„Das Schundbüro“. Von Lucas Fassnacht

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Erhält 2024 den Förderpreis zum Platen-Literaturpreis: Lucas Fassnacht alias Lars Sommer (c) Hannah Gericke

Lucas Fassnacht hat in Tansania Radfahren gelernt, in Hessen Bruchrechnen und in Bayern Altgriechisch. Am Pforzheimer Theater hat er Kulissen geschoben; in Erlangen hat er Sprachwissenschaften studiert und zugleich die Literaturbühnen des deutschsprachigen Raumes erkundet. Im Jahr 2015 leitete er eine Poetry-Slam-Werkstatt mit Jugendlichen einer Mittelschule der Nürnberger Südstadt, die mit der Kamera begleitet wurde. Der entstandene Dokumentarfilm Südstadthelden feierte 2019 Premiere auf dem Internationalen Nürnberger Filmfestival für Menschenrechte. Inzwischen wohnt Fassnacht in Nürnberg, gibt Workshops und schreibt. Außerdem ist er fasziniert von antiker Metrik und Verschwörungstheorien. 2022 hat er den Nürnberger Kulturpreis verliehen bekommen, 2024 erhält er den Förderpreis zum August-Graf-von-Platen-Literaturpreis. 2023 erschien Fassnachts Thriller Tartarus. Seinen aktuellen Kriminalroman Reichswald und den Fantasyroman Strom – Das dunkle Erwachen veröffentlichte er unter Pseudonym. 

Mit der folgenden Geschichte beteiligte sich Lucas Fassnacht 2022 an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER

*

Es wurde Zeit für den Frühling. Missmutig bemerkte der Tod, wie der untere Saum seines Mantels verkrustet war von einer Mischung aus Straßenschmutz, Streusalz und schmelzendem Schnee. Zu allem Überfluss begann es auch noch zu regnen. Hastig bog er in die kleine Seitenstraße ein, in welcher sein letzter Termin für heute Nacht auf ihn wartete.

Die Adresse seines Ziels entpuppte sich als ein altes Fachwerkhaus mit Butzenscheiben. Es wirkte fehl am Platz zwischen den modernen, sauber verputzten Fassaden der es umgebenden Gebäude. Zugegeben, der Tod hatte nie eine große Begeisterung für Architektur besessen. Ohne sich aufzuhalten, hob er die rechte Faust. Doch bevor er klopfen konnte, öffnete sich die Tür.

„Guten Abend, Gevatter“, sagte ein Männlein, das in seiner Kordhose, seiner Weste und seinem weißen Schnurbart genauso aus der Zeit gefallen schien wie seine Behausung.

„Sie haben mich erwartet?“, fragte der Tod überrascht.

„Freilich“, nickte das Männlein. „Schon seit längerem. Kommen Sie herein. Sie erkälten sich ja.“

Verwirrt folgte der Tod dem Männlein in die Stube. Diese war vollgestellt mit so vielen Dingen, dass der Tod, der recht groß gewachsen war, kaum wusste, wohin mit sich.

„Wollen Sie Tee?“, fragte das Männlein.

„Nein, danke“, sagte der Tod. „Ich trinke nicht während der Arbeit.“ 

Das Männlein zuckte mit den Schultern. „Wie Sie meinen.“

Interessiert und auch ein bisschen eingeschüchtert sah sich der Tod genauer das Sammelsurium an, in das er hineingeraten war: Kleidungsstücke, Möbel, eingeweckte Lebensmittel, Kinderspielzeug, Musikinstrumente, Teppiche, Skulpturen, Geschirr, Bilder, ein Weinregal, Werkzeug, Toaster, exotischer Schmuck, ausgestopfte Tiere, Waffen, Büroartikel, Schminke, Karnevalsmasken, ein Nokia 3210, Adventskalender und Bücher, zahllose Bücher. Keine Ordnung war zu erkennen, kein Konzept hinter der Sammelwut.

„Was soll das alles?“, fragte der Tod und biss sich sogleich auf die Lippen. Neugier ziemte sich in seiner Profession nicht.

„Das ist meine Arbeit“, sagte das Männlein schlicht. Sein Blick war mild, doch die Augen waren so alt, wie der Tod es noch nie gesehen hatte. Und er hatte schon vieles gesehen.

„Ihre Arbeit?“, fragte er nach; ein bisschen dumm war die Frage schon, das erkannte er selbst, doch er war nicht geübt im Konversieren.

„Ja“, nickte das Männlein, „ich betreibe ein Schundbüro.“

„Ein Schundbüro?“, fragte der Tod, und kam sich noch dämlicher vor mit seiner Fragerei. Aber von einem Schundbüro hatte er noch nie gehört.

