„Ein Superangebot“. Von Khrystyna Kozlovska
Khrystyna Kozlovska, 1989 in Iwano-Frankiwsk, lebt zurzeit als Stipendiatin der Kulturstiftung Sachsen in Leipzig. Ihre in Literaturzeitschriften veröffentlichten Gedichte und ihre Prosawerke sind in viele Sprachen übersetzt und mit Preisen ausgezeichnet. So erhielt sie etwa 2014 und 2021 den Literaturpreis des Verlags Smoloskyp. Derzeit schreibt Khrystyna Kozlovska einen Roman, der dem Genre des magischen Realismus angehören soll und für den sie auf ihr Tagebuch zurückgreifen wird, das sie seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine führt. Weiterhin erstellt sie für eine geplante Ausstellung eine Landkarte zu Orten verbrannter Bücher und zerstörter Kultureinrichtungen der Ukraine. Die Stadtbibliothek Leipzig beauftragte sie, eine ukrainische Bibliothek einzurichten. 2022 nahm sie am Weimarer Schriftstellertreffen von „Eine Brücke aus Papier“ teil, über das das Literaturportal Bayern ausführlich berichtete.
Mit der folgenden auf Deutsch bislang unveröffentlichten Geschichte beteiligt sich Khrystyna Kozlovska an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.
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Bis vor kurzem kannte Rosana kaum Schmerz, und wenn sie etwas kannte, dann waren es physische Schmerzen. Ein Sturz vom Fahrrad, eine Schnittwunde beim Zubereiten des Essens, Kopfschmerzen nach einem anstrengenden Tag, Regelschmerzen. Tja, vor so einer unangenehmen Sache wie Schmerz kann man sich eben nicht verstecken. Doch all das war nichts im Vergleich zum Seelenleid, das Rosana nun zum ersten Mal erlebte. Gegen solch ein Leid halfen keine Pillen. Rosana atmete tief durch, um sich zu beruhigen, doch das half nichts, im Gegenteil: Mit jedem Schnaufer schien es schlimmer zu werden. Rosana war von ihrem über alles geliebten Mann verlassen worden, eines Tages war er nach Hause gekommen, hatte seine Sachen in eine kleine Tasche gepackt und war ohne große Erklärung auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Wenig später rief er an und teilte ihr mit, dass er sich von ihr getrennt habe, da er Rosana nicht mehr liebe und nichts dagegen machen könne und es somit auch sinnlos sei, sich weiterhin zu sehen, denn es gäbe einfach nichts mehr, worüber man reden müsste. Der Hörer entglitt Rosana. Und dem Hörer hinterher stürzte ihr Herz und zersplitterte klirrend. Rosana weinte lange und heftig, lieber hätte sie sich tagtäglich in den Finger geschnitten, Kopfschmerzen gehabt, ganz gleich was, Hauptsache diesen schrecklich unmenschlichen Schmerz betäuben. Obwohl ihr Herz gebrochen war, musste es weiter schlagen und jeder Schlag war qualvoll.
Rosana sehnte sich danach, dass man ihr erkläre, worin der Sinn ihrer großen Liebe zu diesem Mann lag, welchen Sinn die gemeinsamen Jahre gehabt hatten, aber natürlich konnte es ihr keiner erklären, und so blieb Rosana nichts übrig als fortwährend sich selbst auszuforschen. Die Selbsterforschung quälte und erschöpfte sie, manchmal war sie von den endlosen inneren Monologen völlig mürbe und sie fiel in tiefe und zähflüssige Träume, die durch ihr Unterbewusstsein strömten wie blubbernd giftiges Pech. Solche Träume brachten keine Erholung, schenkten kein Vergessen, sondern waren vielmehr eine Parallelwelt, surrealer Wahn und ein aufdringlicher Nachgeschmack beim Aufwachen. Rosana versuchte ihre Würde wieder zu erlangen und wollte die Nummer des Mannes vom Handy löschen, doch die Würde schien Rosana auf immer verlassen zu haben, und so wischten die Finger eins ums andere Mal über das Handydisplay und wählten die bekannte Nummer. Der Mann reagierte nicht, schließlich verschwand er aus dem Netz, spurlos, als hätte es ihn nie gegeben. Tage vergingen, Wochen und schließlich Monate, doch der Schmerz blieb und ließ nicht nach. Rosana hörte immer wieder den Spruch „Zeit heilt alle Wunden“ und dass „alles im Leben endlich ist“, und dass alles, was uns nicht umbringt, uns stählt. Doch all diese Worte waren nur leere Hülsen für sie. Rosana wollte schreien und um sich schlagen, denn was mit ihr geschah, war einfach nur ungerecht, furchtbar ungerecht! Rosana wanderte durch die leeren Straßen der Stadt, über die Uferpromenaden zu später Stunde, ging zu Konzerten, die niemand besuchen wollte, trieb sich in den entlegensten Teilen der Parks herum - und die ganze Zeit über drückte sie das Foto ihres Mannes in der Tasche mit der Hand zusammen. Ihr Leben war unerträglich, ihre Tage waren grau, ihre Träume schwer, ihre Gedanken anstrengend und ihre Zukunft leer.
