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20.09.2024, 11:03 Uhr
Marion Zechner
Neustart Freie Szene – Literatur
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© Heike Ulrich Fotowork

„Herbststadt“. Von Marion Zechner

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Bild von Victor Jr Jomoc von Pixabay

Einer der letzten Sommerabende. Die Abendsonne ist noch warm, aber die Protagonistin fröstelt. Obwohl die Straßencafés voller Menschen sind fühlt sie sich verlassen in diesem Großstadtleben, nach dessen Freiheit sie sich so sehr gesehnt hatte, damals, als sie mit ihrem Kindergartenfreund in eine WG gezogen ist. Nie hätte sie damit gerechnet, dass er sie eines Tages derart aus der Bahn werfen würde.

Mit dem folgenden Text beteiligt sich Marion Zechner an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge finden Sie HIER.

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Sie trat auf die Straße und wusste nicht, wohin. Obwohl die Sonne ihr Bestes gab, konnte sie den Geruch von welkendem Leben nicht vertuschen, und auch das Souflaki und Gyros beim Griechen an der Ecke konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass etwas zu Ende ging. Eine Vespa ratterte in das Lachen und Reden der Wartenden, die die letzten Strahlen nützen und noch einen Platz unter der Laube ergattern wollten. Sie hastete mit gesenkten Kopf vorbei, niemand sollte ihre Tränen sehen. Auf ihren Ballerinas, die sie durch dieses letzte Jahr in der großen Stadt getragen hatten, klackerte sie die Straße hinunter. Das Geräusch erinnerte sie an einen Kiesel in einer Coladose. Früher hatte sie ihr Heimatdorf als Kiesel empfunden, der ihr bei jedem Schritt in ihr eigenes Leben in die Fußsohle piekte. 

Dabei hatte alles so gut angefangen. Der Stift in ihrer Hand hatte gezittert vor Triumph und Erwartung. Eine krakelige Unterschrift, wie von einem Kind, das erwachsen sein spielt. Aber der Mietvertrag war echt. Dann hatte sie den Kugelschreiber weitergereicht an Alex, obwohl sie zunächst versucht hatte, ihn vom Mitkommen abzubringen. Sie wollte das Abenteuer nicht teilen. Sie wollte endlich und das erste Mal in ihrem Leben etwas ganz für sich allein. „Komm schon!“, hatte Alex gesagt. „Wir beide in einer gemeinsamen WG. So, wie wir es ausgemacht haben!“ – „Da waren wir in der Grundschule!“, hatte sie geseufzt, aber Alex hatte nur mit den Achseln gezuckt. „Na und?“ – „Wir sind nicht mehr zehn. Irgendwann muss jeder auch mal eigene Wege gehen.“ – „Wer sagt dir, dass es nicht mein eigener Weg ist?“, hatte Alex geantwortet und ein Schatten von Ernsthaftigkeit hatte sich auf sein Gesicht gelegt. „Ich weiß einfach noch nicht genau, was ich machen will nach dem Abi. Irgendwas mit Sport würde mir gefallen. Auf Lehramt – wieso nicht? Lass es uns versuchen!“

Als sie gemeinsam mit hundertachzig weiteren Interessenten auf der knartzenden Altbautreppe standen und von einem gütig dreinblickenden älteren Herrn herein gewunken wurden, war sie froh, Alex dabei zu haben. 

„Verheiratet?“, war die zweite oder dritte Frage gewesen. Sie hatte auf ihre Ballerinas geschaut und wollte schon verneinen, als Alex ihr zuvorkam: „Noch nicht. Wir wollen erst unser Studium beenden. Aber die Verlobung ist direkt nach dem Umzug geplant.“

„Ich erkenn dich ja gar nicht wieder“, sagte sie kichernd, als sie hinaus auf die Straße traten. „Normalerweise bin doch ich die Verrückte von uns beiden.“ Alex lächelte und errötete. „Die Zeiten ändern sich.“ – „Warte kurz!“, rief sie, sprang in den Supermarkt und kam kurz darauf mit einer Flasche Prosecco wieder heraus. 

Zwei Stunden lang liefen sie durch die Straßen, kreuz und quer, Hand in Hand wie in der Grundschule, als der Fluss sich mächtig unter ihnen auftat. Sie warf eine Münze über die Brüstung – „das bringt Glück“ – und fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben frei. Es regnete inzwischen, das Türkis ihrer Ballerinas war dunkel geworden. Sie zog sie aus und schlenderte barfuß neben Alex hinunter zum Ufer. Sie watete ins eisige Wasser. Ihre Zehen klemmten sich fest an den großen Kieseln, wie sie es achtzehn Jahre lang im heimatlichen Gebirgsbach geübt hatten, und doch war es etwas anderes. „Komm!“, rief sie, zog ihr T-Shirt über den Kopf und warf es ans Ufer. Einen Moment lang fürchtete sie, Alex könnte abrupt ernüchtern und den Vernünftigen geben. „Komm schon! Hier sieht uns keiner!“ Sie stieg hinaus ans Ufer und lächelte wie früher, wenn sie ihn überreden wollte, die Schule zu schwänzen oder nachts über den Zaun des Freibads zu klettern. Alex wandte den Blick ab und wurde schon wieder rot, als er seinen Gürtel öffnete. 

