„Nichts beginnen“. Von Pauline Füg
Pauline Füg (* 1983) aus Fürth ist Autorin, Poetry Slammerin und Psychologin. Sie erhielt u.a. 2011 den Kulturpreis Bayern, 2015 den Kulturförderpreis der Stadt Würzburg, 2020 das Literaturstipendium des Freistaats Bayern und 2021 den Anerkennungspreis des PEN/Akademie für gesprochenes Wort. Im Juni 2022 wurde sie zur Künstlerin der Metroplregion Nürnberg gekürt. Ihr Wissen gibt sie in Schreibwerkstätten sowie in Kreativcoachings weiter. Sie organisiert regelmäßig Literaturveranstaltungen und fördert junge literaturbegeisterte Menschen. Füg arbeitet gerne interdisziplinär. In ihrem Projekt großraumdichten arbeitet sie mit DJs zusammen, und performt ihre Lyrik- und Spoken Word-Texte mit elektronischen Beats. Mit dem Klangkünstler Burkard Schmidl zusammen beschäftigt sie sich in einer Installation mit der Varianz von Gedichtzeilen. Im Herbst 2021 ist ihr zweiter Lyrikband nach der illusion im Lektora Verlag erschienen.
Mit dem folgenden Text beteiligt sich Pauline Füg an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
*
Im letzten Herbst machte ich sehr oft salziges Popcorn. Ich gab Öl in eine Pfanne, schüttete den klackenden Mais hinzu und wartete. Manchmal wartete ich zu lange. Bis die unterste Schicht schon schwarz war und alles nach explodierter Tankstelle roch. Dann aß ich das, was obenauf lag ohne Zucker oder Salz, weichte die Pfanne ein und wusch schließlich sehr sorgfältig die teflonbeschichtete Innenseite.
Meistens war das das erste, was ich tat, wenn ich aufstand. Und meistes war mir danach langweilig.
Oft ging ich auch raus und suchte den Rinnstein nach Cent-Stücken ab, das habe ich schon als kleines Kind getan. Das bringt Glück, glaubte oder hoffte ich.
Abends kam dann oft Noah vorbei. Er ist ein paar Jahre älter als ich, er studiert mit mir, ich weiß nicht, wie alt er genau ist und ob er überhaupt Geburtstag hat. Wir saßen dann auf dem Boden und sahen uns an, ich glaube, Noah wollte mir manchmal sagen, dass er mich liebt, aber dann schluckte er die Gegenwart dieser bedeutenden Worte zurück und bekam Sodbrennen. Ich liebte Noah nicht. Ich küsste ihn manchmal oder schlief mit ihm oder ging mit ihm auf Partys. Es gab Zeiten, in denen hielt mich Noah in den Armen und ich wünschte mir, ich könnte mich in ihn verlieben, dann würden wir heiraten und alt werden und alles wäre gut oder vielleicht sogar fantastisch. Noah nahm oft meine Hand und ich überließ sie ihm gerne, damit ich nicht mehr auf meinen Nägeln rumbeißen musste. Das tat dann Noah für mich. Damit er nicht mehr auf seinen Nägeln herumbeißen musste.
Jetzt liege ich nachts wach, ich sehe die Risse und Spinnen an der Decke. Ich denke dann zurück an letzten Herbst, an den grünen Schal, den ich immer trug, an die Zeit, die Noah und ich verbrachten am November-Strand.
Ende November stand Noah vor meiner Tür – ich hatte den Mund gerade voller versalzenem Popcorn –, zerrte mich in sein Auto, versperrte die Türen von innen und fuhr los. Das Auto war sehr alt, ich weiß nicht, welche Marke, es machte komische Geräusche, es könnte eine Wartburg gewesen sein. Ich erinnere mich noch, der Kofferraum befand sich vorne, hinten der Motor, alles war seltsam, wir beide darin, meine Hand in Noahs Schoß, seine Augen halb geöffnet, er sah aus wie ein Meerschweinchen, das man streichelt, eines mit langen Haaren und unendlich vielen Wirbeln, seine dunkelbraunlockigen Haare rahmten vibrierend sein Gesicht. Wir fuhren durch Alleen, immer geradeaus, ab und zu tankten wir, wir sprachen kein Wort, mal bezahlte Noah, mal ich, mal verschwanden wir gemeinsam auf der Toilette, kamen getrennt wieder zurück, sahen uns hektisch um, nahmen nur die schwarzen Eichhörnchen wahr, außer uns.