Rosana war bereits seit einigen Stunden im herbstlichen Park unterwegs, ein unangenehmer Sprühregen fiel, ihr Haar klebte in nassen Strähnen an ihrem Jackenkragen und der Schulter, ihre Arme waren völlig taub, aber das machte ihr nichts aus. Irgendwann wurde sie unglaublich müde, ihre Beine gaben nach, und Rosana ließ sich auf eine Bank fallen. Sie saß da und starrte zwischen den Bäumen in die Ferne. Es war gut, dass das Wetter so mies war, es vertrieb all die Tagediebe, die sonst vorbeikamen, all die Leute, die Rosana längst auf die Nerven gingen. Und jetzt, wo niemand da war, erlaubte sie sich etwas, was sie bisher nicht erlaubt hatte. Sie weinte. Die Tränen kullerten ihr über die regennassen Wangen, ihre Brust bebte, und braune Blätter fielen von den Bäumen.
„Guten Tag“, rief plötzlich jemand Rosana zu. Sie sah auf und erblickte einen Mann und eine Frau, die sie nicht kannte, unter einem gemeinsamen Regenschirm, sie lächelten sie an. Rosana wischte schnell mit beiden Händen die Tränen fort und sah die beiden nun mit vor Weinen roten Augen eingerahmt von geschwollenen Lidern an.
„Guten Tag“, entgegnete sie schließlich.
„Ich heiße Walentyn, und das ist Patrizia“, sagte der Mann. „Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?“
„Ja,“ antwortete sie verwirrt und rückte an den Rand der Bank.
„Dürfen wir ihren Namen erfahren?“, fragte diesmal die Frau mit sanfter Stimme.
„Rosana. Warum wollen Sie meinen Namen wissen?“
Sie war nicht in der Stimmung, jemanden kennen zu lernen. Sie wollte aufstehen und gehen und die beiden auf der Bank zurücklassen, auf der sie so gerne sitzen wollten. Übrigens bemerkte Rosana erst jetzt, dass alle Bänke in der Nähe frei waren. Sie blickte die beiden fragend an.
„Rosana“, fuhr die Frau fort, „wir haben bemerkt, dass du traurig bist, oder?“
„Was?“. Sie verstand nicht. „Was meinen Sie damit?“
„Bist du gerade traurig, Rosana?“, fragte die Frau erneut, nur diesmal jedes Wort langsam und deutlich.
„Nun ja … aber was soll das schon bedeuten?“
„Die Sache ist die, liebe Rosana, dass es viel mehr bedeutet, als du dir vorstellen kannst, und nicht nur für dich.“
„Was soll der Unsinn!“, ärgerte sich Rosana. „Und wie kommen Sie überhaupt darauf, dass ich traurig bin?“
„Du sitzt allein in einem kalten und verregneten Park und weinst“, sagte Patrizia ruhig. „Gerade bist du ein wenig gereizt, wirst wütend wegen einfacher Fragen, und das bedeutet, dass dein Nervensystem ein wenig überanstrengt ist. Meine Erfahrung sagt mir, dass du kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehst. Aus all diesen Umständen schließe ich, dass in deinem Leben nicht alles in Ordnung ist.
Rosana sagte nichts, sondern schaute abwechselnd Patrizia und Walentyn mit großen Augen an.
„Hat meine Kollegin denn nicht Recht mit all dem, was sie gerade gesagt hat, Rosana?“, fragte der Mann.
„Und selbst wenn, worum geht es denn?“
„Es geht darum, dass wir dir helfen können, Rosana.“
„Wie?“, schnaubte sie und hatte das Gefühl, dass dieses dumme Gespräch beendet werden sollte. „Wollen Sie mir Bücher mit irgend so einer coolen neuen Philosophie andrehen, die Körper und Seele heilt?“
„Nein, Rosana“, sagte der Mann, „es geht um etwas viel Realeres. Philosophie ist nur Selbstbetrug, eine Illusion, ja, eine Pseudowissenschaft. Wir dagegen“, und er sah Patricia an, „sind echte Wissenschaftler, und wenn wir etwas anbieten, dann sind es konkrete, effektive Mittel zur Lösung eines Problems. Wir arbeiten mit Daten und realen Fakten, und werfen nicht nur mit Worten um uns. Wenn wir Ihnen eine Lösung für Ihr Problem anbieten, bedeutet das, dass Ihr Problem gelöst werden kann.“
„Ich habe kein Problem", brummte Rosana und wollte gerade gehen, als Patrizia plötzlich sagte: „Rosana, leidest du nicht gerade jetzt so sehr, dass du lieber sterben möchtest, als weiter mit diesem Horror zu leben?“
Rosana erstarrte. Sie war bereits aufgestanden und stand nun mit dem Rücken zu den seltsamen Fremden unter dem Schirm.
„Willst du dein Leid nicht ein für alle Mal beenden?“, fuhr die Frau fort. „Wir haben viele Menschen wie dich gekannt. Wir spüren ihr Leid, wir erkennen es in ihren Gesichtern, und wir wollen helfen.“
Rosana setzte sich langsam wieder auf die Bank. Sie sah ihre Gesprächspartner nicht einmal an, starrte nur vor sich hin, ein Schluchzen stieg ihren Hals hoch und Tränen wollten hervorbrechen, aber sie hielt sie tapfer zurück. Plötzlich wollte sie alles erzählen, ihren Schmerz teilen. Bisher hatte keiner ihrer Freundinnen, denen sie davon erzählt hatte, sie richtig verstanden - aber aus irgendeinem Grund schien es, als könnten die beiden Fremden sie verstehen.
