„Langzunge namens Blattnase“. Von Nora Zapf

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Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Nora Zapf (*1985 in Paderborn) lebt als Lyrikerin und Übersetzerin in München und Innsbruck. 2021 erschien ihr Band Dioden, wie es Nacht (vierhändig). Mit der folgenden Kurzgeschichte beteiligt sich Nora Zapf an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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- Musste ich also in dieses Hotelzimmer in X fahren, um zu erfahren, was passiert war?, Weg aus Y? fragte sich die Fledermaus und schwang den Bogen auf. 

Aus ihren magischen Augen schaute sie sich um im kargen, düsteren Zimmer, sah im Ganzkörperpiegel am Schrank aus den Winkeln die Leuchtschrift von gegenüber spiegeln: MER…1

- also, musste ich? durch rötliche Äderchen blickte sie um sich, wie Blätter, die sich unsichtbar über ihre Augen gelegt hatten. 

- Ich sehe auch am Tag. (Das haben seit Längerem Forscher herausgefunden), hatte sie am Telefon zu ihm gesagt – sie war auf Geschäftsreise. Auch wenn ich dabei etwas in der Luft hänge, gab sie zu. Er hatte es nicht geglaubt und jetzt glitzerte ein Staubteilchen im Hotelzimmer auf, wirbelte wie auf Abruf. 

Sie rührte in ihrem Glas mit einem Bambusstäbchen. Sah gedankenverloren auf den Rahmen des Fensters, den mit Staub gelben Vorhang, der lang nicht gelüftet war, von anderen Händen verschoben. 

- Was tu ich hier? Das war das Entscheidende. Sie schrieb die Frage auf, als hätte das Notizbuch eine Ahnung. So banal es war, ohne diese Frage zu beantworten käme sie nicht wieder aus diesem Zimmer, heraus aus der Stadt. Es sollte ihr auf einen Ausweg helfen bzw. sie auf eine Erklärung bringen. 

Aber was war passiert? Auf der Fahrt von Y nach X waren Gedanken in ihr hochgebrodelt wie Suppe, zäh zu pürieren. Die Szene einer Lampe, die zuckte, umfiel, Glas mit sich riss, mit ihrem Umfallen die Tür dahinter aufschlug und mit dem Aufprall fast ganz öffnete. So viel Krach, sie war beim Gedanken einen Schritt nach hinten gerückt auf dem Sofa in der Wohnung damals, unmerklich rutschte sie auch jetzt zurück auf dem Stuhl. Sie saß auf einem hässlichen Bürostuhl, der den Anschein von Sauberkeit geben sollte, man könne auf ihm in aller Ruhe denken. 

Sie bückte sich: etwas Kleines war ihr plötzlich aus der Tasche gerutscht: ein schuppiger kleiner XXX, viel zu verkümmert eigentlich, als dass man ihn normalerweise eingesammelt hätte, vielmehr hätte man ihn komplett unberührt am Straßenrand/im Unterholz liegen lassen sollen. Doch: er hatte sie gerührt, ganz harmlos da liegend, so krumm geformt, wohl duftend. Sie wollte ihn mit sich tragen wie einen klingenden Ort, an den sie gehen würde. Mit dem Ding in der Tasche kam sie der Umgebung der Gegenwart ferner und der Gegend der Vergangenheit näher. Sie konnte nicht zurück. 

Ihre Augen, das konnte sie nicht verhindern, das hatte mit den Äderchen zu tun, speicherten wie ein Labyrinth alles, was sie sahen, vergaßen dabei aber, Zeit, Ort, Namen. 

Nach der zerdepperten Lampe, die fast auf den Bauch gefallen wäre, sich aber wieder berappelte und längst im Keller neu ausgerichtet hatte, hinter Gittern – in Gefahr unendlichen Lichts! eine eingedellte, blutige Stirn, wurden ihr gelb-grüne Blumen geschenkt, Orangenblüten, sie saugte wie süchtig ein paar Sekunden mit der Nase daran, förmlich mit dem Rüssel rühren, als wollte sie bestäuben. Die Stempel rauchten köstlich vor sich hin wie kleine Fabriken.

- Danke, musste sie nicken und gab ihm damit unrecht.