Zwei Wochen später zogen sie ein. Die Verteilung der Zimmer übernahm Alex, indem er seine Kisten in den kleineren der beiden Räume stellte. Sie fiel ihm spontan um den Hals, aber Alex winkte ab: „Wie sollst du sonst dein Monster unterbringen!“ In der Tat hätte ihr geliebter Ledersessel das kleinere Zimmer halb ausgefüllt. Er war zeitlos hässlich, aber das Einzige, das von Oma Hilde geblieben war. 

Obwohl heute, ein Jahr später, noch am Abend die Sonne genügend wärmte, um die Flussauen mit Menschengrüppchen zu füllen, fühlte sie sich an einem Abgrund, der sie frösteln ließ. Ein Schritt weiter und sie würde fallen, in kühle Dunkelheit, aus der es kein Zurück gab.

Vor einem Jahr hatte sie sich auf den Winter gefreut, die Lichter der Weihnachtsmärkte, die die Stadt erleuchteten, Glühweinduft und Menschen mit vorfreudigen Gesichtern, die entspannt zwischen den Buden entlang bummelten. Sie hatte sogar einen Kellnerjob in einem kleinen Café in der Innenstadt ergattert und konnte es kaum erwarten, Tag für Tag Teil des lebendigen Treibens zu sein. Die Erkenntnis, dass die Gesichter der Menschen weder entspannt noch vorfreudig waren, sondern sich nach Feierabend als namenlose Masse durch die engen Gassen schoben, Kinder nach ihren verlorenen Müttern brüllten und der Glühwein nicht mehr duftete, wenn er mitsamt halbverdauten Schokocrepes und Pommes rot-weiß auf dem Kunstlederpolster der Eckbank ihres Cafés landete, überfiel sie wie eine Grippe am Geburtstag. Sie schrubbte nach Feierabend mit Mundschutz und knöchelhohen Gummihandschuhen – an dem Fleck, der sich wie ein verblassendes Feuermal in das ockerfarbene Kunstledersofa und – schlimmer – in ihre Illusion von Weihnachten in der Großstadt gefressen hatte. Auch Studentin zu sein klang besser, als es sich anfühlte: niemand fragte, ob sie zu den Vorlesungen erschien, alles lag in ihrem eigenen Ermessen, sie war eine von Vielen, und ob sie die Prüfungen bestand, schien für die Welt keine Rolle zu spielen. So richtete sie ihre Anwesenheit in der Uni in erster Linie nach ihrem Dienstplan im Café und in zweiter Linie nach dem Grad ihrer Ausgeschlafenheit, denn meistens wurde es spät – entweder, weil sie nach Feierabend noch auf einen oder zwei Absacker mit ihren Kollegen hocken blieb oder weil sie den Studentenparties immer wieder eine Chance gab. Sie hätte einfach gern herausgefunden, was das Besondere daran war – schließlich hatte sie nicht umsonst davon geträumt, seit sie dreizehn war. Oft wachte sie mit trockenem Mund und verklebten Augen auf, wenn der Geruch von Kaffee und frischen Semmeln unter der Ritze ihrer Tür durch drang. Sie lauschte dem Klappern der Espressomaschine, stand auf und schlurfte in die Küche. Sie wusste nicht, was genau sie so wütend machte: Alex' gute Laune oder dass bei ihm alles besser lief – dass er dazu gehörte. 

„Das wird schon!“, sagte Alex und griff nach ihrer Hand, als er eines Abends verschwitzt vom Unisport nach Hause kam und sie heulend vor der zweiten Staffel von Sex and the City vorfand. Sie überwand sich und beichtete ihm, wie schwer es ihr fiel, dieses Leben, das sie unbedingt gewollt hatte. Alex' Hand war groß und warm und erinnerte sie an den Wintertag, als sie acht waren und sie ihn überredet hatte, über den zugefrorenen See hinüber ans andere Ufer zu balancieren. Auch damals war sie diejenige gewesen, die eingebrochen war. Auch damals hatte er sie triefend, aber heil nach Hause gebracht und durch die Stube seiner Eltern hinauf in sein warmes Zimmer geschmuggelt, wo sie gemeinsam eine Ausrede zurechtzimmerten.