„Ja, ich bin wirklich verletzt“, hauchte sie, „ich wurde verraten, verlassen, mit Füßen getreten.“
„Wir verstehen dich“, sagte Patrizia leise und berührte Rosanas Schulter. „Wir wissen, wie schwer es ist, aber es wirklich gibt einen Ausweg aus dieser Situation.“.
„Welchen Ausweg denn?“ Rosana blickte sie an.
„Die Sache ist die“, begann Valentyn, „dass emotionaler Schmerz, der durch solch starke Gefühle wie unerwiderte Liebe, den Verlust eines geliebten Menschen, Trauer, Wut oder Hass verursacht wird, sehr mächtig und unglaublich energieintensiv ist. Die Wissenschaftler unseres Unternehmens haben eine revolutionäre Entdeckung gemacht, ja, eine Entdeckung, die bald die ganze Welt verändern und viele komplizierte Probleme lösen wird. Sie haben herausgefunden, wie man diese mächtige Energie aus dem menschlichen Energiefeld aussondern kann, die durch alle oben genannten Faktoren verursacht wird. Sie brauchen nur Ihr Einverständnis geben, und wir werden mittels eines speziellen Geräts diese schädliche Energie entfernen, und damit verschwindet auch die entsprechende Emotion. Einfach gesagt: Wir nehmen dir den Schmerz. Und das ist noch nicht alles. Die Energie, die wir deinem Körper entziehen, wird anschließend für verschiedene gute Zwecke verwendet. Wir haben bereits mehrere laufende Projekte, eines davon ist die Beleuchtung von Häusern in Bergregionen, die nicht an die normale Stromversorgung angeschlossen werden können. Wir versorgen solche Häuser mit tragbaren Laternen, die mit unserer Energie auf karitativer Basis betrieben werden. Außerdem arbeiten wir derzeit an der Entwicklung eines neuen, umweltfreundlichen Autos, das, wie du dir vorstellen kannst, ebenfalls mit unserer Energie betrieben werden soll. Wir sind ein junges, aber sehr ehrgeiziges Unternehmen. Du wirst also nicht nur ein lästiges Gefühl los, das dich daran hindert, ein erfülltes Leben zu führen, sondern du hilfst auch noch einer guten Sache“, beendete Valentyn seine Ausführungen. Rosana sah ihn unverwandt an. Sie brauchte Zeit, um das alles zu verdauen.
„Wow“, war alles, was sie nach dieser Ansprache sagen konnte.
„Hast du irgendwelche Fragen?“, fragte Patrizia und lächelte sanft.
„Ist das wirklich möglich?“, fragte Rosana. „Oder ist das ein Scherz?"
„Kein Scherz“, entgegnete Patrizia. „Hier ist meine Visitenkarte“, sie hielt ihr ein rechteckiges Kärtchen hin. Da steht mein Name und alle Kontaktdaten unserer Firma. Alles ist legal. Du kannst jederzeit vorbeikommen und dich umsehen, mit unseren Fachkräften sprechen. Wir schließen mit unseren Kunden einen Kaufvertrag ab und gewähren außerdem eine lebenslange Garantie.“
„Lebensla-a-ange?“, stammelte Rosana und schaute auf die Visitenkarte.
„Ja, lebenslang“, bestätigte Valentyn.
„Ich weiß nicht ... Ich habe noch nie von solchen Dienstleistungen gehört,“ überlegte Rosana.
„Das liegt daran“, fuhr der Mann fort, „dass wir mit einer allgemeinen Markteinführung noch warten. Wir haben noch nicht die Kapazitäten dafür. Kannst du dir vorstellen, Rosana, wie viele Leute unsere Dienste in Anspruch nehmen wollen?“
„Wahrscheinlich viele“, hob Rosana schließlich den Blick von der Visitenkarte und schaute Valentyn an.
„Ganz genau“, bestätigte der Mann. „Das weiß auch unsere Geschäftsleitung, deshalb hat sie es nicht eilig, Werbung zu machen. Zuerst müssen wir uns vorbereiten, viele neue Mitarbeiter einstellen, die Ausrüstung aufstocken, die Räumlichkeiten erweitern. Das ist eine Menge Arbeit. Wir sind jetzt auf dem besten Weg zu expandieren, und gleichzeitig treiben wir die Arbeit voran.
„Aha, ich verstehe“, nickte die junge Frau.
„Wann können wir dich in unserem Büro erwarten?“, fragte Patrizia sanft. „Kann ich mir deine Telefonnummer notieren?“
„Meine Nummer?“, fragte Rosana erneut, als wäre sie aus einer Hypnose erwacht. „Ich werde sie selbst anrufen, wenn es nötig ist, danke", sagte sie, stand von der Bank auf und ging schnell zum Ausgang des Parks.