Wir hörten Beatles, immer nur Beatles, die ganze Zeit, fast immer. Stundenlang –
Happiness is a warm gun, verstehst du, Das weiße Album. Wir schliefen im Auto, ich tat als könnte ich ruhig atmen, Noah neben mir, ich war mir sicher, er träumte von uns, sein Gesicht war schmerzverzerrt. Am nächsten Morgen sagte er: „I need a fix ´cause I´m going down.“ Ich sah ihn an, verständnislos, aber verstehend: die Beatles.
Ich schüttelte mir den Mond aus den Ärmeln, meine Augen gewöhnten sich gerade an den Wind und die Welt, murmelte, „Brötchen holen“, und verschwand. Wir hatten irgendwo in irgendeinem Dorf geparkt, ich habe annähernd alles vergessen, auch wie es hieß, schnell fand ich einen Laden und kaufte mindestens zehn Schokocroissants, die schenkte ich Noah. Er schenkte mir die Hälfte davon zurück und wir tranken Wasser und küssten uns schokoladig.
Als wir weiter fuhren lief wieder Musik. Fast unhörbar drang sie aus dem Kassettendeck.
Landstraßen, Trauerweiden, Pappeln, verlorene Kastanien. Laub schon, ach, immer noch, es war ja November. So etwa alle 17 Minuten sah ich Noah von der Seite an, seine schmale Nase, die hohen Wangenknochen, ich weiß nicht mehr, war er rasiert, die spröden, vollen Lippen; farblos, erwartungsvoll. Er fuhr immer genau 100km/h, einige Male überholte er, auch in Kurven, ich schrie dann kurz auf, versuchte mir die Augen zuzuhalten und ließ mich von der Furcht in den Sitz zurückpressen.
In der zweiten Nacht fror ich, wir stritten uns, ich wollte keine Musik mehr, auch nicht leise, schließlich schlief ich ein, wachte dann auf, neben mir ein leerer Platz. Panisch öffnete ich die Autotür, sprang – noch in den Schlafsack gewickelt – in die Wiese, ich muss verrückt gewesen sein, sprang wie eine Irre schreiend durch das frostfeuchte Gras. Schälte mich halb rennend aus der Wolfskin, immer angstvoller nach Noah suchend. Ich rief solange bis ich nicht mehr wusste, was das Wort – sein Name, war es ein Name? – bedeutete.
Ich versuchte zu lachen. „Noah“, schrie ich, „komm, du darfst dann auch John Lennon hören, stell dir vor, dann würden wir im Auto sitzen und du darfst deinen Kopf auf meinen Bauch legen.“
Hinter jedem Busch vermutete ich meinen fernen Begleiter, Galaxis-Mitreisenden, Weltenbeschützer. Nirgends.
Ich weinte.
Ging hilflos zum Auto zurück und da lag Noah, silberzart schlafend, ich glaube, er lag da die ganze Zeit, ich hatte einen wachgewordenen Albtraum erlebt.
Wie Noah es getan hatte, als wir losgefahren waren, zu Beginn unserer Reise, so verriegelte ich nun die Türen von innen, verdunkelte dazu noch die Fenster mit meiner Kleidung. Die Nacht sollte draußen bleiben oder hier drin meine eigene, ich wusste es nicht, bezweckte ich irgendetwas damit?
Mein Schlafsack war noch außerhalb meiner erschaffenen neuen Welt, auf der Wiese, ich fror, ich wollte Noah nicht wecken.
Ich betrachtete ihn zweifelnd, liebend, verlierend, sehend, blind.
Wurde es draußen hell?
Aus dem Verbandskasten nahm ich die gold-silbrige Rettungsdecke, wickelte sie um mich, meinen popcornen Körper – blieb die Wärme nicht haften? –, legte meinen Kopf an Noahs rechtes Ohr und hörte mich in seine Träume ein.
Wir hatten Zeit. Wir hatten so unendlich viel Zeit. Wir rasteten oft; auch in den Augen des anderen.
Meine: blau, comicfigurenartige weiße Flecken um die Pupille, ich sah aus als kämen gleich Sprechblasen aus meinem Gehirn, über meiner Stirn ein riesiges Fragezeichen in einem Ballon, alles sonst blau, erschreckend blau, manchmal blaugrau, am Meer dunkelblau vergänglich, nie aber kalt.
Noahs: hellgrün meistens, wenn er wütend war dunkel; sonst immer hellgrün, alles reflektierend, die Zeit, das Ziel, alles war grün. Und wenn ich Glück hatte, sah ich den schwarzen Ring um seine Iris, selten, manchmal, fast nie.