Wieder nickte das Männlein. „Ich sammle alles, was die Menschen als Schund betrachten, und bewahre es auf.“

„Wozu?“, fragte der Tod, da schepperte und klirrte es hinter ihm. Erschrocken fuhr er herum. Er war mit seiner Sense an ein Teleskop gekommen, und dieses lag nun zerbrochen am Boden. Es war ein prachtvolles Stück, goldbeschlagen, mit feinen Ziselierungen versehen, viele Jahrhunderte alt musste es sein.

„Wie wunderschön“, murmelte der Tod. Dann erinnerte er sich irritiert an die letzten Worte des Männleins. „Das ist doch kein Schund.“

Das Männlein lächelte leise. „Dieses Teleskop hat Galileo Galilei gehört, und zu seiner Zeit beäugten es viele als ein Werkzeug des Teufels.“

„Aber jene Zeit ist doch schon Jahrhunderte her“, widersprach der Tod.

„Jedes Zeitalter entscheidet neu, was Schund ist und was nicht“, erklärte das Männlein geduldig. „Meine Aufgabe ist es, ihn zu sammeln, damit er nicht verloren geht. So bleibt den späteren Zeitaltern die Möglichkeit erhalten, Wert in ihm zu finden.“

Der Tod war nicht überzeugt. „Und wie oft kommt es vor, dass Dinge, die als Schund galten, doch noch ihren Nutzen beweisen können?“

„Ab und an.“ Das Männlein kratzte sich am Ohr. „Da Sie so wissbegierig sind – wollen Sie vielleicht den Raum sehen, wo ich die Ideen aufbewahre?“

„Gerne.“

Das Männlein führte den Tod zwischen den sich türmenden Gegenständen hindurch in einen weiteren Raum, der nicht weniger vollgestellt war.

„Verdammt will ich sein“, entfuhr es dem Tod, „Menschen. Das sind Menschen.“

„Ich würde Sie bitten, nicht zu fluchen“, flüsterte das Männlein. „Ideen sind empfindlich.“

„Das sind Menschen“, wiederholte der Tod fassungslos. Kreuz und quer standen sie durcheinander: alte und junge, gesunde und welche mit Geschwüren, welche mit heiterer Miene und welche, in deren Blick der Schrecken flackerte. 

„Genau genommen“, entgegnete das Männlein, „sind es Ideen. Die Verkörperungen dienen nur zur besseren Lagerung. Dass ist wie bei Ihnen, wenn Sie einen Gedanken festhalten wollen – dann versuchen Sie doch, passende Worte zu finden? Wenn ich eine Idee einlagern will, kleide ich sie in einen entsprechenden Körper.“

Der Tod hatte sich noch nicht wieder gefangen. Nervös sah er von einem Gesicht zum nächsten. Den allermeisten musste er bereits begegnet sein, an viele konnte er sich erinnern. 

Priester und Königinnen waren darunter, aber auch Hexen und Wissenschaftler, Künstlerinnen, Rebellen, Märtyrer und Lüstlinge. Der Tod erkannte Nikolaus Kopernikus, den Schriftsteller Boccaccio und die Dichterin Sappho, entdeckte Voltaire neben Marquis de Sade, Nikkolò Machiavelli neben Sokrates. Anne Frank und Charles Bukowski.

Plötzlich stutzte er. „Ist das Ihr Ernst?“, wandte er sich an das Männlein. „Donald Trump?“

Das Männlein wirkte nicht im Mindesten verlegen. „Tja, Schund.“

„Aber Sie können doch nicht Donald Trump und Anne Frank in einen Raum stellen.“ Der Tod war aufrichtig betroffen. 

„Ich muss“, erklärte das Männlein, nun wirkte es doch etwas peinlich berührt. „Da hinten steht sogar Björn Höcke.“

Dem Tod wurde übel. „Ich dachte, es geht um voreilige Urteile.“

„Nun ja, es geht um die Urteile, die ein bestimmtes Zeitalter fällt. Ob die Urteile voreilig waren, lässt sich erst im Nachhinein herausfinden. Deswegen gibt es ja mein Schundbüro.“

„Das ist doch lächerlich“, rief der Tod und packte seine Sense fester. „Gut, dass der Spuk jetzt ein Ende hat.“

„Ja, wir haben schon zu viel Zeit vertrödelt.“

„Sie haben keine Angst vor mir?“, fragte der Tod. Dieses Männlein war der merkwürdigste Klient, den er je besucht hatte.

„Um ehrlich zu sein“, druckste das Männlein herum, „sind Sie gar nicht hier, um mich zu holen.“

„Was reden Sie für einen Unsinn. Wozu denn dann?“

„Wenn Sie sich bitte hier hinstellen würden.“

„Was?“

Das Männlein hob entschuldigend die Hände. „Wir leben in einem Zeitalter, in dem die Menschen nicht viel für Sie übrighaben, Gevatter.“

„Sie können doch nicht …“, begann der Tod zu protestieren, aber da war er schon zu einer Idee geworden, die zwar in dem Fachwerkhaus des Männleins mit dem weißen Schnurbart einen Platz fand, aber keinen mehr in der Welt. 

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