Zu Hause, nachdem sie sich ein wenig beruhigt und aufgewärmt hatte, begann Rosana über ihr Abenteuer mit den beiden Fremden und ihr seltsames Angebot nachzudenken und schaute sich Patrizias Visitenkarte noch einmal an, aber je weiter der Tag sich dem Ende zuneigte, desto mehr bezweifelte sie, dass all das echt war und dass sie das so oder so nicht brauchte. Rosana warf die Visitenkarte in eine der Schubladen und nahm sich fest vor, nicht mehr über diesen Unsinn nachzudenken. Aber das Leben ist natürlich unberechenbar - und schon bald, oder besser gesagt am nächsten Tag, kam Rosana die Visitenkarte gelegen. Und das ging so. Am Mittag beschloss sie, einen Abstecher zum Fluss zu machen. Sie schwang sich auf ihr Fahrrad und war nach einer halben Stunde bereits an der Uferpromenade. Sie stellte ihr Fahrrad ab und ging am Fluss entlang, als sie plötzlich in der Ferne eine bekannte Gestalt sah. Rosanas Herz rutschte augenblicklich bis in die Kniekehle und noch weiter, es wurde ihr schwarz vor Augen - sie hatte Glück, dass sie sich gerade noch an einer nahen Bank festhalten konnte, sonst wäre sie glatt umgekippt. Das war er, kein Zweifel, es war ihr Mann. Er ging Hand in Hand mit einem Mädchen, lachte fröhlich und schaute sie ab und zu an - es war dieses lächelnde Profil, an dem sie ihn erkannte. Rosana setzte sich auf die Bank und verharrte, wer weiß wie lange, in Benommenheit. Als sie sich von dem Schock erholt hatte, war es bereits dunkel geworden.
Es gelang ihr nicht gleich die Haustür zu öffnen, ihre Hände zitterten, so dass sie eine Weile brauchte, um mit dem Schlüssel ins Schloss zu treffen. In ihrem Zimmer brach sie dann wie ein Kind in Tränen aus, weinte laut und wollte noch lauter weinen; sie schleuderte ein gerahmtes Foto an die Wand und wollte alles zerschlagen und zerstören, was sie sah. Rosanas Seele schmerzte, und der Schmerz war unerträglich. Sie eilte zu jener Schublade und kippte den Inhalt auf den Boden und fand die Visitenkarte, die sie brauchte. Es war bereits dunkel, aber Rosana beachtete das nicht - es war ihr egal, sie wollte sofort die Dienste dieser verdammten Firma in Anspruch nehmen, sie war bereit, alles auf sich zu nehmen, Hauptsache es würde ihr bessergehen. Nachdem das Telefon zweimal geklingelt hatte, meldete sich eine Frauenstimme.
„Guten Tag“, - sagte sie mit bebender Stimme. „Sind Sie das, Patrizia?“
„Ja, wie kann ich helfen?“
„Ich heiße Rosana, wir haben uns gestern im Park getroffen.“
„Ja, Rosana, ich erinnere mich an Sie.“
„Ich habe nachgedacht und beschlossen ... Kurz gesagt, ich würde gerne Ihre Dienste in Anspruch nehmen.“
„Wunderbar, Rosana, wir werden gerne mit dir zusammenarbeiten. Wann kann ich dich im Büro erwarten?“
Rosana schaute aus dem Fenster und bemerkte erst jetzt, dass es Nacht war. „Es ist wahrscheinlich zu spät für heute Abend.“
„Ja, heute ist es schon zu spät.“
„Morgen früh dann?“
„Ja, natürlich, Rosana, wir werden auf dich warten.“
„Okay, ich werde da sein.“
Rosana wälzte sich die ganze Nacht im Bett hin und her, wachte hundertmal auf und schlief wieder ein, blickte nervös auf die Uhr, aber die Zeit schien wie zum Trotz noch langsamer als sonst zu vergehen. Sobald sie einschlief, tauchte das lächelnde Profil ihres Mannes vor ihr auf; das Einzige, worüber sie froh war, dass es bald vorbei sein würde.
Das Büro von „Energobeben“ befand sich am Stadtrand in einem verlassenen Geschäftsgebäude. Das Gebäude war riesig, wahrscheinlich eine Art Fabrik. Es war nicht leicht für Rosana, hierher zu finden, zunächst unterschätzte sie die Schwierigkeiten, nahm eine Marschrutka, die sie zur Endhaltestelle brachte, danach musste sie noch zwei Kilometer bis zur angegebenen Adresse laufen - zum Glück hatte Rosana halbwegs gutes Internet im Handy, so dass sie die Navigation einschalten konnte. Vor der hohen, rostigen Eisentür zweifelte Rosana jedoch daran, dass dies wirklich das Büro der gesuchten Firma war. Sie zog an der Klinke, aber die Tür war verschlossen. Wahrscheinlich hatte sie sich verlaufen, aber wie konnte die Karte auf ihrem Handy falsch sein? Sie rief Patrizia an und die antwortete ihr auch gleich.