Das Weiß unserer Augäpfel erschreckt mich noch jetzt von Zeit zu Zeit, wenn ich in den Spiegel blicke, aber es berührt mich nicht.
Jetzt möchte ich deine Briefe nicht mehr lesen, Noah. Es geht einfach nicht, selbst wenn ich es versuchen will, ist mein Kopf voller Nebel, der sich um deine Wörter legt.
Wieder zurück mit der Erinnerung, ich sehne mich an den Novemberstrand.
Am Morgen nach der Nacht, in der ich verzweifelt Noah gesucht hatte, obwohl er die ganze Zeit da gewesen war, sprach ich kaum etwas. Mein Kopf war leer und ich dachte, er würde gleich wie eine Kaugummiblase zerplatzen und überall klebrige, rosa Gedanken zurücklassen. Ich fühlte mich nicht krank, aber ich hätte gerne Fieber gehabt; so aber gab es keine Ausrede für mein Schweigen.
Wortlos entfernte Noah bei Sonnenaufgang die Kleidungstücke von den Scheiben, lies den Wagen an, imagine all the people living for today, und wir fuhren in den großen, grauen Tag hinein, sehr still.
Es regnete nicht, aber die Luft umarmte das Auto herbstverloren, ich wartete, dass Noah mich fragen würde, irgendetwas, aber er blickte wie der Held eines Stummfilmes geradeaus, manchmal auch kontrollierend auf den Tacho. Er dachte schon nicht mehr an die Nacht.
Nach einigen Stunden wurde es mir zu mühsam in Gedanken die Strecke zu verfolgen, die wir fuhren. Ich hatte nicht das Bedürfnis zu wissen, wo ich mich wann befand.
Jetzt denke ich manchmal, dass ich alle Verantwortung, alle Schuld und alle Konsequenzen Noah übertragen wollte. Woran lag das? War es: das Leben, immer das Leben, die ganze Zeit das Leben, immer trug ich es, musste ihm ein Heim auf meinen Schultern bieten, ohne selbst im Besitz eines zu Hauses zu sein; irgendwie.
Vielleicht war es das.
Wir waren seit zwei Tagen unterwegs, ich fragte nie nach dem Ziel oder dem Sinn. Ich ließ Noah gewähren, wohin, dahin.
Oft setzte ich an, ihn zu fragen, wollte wissen, was die Ursache seines plötzlichen Aufbruchs gewesen war und wie lange er noch – Zeit? – (und vor allem wohin er) fahren wollte. Mit mir gewissermaßen im Kofferraum als Handgepäck. Als schweigende Begleitperson, die ungefragt jederzeit Geld abhob, um eine weitere Tankfüllung zu bezahlen, die uns immer weiter weg – nach vorne – bringen sollte.
Diese stundenlangen Fahrten mit taubeschlagenen Scheiben durch die Alleen.
Eines Morgens plötzlich:
Wir waren nachts lange gefahren und nun: das Meer.
Das. Meer.
Noah sah mich an als ob das alles wäre, was es zu sagen gäbe, er schwieg, sagte schweigend: „Das ist es.“
Die Luft war so schwerelos leicht und tief gleichzeitig.
Ich sank in den kalten, gelbkörnigen Sand, meine Finger suchten den Strand nach Gegenwart ab. Immer wieder die Gischt, Brandung, das Geräusch zersplitternder Wellen an den Felsen und wir.
„Wir können wieder los“, sagte Noah nach einiger Zeit, in der wir nur den Horizont betastet hatten. Ich folgte ihm durch die Dünen zurück zum Auto.
Auf der Rückfahrt machten wir kaum Pausen, wir sprachen noch weniger als vorher, als wäre alles gesagt. Ich erinnere diese Fahrt kaum, alles verschwamm zu grauem Asphalt, als wäre die Strecke eine andere als auf dem Weg ans Meer.
Noah setzte mich an meiner Wohnung ab, danach hörte ich für eine lange Zeit nicht mehr von ihm. Heute Morgen dann sein Brief. „Ich fahre wieder dorthin.“ stand da geschrieben. „Dieses Mal ohne dich. Dieses Mal kehre ich nicht um. Was wäre geworden, wenn wir beide dortgeblieben wären?“
Das Popcorn, dass ich machte, schmeckte salziger als im November damals. Den Brief hielt ich vorsichtig in die Gasflamme des Herdes, bis nichts mehr übrigblieb, außer einem leisen Klacken.
