begehen, dann können die Verbrechen des eigenen NS-Groß- oder Urgroßvaters nicht ganz so einmalig und schlimm gewesen sein, zumal Juden nicht ganz so unschuldig und makellos sind.

DÜCKERS: Ein Großteil Deiner Familie lebt in Israel. Wie gelingt es Dir mit der ständigen Sorge um sie zu leben? Bist Du im regelmäßigen Austausch mit einem Teil von ihnen?

VERTLIB: Ja, ich bin im Austausch mit ihnen. Eine Cousine von mir lebt in Haifa, eine andere Cousine zweiten Grades mit ihrer Familie in Aschdod. Die eine muss sich vor Raketen der Hisbollah schützen, die andere vor denen der Hamas. Wie es mir gelingt, mit der ständigen Sorge um sie zu leben? Ich kann es nicht erklären bzw. werde es erst später, nach dem Krieg, aus einer zeitlichen Distanz heraus erklären können. Vermutlich gelingt mir das gelegentliche Verdrängen und Vergessen ganz gut. Arbeit hilft, etwas Nützliches zu tun hilft; Fernsehserien, die von Streaming Diensten angeboten werden, helfen aber auch manchmal. Ablenkung und Zerstreuung können in schwierigen Zeiten ab und zu hilfreich sein.

DÜCKERS: Du hast Dich als Citoyen wie als Schriftsteller viel für Geflüchtete eingesetzt. Als Vertreter einer Minderheit hast Du Dich mit offenem Ohr und Herz für andere Minderheiten“ stark gemacht. Vermisst Du mehr Solidarität der Minderheiten untereinander? Hast Du den Eindruck, dass Minderheiten politisch gegeneinander ausgespielt werden? 

VERTLIB: Ja, es wäre schön, wenn es mehr Solidarität unter Minderheiten gäbe. Aber ich bin Realist. Angehörige von Minderheiten sind keine besseren Menschen. Sie kommen mit ihren eigenen Vorurteilen, Klischees und (zum Teil sehr schlimmen) Erfahrungen nach Mitteleuropa, und nur wenige schaffen es, diese Vorurteile innerhalb kurzer Zeit zu überwinden und abzulegen.

DÜCKERS: Du gehörst Du den Schriftstellern, die den Kontakt zum Publikum, gerade auch in Bildungseinrichtungen, suchst. Du hast über Deine Erfahrungen an Schulen berichtet, zum Beispiel darüber, dass viele junge Menschen keine Ahnung haben, was am 7. Oktober passiert ist. Siehst Du es auch als Deine Aufgabe als Schriftsteller an, erinnerungspolitische Aufklärungsarbeit zu leisten? 

VERTLIB: In erster Linie ist dies meine Aufgabe als politischer Mensch, der in der Öffentlichkeit steht und etwas zu sagen hat. Wäre ich Maler oder Musiker würde ich wahrscheinlich dasselbe anstreben, und nur meine Methoden der Übermittlung wären andere.

DÜCKERS: Es gibt antisemitischen und antimuslimische Ressentiments. Würdest Du Dir mehr Zusammenarbeit zur Bekämpfung beider Phänomene wünschen? Wie beurteilst Du diese Situation, auch im Kulturbetrieb, als Schriftsteller und Publizist?

VERTLIB: Das tu ich selbst schon längst. Schon vor Jahren habe ich das Projekt "Zwei Moslems und Jude" mit zwei muslimischen Kollegen, einem Syrer und einem Bosnier, gestartet. Inzwischen haben wir eine andere Zusammensetzung, aber unsere Ziele sind dieselben: eine Kollegin aus Bosnien, ein Kollege aus dem Sudan und ich organisieren Workshops für Jugendliche in Schulen, um ganz allgemein Vorurteile aufzubrechen, Antisemitismus, aber auch Islamophobie und Rassismus entgegenzuwirken. Die Kollegin und der Kollege sind aber nicht im Kulturbereich tätig. Im Kulturbereich würde ich mir in der Tat mehr Projekte in diese Richtung wünschen. 