„Guten Tag, Patrizia“, grüßte Rosana, „ich bin an der angegebenen Adresse, aber es gibt hier keine Firma. Ich habe mich anscheinend verlaufen?“
„Nein, schon gut, Rosana, es tut mir leid, dass ich dir nicht, wie sich’s gehört, entgegenkomme. Bitte warte einen Moment.“
Rosana wartete und tatsächlich, bevor sie Zeit gehabt hätte, sich richtig umzusehen, klickte das Schloss an der Innenseite und die schwere, knarrende Tür öffnete sich langsam. Patrizia, noch immer in ihrem perfekt sitzenden Kostüm, lächelte und lud Rosanna mit einer freundlichen Geste ein, einzutreten. Das Mädchen ging durch die offene Tür, Patrizia drückte mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Eisentür, die sich bedrohlich knarrend hinter ihnen wieder schloss. Die Frau ging einen langen, dunklen und kalten Korridor hinunter. Rosana folgte ihr und versuchte, Schritt zu halten. Ihre Schritte und vor allem das Klappern von Patrizias Absätzen hallten in dem riesigen Fabrikgebäude wider. Der Korridor war lang, und Rosana wurde es schon ein wenig mulmig zumute. Schließlich stieß Patrizia mit einer selbstbewussten Bewegung eine weitere, kleinere Tür auf, und Rosana betrat einen riesigen, perfekt beleuchteten Raum, in dem es vor Menschen nur so wimmelte; einige in weißen Kitteln, andere in dunklen Büroanzügen wie Patrizia. Viele Schreibtische, Papierstapel, seltsame Geräte in verschiedenen Größen und Ausführungen, Stromentladungen, die in diesen Geräten kleine Blitze bildeten, Lichtblitze ... Rosana blieb vor Erstaunen der Mund offen. Patrizia musste das bemerkt haben, denn sie wartete, damit sich die junge Frau umsehen konnte, dann sagte sie: „Rosana, komm mit zu unserem Spezialisten, der wird dir alles genau erklären und einen Kaufvertrag mit dir aufsetzen. Rosana riss sich schließlich von dem Anblick los und folgte Patrizia nickend.
Der Spezialist in einem eleganten Anzug und mit glatt nach hinten gekämmtem Haar sprach begeistert über die Besonderheit und Vorteile ihrer Dienstleistung und erläuterte, worum es in dem Vertrag ging, erläuterte die Rechte und Pflichten beider Parteien. Rosana versuchte, ihm zu folgen, aber aus irgendeinem Grund war sie zu zerstreut, ihre Gedanken schweiften zurück in die kummervolle Vergangenheit und dann wieder in eine theoretisch gute und glückliche Zukunft. Ehrlich gesagt, war ihr der Vertrag ziemlich egal - sie wollte von diesen Leuten nichts anderes, als dass sie sie aus ihrem Elend befreiten. Sie wollte alles so schnell wie möglich hinter sich haben und nach Hause zurückkehren. Schließlich war der Spezialist fertig und legte ein paar Blätter Papier vor ihr auf den Tisch - den Kaufvertrag. Rosana überflog ihn schnell und fragte, wo sie unterschreiben solle. Der Spezialist zeigte auf die richtige Stelle auf der letzten Seite, und sie unterschrieb voller Vertrauen.
Was danach kam, ist alles irgendwie verschwommen. Der lange Monolog des Spezialisten bereitete Rosana Kopfschmerzen, sie massierte ihre Schläfen, bat um ein Glas Wasser, aber nichts half, der Schmerz ließ nicht nach. Dann wurde Rosana ein Helm mit verschiedenfarbigen Drähten aufgesetzt, man bat sie, einige Sekunden lang den Atem anzuhalten, dann erhielt sie einen kleinen Stromschlag, der ihren ganzen Körper durchzuckte - und das war's, die Prozedur zur Übertragung negativer Energie auf EnergoBeben war abgeschlossen. Man nahm ihr den Helm ab, fragte sie, ob es ihr gut gehe, was sie bejahte, dann dankte man ihr für die Kooperation. Der Mitarbeiter im weißen Kittel, der die Energieentnahme durchgeführt hatte, wies sie darauf hin, dass, falls sie sich ein wenig erschöpft fühle, dies nicht auf einen Energieverlust zurückzuführen sei, denn emotionale und physische Energie seien unterschiedliche Dinge und existierten getrennt im Körper. Erschöpfung ist nur auf einen Mangel an körperlicher Energie zurückzuführen - und die erneuert sich bekanntlich mit der Zeit. Rosana bedankte sich und ging zum Ausgang. Patrizia begleitete sie wieder, das Geräusch ihrer Absätze hallte laut und deutlich durch die Gänge, genau wie beim ersten Mal; nur hatte sie diesmal keine Angst mehr vor dem langen, dunklen und kalten Korridor.
Rosana kehrte nach Hause zurück, warf die Tasche mit der Kopie des Vertrags in die Ecke und legte sich ins Bett. Sie schlief tief und fest und träumte nichts, und als sie am Morgen aufwachte, fühlte sie sich voller Energie. Sie schaute auf ihre Uhr und stellte überrascht fest, dass sie sehr lange geschlafen hatte. Gut nur, dass Wochenende war. Sie duschte, trank Kaffee und schaute sich einen Film an. Dann schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf sich selbst, um zu verstehen, was sie fühlte, aber sie konnte nichts Besonderes feststellen. „Vielleicht haben sie mir nur einen Streich gespielt?“, dachte sie. Dann ging Rosana in den Flur und zog ein Foto ihres Mannes aus ihrer Jackentasche, das sie immer bei sich trug. Sie sah es an und ... spürte nichts. Sie stand eine Minute lang da - vielleicht war die Beleuchtung im Flur schlecht? Sie ging zurück ins Zimmer, setzte sich ans Fenster und sah sich das Foto erneut an. Das Ergebnis war zweifellos dasselbe: Das Bild dieser Person rief keinerlei Gefühle in ihr hervor. Hatte es wirklich funktioniert? Ein leichter Schauer durchlief ihren Körper. Rosana eilte zu der Schublade, in der sie die Habseligkeiten ihres Mannes aufbewahrte, die er nicht mitgenommen hatte. Sie hatte nicht die Kraft gehabt, sie wegzuwerfen. Sie roch sofort seinen vertrauten Duft. Da lagen ordentlich gefaltete Hemden, ein Notizbuch, ein Rasierapparat - alles, was sie bis gestern nicht ansehen konnte, ohne in Tränen auszubrechen. Alles war an seinem Platz, genau wie gestern - nur Rosanas Blick war nicht mehr derselbe. Sie betrachtete all diese Dinge ein paar Minuten lang, dann verließ sie das Zimmer und kam mit einer großen Tüte zurück. Sie schüttete den Inhalt der Schublade in die Tüte, knotete sie zu und stellte sie neben die Wohnungstür. Als sie später nach draußen ging, warf sie die Tüte in die Mülltonne.