Von diesem Abend an gab sie sich Mühe; stand auf, wenn sie in der Küche Geschepper gehört hatte, ging selbst zum Bäcker, um Semmeln zu holen und war – zumindest innerhalb ihrer gemeinsamen Wohnung – wieder Teil eines Ganzen. Was die große Stadt ihr an Orientierung verwehrte, gab ihr der überdimensionale Becher schaumigen Milchkaffees und die Semmel mit der selbstgemachten Himbeermarmelade von Alex' Mutter. Sie verließ morgens mit Alex das Haus und begleitete ihn an freien Abenden zum Unisport.

Jetzt lief sie durch die Straßen und konnte nicht fassen, dass sie seine Veränderung nicht bemerkt hatte. Alex hatte zu ihrem Leben gehört wie Oma Hildes Ledersessel. Wieso hatte seine immer häufigere Abwesenheit sie nicht alarmiert, wenn sie nach Schichtende allein auf ein Feierabendbier in der Küche saß? Wieso war sie nicht stutzig geworden, als sie nicht mehr vom Klappern der Espressomaschine geweckt wurde, sondern von der Wohnungstür, die betont sachte ins Schloss fiel?

Sie hatte sich heute sogar gefreut, dass er heute schon vor ihr zu Hause gewesen war. Sie hatte zwei Bier aus dem Kühlschrank geholt, ihn im Vorbeigehen an die Schulter geknufft und sich gefreut, mal wieder im Schneidersitz auf den Küchenhocker zu sitzen – wer als Letzter kam, musste den Hocker nehmen. „Was ist los mit dir? Gar kein Sport heute?“ Bei seinem „Ich muss dir was sagen“, hätte sie gerne losgelacht, hätte damit alles Folgende zu einem Scherz erklärt und sie beide wieder in kindlicher Unbeschwertheit vereint. Aber sie konnte nicht. Sein ernster Blick bohrte sich durch ihre Haut, durchstach ihr Fleisch und nagte sich in ihre Knochen. Sie spürte das Glühen, das ihren Nacken über die Ohren hinaufkroch, während der Rest ihres Körpers von einer plötzlichen Kälte erfasst wurde, die ihre Fingerspitzen taub werden ließ. Sie schämte sich, ohne zu wissen wofür. Nur wenige von Alex' Worten schafften es bis in ihr Bewusstsein. Sarah – paar Semester weiter – vielleicht schon mal gesehen – es zusammen versuchen – Sarah – Sarah – Sarah. Zwei Bier später – wie sie anhand der leeren Flaschen vor sich auf dem Tisch rekonstruierte – versuchte Alex es nochmal vernünftig. Er würde die Miete zahlen, bis sie einen neuen Mitbewohner gefunden hätte. Sarah hätte in ihrer Heimatstadt einen Referendariatsplatz bekommen, und sie hätten durch einen glücklichen Zufall eine günstige Wohnung gefunden. Sechshundert Kilometer – „ja schon, aber – ich komm dich besuchen ...“ Das Türschloss schnitt ihm alles andere als behutsam das Wort ab. 

Jetzt, da sie durch die Straßen lief, hallten seine Worte erneut von den Litfaßsäulen und Werbeplakaten, das Lachen in den Straßencafés verhöhnte sie, sie lief schneller, schneller. Bei jedem Schritt rutschten ihr die zerschundenen Ballerinas von den Fersen. Sie blieb stehen. Zog sie aus und betrachtete sie. Atmete durch. Unwillkürlich dachte sie an Pantoffeln und an die Stube ihrer Eltern. Der Blick aus dem Fenster: weites Feld, dahinter ein Horizont unregelmäßigen Grüns, ein Wald voller Bäume, aber ihr Wald. Sogar nachts könnte sie einen Fremden zu den besten Verstecken, den üppigsten Brombeerhecken und der idyllischsten Stelle am Bach führen. Sie bog um eine Ecke, die Stimmen wurden lauter. Vor einem kleinen Café saßen Menschen auf gußeisernen geschnörkelten Stühlen, auf den Tischen orangefarben gefüllte Gläser. Aperol-Sprizz war eine Illusion, so wie die Stadt selbst – er zauberte ein Sommergefühl, auch wenn es schon Herbst war. Sie hielt inne, schaute in die schwatzenden Gesichter, setzte sich an einen freien Tisch, barfuß und mit verstopfter Nase. Die junge Kellnerin lächelte: „Was darf's sein?“

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Marion Zechner, geboren in München, Mutter zweier Kinder, arbeitet als Sozialpädagogin und systemische Therapeutin bei einem bayerischen Suchthilfeträger. Neben Schreibwerkstätten (u.a. an der Bundesakademie Wolfenbüttel) absolvierte sie das Fernstudium Prosaschreiben bei der Textmanufaktur. Kurzgeschichten von ihr erschienen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Mit einem Ausschnitt aus ihrem Romandebüt Bewölkt aber trocken war sie für den Irseer Pegasus nominiert und gewann den österreichischen Literaturpreis Schreiberei.