- Was war nochmal eben dein Thema?, unterbrach er ihr Gespräch ohne hinzusehen. 

- die Lampe, erwiderte sie. Ich mochte immer ihren Wohnraum, wie Keller riechen wie nach feuchtem Abstieg… sie strich ihm gedankenwirr über die Hand, weich waren sie, noch warm und duftend von den abgelieferten Blumen, schimmerten fast frühlingsgelb. Diese Blumen waren der Beweis.

- du sprichst übrigens nicht über eine Lampe, sondern über einen Stuhl. Es gab keine Beleuchtung daran, nur vier Beine, sagte er und fuhr ihr liebevoll zurück über die Schulter. 

- ach so stimmt, es war so ein seltsames Wesen, schlich sich auch vom Platz weg, an den man es gestellt hatte, sein Unheil trieb auf Kniehöhe. 

Durch das Fenster sah sie die Leuchtschrift flackern… eine Insel aus in Stricke gerissenem Licht. Ihre Hand sein Schweifen. Erinnerte sich auf die Härchenhaut. Wie seine Hände immer wieder ein Buch umklammert hielten, einen Anker in Gedanken. Als holte sie mit Blicken aus und er müsste sich mit aufgeklapptem Schild schützen. 

Eher war es, wenn sie nachts auf der Straße um sich sah, war sie froh, etwas zu erkennen, denn sie musste als Säugetier Raub abwehren. Ihre Fingernägel schlugen ein über die wie eine Strumpfhose eng anliegenden Schuppen vom XXX. 

Ein einäugiger Gin sicherte ihr durch die Kehle zu, dass sie am Leben war und schwankig saß. Eine verklinkerte Mauer blendete sie an all das Unverfugte, bis an die Schmelzgrenze. Sie schaute wieder aus frischeren Augen, ging dem Ganzen noch einmal nach. 

- Was machst du?, hatte ihre Mutter immer wieder drängend gefragt mit lauter Stimme, fast spuckend. Aber wenn sie schrieb, wollte sie nicht nach Außen schauen. 

Ihre stille Antwort fuhr wie Stacheln oder spitze Zähnchen ins Zimmer: komm nicht näher. Die Beine und Arme der Angegriffenen schlugen dann oft hilflos nach oben, aber es nützte nichts. 

Im Moment saß sie in Gedanken wieder auf dem Lampen-Stuhl wie auf einem wackligen Boot. Später flog der Stuhl ja auch. In der Wohnung ging kein Wind. 

Das Problem mit diesen Augen, die viel sahen, war, dass sie nicht nur von innen nach außen, sondern auch andersrum schauten: sie konnten genau beobachten, wie er von oben die Hände auf ihre Schultern drückte wie unter Druck und dass sie den Stift absetzte, auch wie die Schwester sich ihr liebevoll näherte, ihr die Strähne wegstrich, oder wie die lästige Fliege sich aufs Glas vor ihr setzte, ihren Schlund von Nahem betrachtend. Auch wie die Mutter ihren erhobenen Stift am liebsten einfach abgegriffen hätte, zum Schein als würde sie sie schützen, aber eigentlich, damit sie endlich aufräumte in ihrem kleinen Leben und nicht so ein Chaos um sie herum mehr war. 

Sie konnte nicht an sich vorbeigehen, ohne diesen magischen Blick von anderen auf sich zu richten. 

Eine lange Zunge befühlte ihre spitzen Zähnchen, die sich mal nach innen, mal nach außen richteten wie die vielen Zahnreihen eines Hais. Aber an der Oberfläche blieben. 

Gerade saugte sie allerdings eine 98 Jahre alte2 Frau ohne Zähne eine Cocktailtomate aus im Hotelzimmer, aus der braunen Papiertüte vom Markt um die Ecke rollten ihr noch mehrere rot und klein entgegen. Sie durchforstete beim Tomatenessen die Blicke derer, die beim Vorbeigehen auf ihr Hotelzimmer von außen blickten wie man durch einen Wald steigt. Sie dachte an die schönen Augen ihrer Tochter, suchte nach ihnen im Gehölz. War Vorwurf in ihnen?  

- Ich steh auf der Roten Liste, hatte sie auch einmal zu ihm gesagt; er fragte, die Augen nach oben gezogen, was? 