Für Rosana begann nun ein völlig anderes Leben. Ihr Liebeskummer war verschwunden und machte sich nie mehr bemerkbar. Sie schlief gut, hatte einen guten Appetit und begann sogar, Sport zu treiben. Bei der Arbeit konnte sie sich besser konzentrieren und erledigte ihre Aufgaben schnell und effizient, da sie nicht mehr durch persönliche Probleme abgelenkt wurde. Sie stieg nun schnell auf. Manchmal war Rosana überrascht, wie einfach und angenehm das Leben sein konnte. Es war schade, dass sie das nicht schon früher erkannt und so viel Zeit damit verbracht hatte, sich über dumme Dinge Gedanken zu machen. Und wie gut war es, dass sie diese beiden damals im Park getroffen hatte ...
Der erste Schnee fiel, und Rosana betrachtete ihn am Fenster stehend. Sie hatte den Moment immer geliebt, wenn der erste Schnee fiel. Das Mädchen lächelte. Dann läutete jemand an der Tür. Sie war überrascht, denn es war noch zu früh für Besuch. Sie ging zur Tür und öffnete sie, ohne durch den Spion zu schauen, wer es war. Ihr Mann stand auf der Schwelle. Er hielt einen großen Blumenstrauß in der Hand und starrte ihn aus irgendeinem Grund an. Rosana schaute ihren Mann an, und er schaute auf die Blumen und wagte es nicht, den Blick zu heben. Als er sie schließlich ansah, waren seine Augen voller Tränen und stummem Flehen.
„Verzeih mir“, sagte er leise. „Ich habe einen Fehler gemacht, einen schweren Fehler, als ich dich verlassen habe. Ich habe noch nie in meinem Leben jemanden so sehr geliebt wie dich, und ich werde auch nie eine andere lieben. Du bist das Beste, was mir je passiert ist.“
Rosana blieb stumm. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Sie wollte, dass er zum Ende kam, aber der Mann fuhr fort: „Ich bedauere es so sehr. Ich liebe dich und ich weiß, dass du mich liebst. Ich weiß, dass ich dir sehr verletzt habe, es wird nie wieder vorkommen.
Dann verstummte er. Rosana wusste, dass sie nun etwas sagen musste. Sie wollte diesen Mann, der ihr schon lange fremd war, nicht kränken, aber sie konnte ihm auch nicht helfen. Also sagte sie: „Sorry, aber ich kann dir nicht helfen. Ich bin dir nicht mehr böse, wenn es das ist, worüber du dir Sorgen machst, aber ich kann nicht mit dir zusammenleben, weil ich dich einfach nicht liebe.“
„Was?“ Der Mann wurde blass. „Warum liebst du mich nicht mehr? So lange ist es doch noch gar nicht her. Bist du mit einem anderen zusammen?“
„Erstens will ich mit dir nicht darüber reden, und zweitens komme ich zu spät zur Arbeit, ich kann dieses Gespräch nicht fortsetzen.“
Der Mann versuchte, vor Aufregung etwas zu entgegnen, die Blumen fielen ihm aus der Hand, aber Rosana schlug ihm einfach die Tür vor der Nase zu, und die Sache war für sie zum Glück vorbei. Sie setzte sich an den Küchentisch und dachte nach. Wie dumm, lächerlich und unansehnlich war dieser Mann, warum hatte sie ihn so sehr geliebt? Der Mann stand noch lange vor der geschlossenen Tür, aber schließlich gab er auf und ging. Die Blumen blieben vor Rosanas Tür liegen. Sie hob sie dann auf und stellte sie in eine Vase in der Küche - sie waren doch zu schön, um sie wegzuwerfen. Nach diesem Vorfall kam der Mann noch einige Male und sagte etwas über seine Gefühle, aber Rosana hörte nicht wirklich zu, sondern erklärte nur, dass sie ihn nicht liebte und nicht mehr mit ihm zusammen sein könne. Und all die Male wie beim ersten Mal fragte sie sich, warum er sie nicht verstand, sie nicht in Ruhe ließ. Das einzig Positive an diesen quälenden Besuchen waren die Blumen, die dieser Mann jedes Mal mitbrachte. Rosana freute sich immer auf den Moment, wenn er endlich ging, um sie aufzusammeln. Die Liebe war vergangen, aber nicht die Liebe zu den Blumen. Schließlich gab der Mann endgültig auf, und Rosana atmete erleichtert auf.