DÜCKERS: Immer wieder erscheinen wissenschaftliche und feuilletonistische Beiträge über Jüdische Literatur“. Kannst Du mit diesem Betriff etwas anfangen, wie ordnest Du Dich hier ein, siehst Du Dich als Teil einer Tradition?

VERTLIB: Das war mir, ehrlich gesagt, nie besonders wichtig. Es war und ist mein primäres Anliegen, gute und spannende Texte zu schreiben, die Leserinnen und Leser unterhalten, zum Nachdenken anregen, berühren, im Optimalfall vielleicht sogar erschüttern und/oder begeistern können. Selbstverständlich ist es mir recht, wenn meine Literatur der "Jüdischen Literatur" zugerechnet wird. Ich bin Jude und schreibe oft über Juden, über jüdische Schicksale oder jüdische Identitäten. Die Diskussion, was denn "Jüdische Literatur" nun genau bedeutet - Literatur von Jüdinnen und Juden ganz allgemein; Literatur von Jüdinnen und Juden zu jüdischen Themen; Literatur von Jüdinnen und Juden und von Nichtjüdinnen und Nichtjuden zu jüdischen Themen? - überlasse ich gerne den Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftlern.

Ich selbst sehe mich nicht unbedingt als Teil einer jüdischen Tradition. Wahrscheinlich oder ganz bestimmt stehe ich aber in einer bestimmten Erzähltradition - einer russischen, einer jüdischen, einer österreichischen, einer amerikanischen ... Das hat etwas mit meiner Sozialisation und mit meinen Interessen, mit meiner Biographie, meinen Erlebnissen und Leseerfahrungen zu tun, nicht aber mit einer bewussten Entscheidung.

DÜCKERS: Danke, das ist sehr interessant. Welche literarischen Methoden, welche Stilistik, welche Form von Humor vielleicht empfindest Du in Deinem Werk als Rekurs auf eine Tradition? Oder siehst Du diese Nähe eher in der Wahl der Themen, Deinem Schreiben (nicht immer, aber oft) aus der Perspektive von Juden?

VERTLIB: Mein Schreiben ergibt sich aus meiner literarischen Sozialisation, aus meinem Geschmack und meiner Intuition. Ich folge aber keiner Programmatik. Einen bewussten Rekurs gibt es nicht. Am ehesten kann ich in meinem Schreiben die Prägung durch russische Erzählerinnen und Erzähler der klassischen Moderne wie Tschechow, Babel und Bulgakow, Zwetajewa, Ginsburg und Bergholz erkennen. Manche Kritikerinnen und Kritiker haben meinen Stil aber auch schon mit jenem von Josef Roth oder Isaak Bashevis Singer verglichen. Vielleicht bin ich ja doch jüdischer, als es für mich selbst erkennbar ist …

DÜCKERS: Welcher Deiner Romane ist Dir besonders ans Herz gewachsen, welchen möchtest Du den Leserinnen und Lesern der deutsch-jüdischen Gespräche besonders empfehlen?

VERTLIB: Mir sind alle meine Romane gleichermaßen wichtig. Sie sind alle ein Teil von mir, sie sind mir alle ans Herz gewachsen. Besonders empfehlen möchte ich den Leserinnen und Lesern dieses Interviews aber meine letzten beiden Romane Die Heimreise und Zebra im Krieg (Residenz Verlag, Salzburg-Wien)!

DÜCKERS: Zu guter Letzt: Woran arbeitest Du jetzt? Worauf können wir uns freuen?

VERTLIB: Im Frühjahr 2025 soll im Verlag Edition Tandem, Salzburg, ein Essayband von mir erscheinen - größtenteils schon publizierte Aufsätze, Essays, Berichte, Porträts und Rezensionen der letzten Jahre. Der Titel des Bandes lautet: Juden sind auch nicht anders. Für den Herbst 2026 ist ein neuer Roman von mir geplant - wieder im Residenz Verlag, Salzburg-Wien. Es handelt sich um ein historisches, ein österreichisches und ein jüdisches Thema. Mehr möchte ich im Augenblick noch nicht verraten.

DÜCKERS: Vielen Dank für das Gespräch!