- Ich bin manchmal nicht sicher. – Ach. 

- Als ich dich mit Biss in den Tag weckte, weißt du noch? Ja, nun war er begeistert und sah hoch, ein bläulicher!

Aber sie schreckte wie im Traum zurück, besann sich auf das Notizheft vor ihr, sie wollte doch die Szene verstehen, darum ging es, um aus dem Zimmer endlich aufstehen zu können. 

Auf einmal hing ihr Blick im Spiegel fest, der gleichermaßen Reklamefetzen wie auch Bad war mit rutschigem Boden. 

Es war am Abend und zu der von Algorithmen vorgeschlagenen Veranstaltung wollte sie ohnehin nicht gehen, es wären dann so viele literarische Gruppen, die in kleinen Kreisen stünden, und sie müsste sich irgendwo anschleichen und einschummeln, als gehörte sie dazu. Wovon wirklich keine Rede war. Als robbte sie vom wackelnden Ende eines Ästchens in Richtung stabile Krone.

Sie wollte gerade nicht sehen, was diese von ihr sahen, kniff die Äuglein zu. Meine nach vorn gerichteten Nikotinfinger, eingekerbt wie Rinde, krallten sich fest ins Papier, das Sims des Nagelfleisches am blitzblanken Hoteltisch – 

stellen, das es einmal so gewesen war (ich hatte jetzt aus Versehen eine Seite überschlagen, hier ging der Text also weiter) – gewesen war. 

Kurz war es ihr, als trüge sie schwer, die Flügel hingen wie leere Einkaufstaschen von ihrem Rücken. Der Tresen ihrer Lieblingsbar fehlte ihr jetzt wie ein Klopfen, das lange Nachtsehen. 

Sein liebevolles Streichen über ihre Schulter erschien ihr in diesem Licht und mit Abstand wie ein grober wütender Ausrutscher, zugleich (– wieder Seite frei gelassen –) war ihr Streicheln seiner Hand eigentlich ein Krallen gewesen, sie hatte ihn damit gestraft, weil er um sie herum eine so große Ruhe verursacht hatte. Müde Flügel formten einen schuppigen Schatten. 

Alle neuen Wände waren Verwandlungen für sie gewesen, sie wollte entkommen. Wie der Junge, der irgendwann auf Dächern lebte, sich das Gerippe der Stadt aus Sternenperspektive ansah. 

Das letzte Mal, als sie die unruhige Freundin getroffen hatte, waren ihr unter deren Shirt an Stelle der Schulterblätter größere Knubbel aufgefallen, wie Stümpe von Flügeln. Beide hatten nicht davon gesprochen. Sie hätte die Stümpe gern geküsst. 

- Ach herrje, auf einmal musste sie an den letzten Kuss der Mutter denken, der wie ein Schlag ins Gesicht kam, auf die Backe. Sie zuckte zurück, der Stuhl atmete heftig unter ihr. 

Hatte die Mutter den Stuhl oder die Lampe umgeworfen in ihrer Wohnung? War das die Lösung? 

Ihre Krallenhände erinnerten sich plötzlich, dass sie ausgebrannt den schweren Gegenstand, Lampe oder Stuhl, selbst hochgenommen und weggeschleudert hatten und damit die Tür und die andere Stirn verletzt. Wie die Glasfetzen durch die Wohnung flogen, roch sie jetzt noch. 

Sie nickte. Das war es also. 

Langsam zog sie mit dem Stift die Farben der Vögel nach, die sie bunt mit ihren Rufen ins Notizbuch zeichnete: La creación de las aves. Die gemalten Flügel sollten helfen, sich vom Papier zu erheben. Das Licht am Bildschirm vor ihr flackerte aufs Papier, ließ die Atome tanzen. Sie malte zu kleinen Flügeln große Schnäbel, dann setzte sie den Stift ab, richtete sich auf, stieß sich vom Boden ab, machte elegant die Drehung auf den Kopf und hing sich mit ihren Krallen in den alten Kronleuchter, der künstlich an der Decke hing. Im Spiegel war der dunkle Flügelkörper jetzt umgekehrt zu sehen.

 

[1] oder hieß es MAS…? es verrutschte regelmäßig.

[2] oder 102?