Etwas mehr als ein Jahr war vergangen, seit Rosana Demid kennengelernt hatte. Er war ein kluger, lustiger und überraschend netter Kerl. Am Anfang waren Demid und Rosana Freunde, sie redeten viel, spazierten durch die Stadt und gingen ins Kino. Rosana mochte Demid, sie hatte noch nie einen so guten Freund gehabt. Sie konnte Demids Vor- und Nachteile klar erkennen, und er hatte definitiv mehr Vor- als Nachteile. Einmal küsste Demid Rosana, und es war wunderschön, und später bat er sie, mit ihm auszugehen, und sie wehrte sich nicht mehr. Bald lebten Rosana und Demid zusammen. Sie war glücklich, zugleich war diese Veränderung auch nicht leicht für sie. Rosana ärgerte sich etwa über Demids Angewohnheit, sein nasses Handtuch nicht über den Heizkörper zu hängen, über die dämlichen Klingeltöne auf seinem Handy, und sein Schnarchen rief bei ihr ein nervöses Zucken des rechten Augenlids hervor. Mit der Zeit schien Rosana das gemeinsame Bett zu eng zu sein, und seine Angewohnheit das Bad zu benutzen, während sie duschte, empörte sie. Einmal lud Demid Rosana in ein Restaurant ein und machte ihr fast unter Tränen einen Heiratsantrag. Diese ganze Szene kam Rosana lächerlich und sogar vulgär vor, aber sie stimmte natürlich zu. Ja, sie wollte Demid wirklich heiraten und Kinder mit ihm haben, denn sie hatte nie einen besseren Kandidaten für die Rolle des Ehemanns und Vaters kennen gelernt. So ging das häusliche Leid mit Demid noch eine Weile weiter, bis sie sich eines Tages, als er bei der Arbeit war, endlich eingestand, was sie vor sich selbst verheimlicht hatte. Sie liebte Demid nicht - und das war eine Tatsache. Sie wusste nicht, wie sie das ändern sollte, also packte sie ihre sieben Sachen und ging. Dann rief sie Demid an und bat ihn, sie nicht sehen zu wollen, da sie ihn nicht liebe. Demid, schockiert von dem, was er da hörte, rief wieder Rosana an. Das Mädchen ignorierte ein paar Anrufe und schaltete dann einfach das Handy aus. Ihr kam es so vor, als sei ihr schon einmal etwas Ähnliches passiert, aber sie wollte nicht weiter nachforschen, also beschloss sie einfach, nicht mehr an Demid zu denken - und es gelang ihr.
Mit der Zeit verblasste das Bild von Demid und verschwand schließlich ganz aus ihrem Gedächtnis. Nur ein paar Fotos erinnerten an ihn und in solchen Momenten fühlte Rosana diese Verbindung wie eine unerträgliche Last. Sie konnte sich jedoch nicht erinnern, warum. Nach Demid gab es noch andere Männer in Rosanas Leben, aber die Beziehungen hielten nicht lange und die Erinnerungen an sie waren schemenhaft und gerieten still und leise in Vergessenheit. Stattdessen wurde das Gefühl der Einsamkeit immer stärker. Eines Tages, als Rosana allein zu Abend aß, wurde ihr bewusst, dass die schönste Zeit ihres Lebens jene gewesen war, in der sie und ihr Ex-Mann zusammengelebt hatten; und selbst die schreckliche Zeit, in der sie wegen ihm gelitten hatte, erschien ihr wie etwas Unglaubliches, Reines und Intimes. Rosana weinte - das letzte Mal, dass sie geweint hatte, war, als ihr Mann sie verlassen hatte. Aber jetzt weinte sie nicht vor Kummer, nein - sie weinte vor Müdigkeit, und es war eine Müdigkeit durch zu viel Ruhe. Diese Ruhe ließ ihr Leben schnell und unmerklich vergehen, als hätte jemand es vorgespult. Warum war das so? Vielleicht war es wegen der seltsamen Firma, deren Angebot sie genutzt hatte. Hatten sie ihrer Gesundheit geschadet? Vielleicht haben sie ihr Nervensystem oder ihr Immunsystem in irgendeiner Weise geschädigt? Sie wird sie aufsuchen und ihre Unzufriedenheit mit der Dienstleistung äußern. Nein, mehr als das: Sie wird verlangen, dass alles wieder so wird, wie es vorher war; sie will sich wieder in jemanden verlieben, auch wenn sie danach leiden muss. Sollen sie doch die Nebenwirkungen beseitigen, die sich bei ihr jetzt zeigen.