„Nichts beginnen“. Von Pauline Füg>
Pauline Füg (* 1983) aus Fürth ist Autorin, Poetry Slammerin und Psychologin. Sie erhielt u.a. 2011 den Kulturpreis Bayern, 2015 den Kulturförderpreis der Stadt Würzburg, 2020 das Literaturstipendium des Freistaats Bayern und 2021 den Anerkennungspreis des PEN/Akademie für gesprochenes Wort. Im Juni 2022 wurde sie zur Künstlerin der Metroplregion Nürnberg gekürt. Ihr Wissen gibt sie in Schreibwerkstätten sowie in Kreativcoachings weiter. Sie organisiert regelmäßig Literaturveranstaltungen und fördert junge literaturbegeisterte Menschen. Füg arbeitet gerne interdisziplinär. In ihrem Projekt großraumdichten arbeitet sie mit DJs zusammen, und performt ihre Lyrik- und Spoken Word-Texte mit elektronischen Beats. Mit dem Klangkünstler Burkard Schmidl zusammen beschäftigt sie sich in einer Installation mit der Varianz von Gedichtzeilen. Im Herbst 2021 ist ihr zweiter Lyrikband nach der illusion im Lektora Verlag erschienen.
Mit dem folgenden Text beteiligt sich Pauline Füg an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
*
Im letzten Herbst machte ich sehr oft salziges Popcorn. Ich gab Öl in eine Pfanne, schüttete den klackenden Mais hinzu und wartete. Manchmal wartete ich zu lange. Bis die unterste Schicht schon schwarz war und alles nach explodierter Tankstelle roch. Dann aß ich das, was obenauf lag ohne Zucker oder Salz, weichte die Pfanne ein und wusch schließlich sehr sorgfältig die teflonbeschichtete Innenseite.
Meistens war das das erste, was ich tat, wenn ich aufstand. Und meistes war mir danach langweilig.
Oft ging ich auch raus und suchte den Rinnstein nach Cent-Stücken ab, das habe ich schon als kleines Kind getan. Das bringt Glück, glaubte oder hoffte ich.
Abends kam dann oft Noah vorbei. Er ist ein paar Jahre älter als ich, er studiert mit mir, ich weiß nicht, wie alt er genau ist und ob er überhaupt Geburtstag hat. Wir saßen dann auf dem Boden und sahen uns an, ich glaube, Noah wollte mir manchmal sagen, dass er mich liebt, aber dann schluckte er die Gegenwart dieser bedeutenden Worte zurück und bekam Sodbrennen. Ich liebte Noah nicht. Ich küsste ihn manchmal oder schlief mit ihm oder ging mit ihm auf Partys. Es gab Zeiten, in denen hielt mich Noah in den Armen und ich wünschte mir, ich könnte mich in ihn verlieben, dann würden wir heiraten und alt werden und alles wäre gut oder vielleicht sogar fantastisch. Noah nahm oft meine Hand und ich überließ sie ihm gerne, damit ich nicht mehr auf meinen Nägeln rumbeißen musste. Das tat dann Noah für mich. Damit er nicht mehr auf seinen Nägeln herumbeißen musste.
Jetzt liege ich nachts wach, ich sehe die Risse und Spinnen an der Decke. Ich denke dann zurück an letzten Herbst, an den grünen Schal, den ich immer trug, an die Zeit, die Noah und ich verbrachten am November-Strand.
Ende November stand Noah vor meiner Tür – ich hatte den Mund gerade voller versalzenem Popcorn –, zerrte mich in sein Auto, versperrte die Türen von innen und fuhr los. Das Auto war sehr alt, ich weiß nicht, welche Marke, es machte komische Geräusche, es könnte eine Wartburg gewesen sein. Ich erinnere mich noch, der Kofferraum befand sich vorne, hinten der Motor, alles war seltsam, wir beide darin, meine Hand in Noahs Schoß, seine Augen halb geöffnet, er sah aus wie ein Meerschweinchen, das man streichelt, eines mit langen Haaren und unendlich vielen Wirbeln, seine dunkelbraunlockigen Haare rahmten vibrierend sein Gesicht. Wir fuhren durch Alleen, immer geradeaus, ab und zu tankten wir, wir sprachen kein Wort, mal bezahlte Noah, mal ich, mal verschwanden wir gemeinsam auf der Toilette, kamen getrennt wieder zurück, sahen uns hektisch um, nahmen nur die schwarzen Eichhörnchen wahr, außer uns.
Wir hörten Beatles, immer nur Beatles, die ganze Zeit, fast immer. Stundenlang –
Happiness is a warm gun, verstehst du, Das weiße Album. Wir schliefen im Auto, ich tat als könnte ich ruhig atmen, Noah neben mir, ich war mir sicher, er träumte von uns, sein Gesicht war schmerzverzerrt. Am nächsten Morgen sagte er: „I need a fix ´cause I´m going down.“ Ich sah ihn an, verständnislos, aber verstehend: die Beatles.
Ich schüttelte mir den Mond aus den Ärmeln, meine Augen gewöhnten sich gerade an den Wind und die Welt, murmelte, „Brötchen holen“, und verschwand. Wir hatten irgendwo in irgendeinem Dorf geparkt, ich habe annähernd alles vergessen, auch wie es hieß, schnell fand ich einen Laden und kaufte mindestens zehn Schokocroissants, die schenkte ich Noah. Er schenkte mir die Hälfte davon zurück und wir tranken Wasser und küssten uns schokoladig.
Als wir weiter fuhren lief wieder Musik. Fast unhörbar drang sie aus dem Kassettendeck.
Landstraßen, Trauerweiden, Pappeln, verlorene Kastanien. Laub schon, ach, immer noch, es war ja November. So etwa alle 17 Minuten sah ich Noah von der Seite an, seine schmale Nase, die hohen Wangenknochen, ich weiß nicht mehr, war er rasiert, die spröden, vollen Lippen; farblos, erwartungsvoll. Er fuhr immer genau 100km/h, einige Male überholte er, auch in Kurven, ich schrie dann kurz auf, versuchte mir die Augen zuzuhalten und ließ mich von der Furcht in den Sitz zurückpressen.
In der zweiten Nacht fror ich, wir stritten uns, ich wollte keine Musik mehr, auch nicht leise, schließlich schlief ich ein, wachte dann auf, neben mir ein leerer Platz. Panisch öffnete ich die Autotür, sprang – noch in den Schlafsack gewickelt – in die Wiese, ich muss verrückt gewesen sein, sprang wie eine Irre schreiend durch das frostfeuchte Gras. Schälte mich halb rennend aus der Wolfskin, immer angstvoller nach Noah suchend. Ich rief solange bis ich nicht mehr wusste, was das Wort – sein Name, war es ein Name? – bedeutete.
Ich versuchte zu lachen. „Noah“, schrie ich, „komm, du darfst dann auch John Lennon hören, stell dir vor, dann würden wir im Auto sitzen und du darfst deinen Kopf auf meinen Bauch legen.“
Hinter jedem Busch vermutete ich meinen fernen Begleiter, Galaxis-Mitreisenden, Weltenbeschützer. Nirgends.
Ich weinte.
Ging hilflos zum Auto zurück und da lag Noah, silberzart schlafend, ich glaube, er lag da die ganze Zeit, ich hatte einen wachgewordenen Albtraum erlebt.
Wie Noah es getan hatte, als wir losgefahren waren, zu Beginn unserer Reise, so verriegelte ich nun die Türen von innen, verdunkelte dazu noch die Fenster mit meiner Kleidung. Die Nacht sollte draußen bleiben oder hier drin meine eigene, ich wusste es nicht, bezweckte ich irgendetwas damit?
Mein Schlafsack war noch außerhalb meiner erschaffenen neuen Welt, auf der Wiese, ich fror, ich wollte Noah nicht wecken.
Ich betrachtete ihn zweifelnd, liebend, verlierend, sehend, blind.
Wurde es draußen hell?
Aus dem Verbandskasten nahm ich die gold-silbrige Rettungsdecke, wickelte sie um mich, meinen popcornen Körper – blieb die Wärme nicht haften? –, legte meinen Kopf an Noahs rechtes Ohr und hörte mich in seine Träume ein.
Wir hatten Zeit. Wir hatten so unendlich viel Zeit. Wir rasteten oft; auch in den Augen des anderen.
Meine: blau, comicfigurenartige weiße Flecken um die Pupille, ich sah aus als kämen gleich Sprechblasen aus meinem Gehirn, über meiner Stirn ein riesiges Fragezeichen in einem Ballon, alles sonst blau, erschreckend blau, manchmal blaugrau, am Meer dunkelblau vergänglich, nie aber kalt.
Noahs: hellgrün meistens, wenn er wütend war dunkel; sonst immer hellgrün, alles reflektierend, die Zeit, das Ziel, alles war grün. Und wenn ich Glück hatte, sah ich den schwarzen Ring um seine Iris, selten, manchmal, fast nie.
Das Weiß unserer Augäpfel erschreckt mich noch jetzt von Zeit zu Zeit, wenn ich in den Spiegel blicke, aber es berührt mich nicht.
Jetzt möchte ich deine Briefe nicht mehr lesen, Noah. Es geht einfach nicht, selbst wenn ich es versuchen will, ist mein Kopf voller Nebel, der sich um deine Wörter legt.
Wieder zurück mit der Erinnerung, ich sehne mich an den Novemberstrand.
Am Morgen nach der Nacht, in der ich verzweifelt Noah gesucht hatte, obwohl er die ganze Zeit da gewesen war, sprach ich kaum etwas. Mein Kopf war leer und ich dachte, er würde gleich wie eine Kaugummiblase zerplatzen und überall klebrige, rosa Gedanken zurücklassen. Ich fühlte mich nicht krank, aber ich hätte gerne Fieber gehabt; so aber gab es keine Ausrede für mein Schweigen.
Wortlos entfernte Noah bei Sonnenaufgang die Kleidungstücke von den Scheiben, lies den Wagen an, imagine all the people living for today, und wir fuhren in den großen, grauen Tag hinein, sehr still.
Es regnete nicht, aber die Luft umarmte das Auto herbstverloren, ich wartete, dass Noah mich fragen würde, irgendetwas, aber er blickte wie der Held eines Stummfilmes geradeaus, manchmal auch kontrollierend auf den Tacho. Er dachte schon nicht mehr an die Nacht.
Nach einigen Stunden wurde es mir zu mühsam in Gedanken die Strecke zu verfolgen, die wir fuhren. Ich hatte nicht das Bedürfnis zu wissen, wo ich mich wann befand.
Jetzt denke ich manchmal, dass ich alle Verantwortung, alle Schuld und alle Konsequenzen Noah übertragen wollte. Woran lag das? War es: das Leben, immer das Leben, die ganze Zeit das Leben, immer trug ich es, musste ihm ein Heim auf meinen Schultern bieten, ohne selbst im Besitz eines zu Hauses zu sein; irgendwie.
Vielleicht war es das.
Wir waren seit zwei Tagen unterwegs, ich fragte nie nach dem Ziel oder dem Sinn. Ich ließ Noah gewähren, wohin, dahin.
Oft setzte ich an, ihn zu fragen, wollte wissen, was die Ursache seines plötzlichen Aufbruchs gewesen war und wie lange er noch – Zeit? – (und vor allem wohin er) fahren wollte. Mit mir gewissermaßen im Kofferraum als Handgepäck. Als schweigende Begleitperson, die ungefragt jederzeit Geld abhob, um eine weitere Tankfüllung zu bezahlen, die uns immer weiter weg – nach vorne – bringen sollte.
Diese stundenlangen Fahrten mit taubeschlagenen Scheiben durch die Alleen.
Eines Morgens plötzlich:
Wir waren nachts lange gefahren und nun: das Meer.
Das. Meer.
Noah sah mich an als ob das alles wäre, was es zu sagen gäbe, er schwieg, sagte schweigend: „Das ist es.“
Die Luft war so schwerelos leicht und tief gleichzeitig.
Ich sank in den kalten, gelbkörnigen Sand, meine Finger suchten den Strand nach Gegenwart ab. Immer wieder die Gischt, Brandung, das Geräusch zersplitternder Wellen an den Felsen und wir.
„Wir können wieder los“, sagte Noah nach einiger Zeit, in der wir nur den Horizont betastet hatten. Ich folgte ihm durch die Dünen zurück zum Auto.
Auf der Rückfahrt machten wir kaum Pausen, wir sprachen noch weniger als vorher, als wäre alles gesagt. Ich erinnere diese Fahrt kaum, alles verschwamm zu grauem Asphalt, als wäre die Strecke eine andere als auf dem Weg ans Meer.
Noah setzte mich an meiner Wohnung ab, danach hörte ich für eine lange Zeit nicht mehr von ihm. Heute Morgen dann sein Brief. „Ich fahre wieder dorthin.“ stand da geschrieben. „Dieses Mal ohne dich. Dieses Mal kehre ich nicht um. Was wäre geworden, wenn wir beide dortgeblieben wären?“
Das Popcorn, dass ich machte, schmeckte salziger als im November damals. Den Brief hielt ich vorsichtig in die Gasflamme des Herdes, bis nichts mehr übrigblieb, außer einem leisen Klacken.