Rosana machte sich zu dem bekannten Gebäude am Stadtrand auf. Es war seltsam: So viele Jahre waren vergangen, und nichts hatte sich hier verändert: dieselbe massive rostige Tür und keine Menschenseele in der Nähe. Zu ihrer eigenen Überraschung hatte Rosana die Visitenkarte von Patrizia zu Hause gefunden und angerufen, aber die Nummer funktionierte nicht mehr. Nun, beruhigte sie sich, die Nummer könnte sich geändert haben. Es wäre so oder so besser, sich direkt an die Firma zu wenden. Also stand sie vor der Tür des Gebäudes und klopfte laut hörbar. Keine Reaktion. Das Mädchen hob einen Stein auf und begann damit gegen die Tür zu hämmern. Es war sehr laut, aber auch das half nichts. Rosana wurde langsam nervös. Sie musste irgendwie hineingelangen. Warum ignorierte man sie? Dazu haben die kein Recht, sie ist schließlich ihre Kundin, sie müssen ihr zuhören. Also donnerte sie weiter gegen die Tür, das Echo hallte über das hohe, verwelkte Gras und rollte dann zurück zu ihr, was sie noch hoffnungsloser stimmte. Schließlich ließ sie sich erschöpft neben der Tür auf den Boden sinken. Aus irgendeinem Grund war sie sich sicher, dass all die Menschen in dem riesigen Labor sie bemerkt hatten und sich jetzt drinnen versteckten. Rosana rief die Polizei, und innerhalb von zehn Minuten traf ein Streifenwagen ein.
Als Rosana gebeten wurde, alles genau zu erklären, begann sie von der Firma EnergoBeben zu erzählen, die sich in diesem Gebäude befinden soll.
„Aber unter dieser Adresse ist kein Unternehmen registriert“, unterbrach sie der Polizist. „Das muss ein Irrtum sein“, entgegnete Rosana, „oder sie sind nicht offiziell registriert. Aber sie sind dort“, sie zeigte auf die Tür, „drinnen. Es gibt viele Angestellte und ein riesiges Labor. Mit ist das früher nicht eingefallen, aber jetzt scheint mir doch, dass sie im Geheimen arbeiten.“
„Sind Sie sicher?“, fragte der Polizist erneut.
„Ja, natürlich, ich bin mir hundertprozentig sicher, ich war dort. Diese Firma hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Menschen die Energie negativer Emotionen zu entziehen und sie für ihre eigenen Zwecke zu nutzen.“
Nach diesen Worten zogen die Polizisten die Augenbrauen verwundert hoch und sahen sich an. Rosana fuhr fort:
„Die Sache ist die, dass ich, nachdem ich ihre Dienste in Anspruch genommen hatte, anfing, mich seltsam zu fühlen ... Wie soll ich sagen ... Zuerst war alles in Ordnung, ich mochte es sogar, aber dann ... Ich glaube, die haben etwas falsch gemacht ... Sie lassen mich nicht rein, obwohl sie doch müssen, ich bin ihr Kunde. Sie haben mir versprochen, dass ich mit allen Fragen zu ihnen kommen kann, sie haben mir eine lebenslange Garantie gegeben - und jetzt ... Bringen Sie sie dazu, die Tür aufzumachen und alles zu erklären.“
Die Polizeibeamten entschuldigten sich und traten zur Seite, um die Sache zu besprechen. Rosana blieb an der Tür stehen und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Nach ein paar Minuten kehrten die Polizisten zurück: „Wir haben den Eigentümer des Hauses kontaktiert“, sagte einer von ihnen, „glücklicherweise wohnt er in der Stadt und kann kommen, um die Tür zu öffnen“.
„Großartig,“ sagte Rosana und rieb sich nervös die Hände.
Etwa eine Stunde später hielt tatsächlich ein Auto, und ein dicker Mann mit einem sehr unzufriedenen Gesichtsausdruck stieg aus.
„Ich habe niemandem etwas vermietet“, begann er sofort, ohne auch nur zu grüßen, „aber wenn wirklich irgendein Gesindel hier ist, werden die es schwer haben, wieder herauszukommen.“
Der Hausbesitzer schloss die Tür auf, und sie gingen alle hinein. Es war kalt und dunkel, genau wie damals, als Rosana mit Patrizia hereingekommen war. Sie gingen einen langen Korridor entlang und blieben schließlich vor der nächsten Tür stehen. Rosana wusste, was sie dahinter sehen würde - das Labor. Sie konnte sich schon die überraschten und verwirrten Gesichter der Arbeiter vorstellen. Sie würde ihnen eine Lektion erteilen, ihnen allen, für das, was sie ihr angetan hatten. Der Mann schloss die Tür auf, und ein muffiger Geruch drang heraus. Der schmutzige Raum war leer, nur ein paar Trümmer lagen auf dem Boden.
„Aber das kann doch nicht sein ...“, flüsterte Rosana, die über die Schulter des Hausbesitzers hineinschaute.
„Wollt ihr mich verarschen?“, knurrte er und drehte sich zu Rosana und den Polizisten um. „Glaubt ihr nicht, dass ich was Besseres zu tun habe, als hier spazierenzufahren?“
„Entschuldigen Sie“, sagten die Polizisten. „Reden wir draußen weiter.“
„Aber ja“, sagte der Hausbesitzer.
„Nein-nein, Sie verstehen das nicht! Die waren hier! In diesem Raum befand sich ein großes Labor, sie hatten auch verschiedene Apparaturen ... Schauen Sie sich um, vielleicht finden Sie Spuren, irgendwelche Beweise ...“
„Ist mit der was nicht in Ordnung?", fragte der Mann die Polizisten unfreundlich.
Sie sahen sich gegenseitig an.
„Doch, mit mir ist alles okay!“, rief Rosana und verursachte ein Echo. „Hier war das Labor der Firma EnergoBeben!“
„Gute Frau, verlassen Sie bitte meine Räumlichkeiten. Ich habe wirklich keine Zeit.“
„Aber ...“ Rosana wollte noch etwas sagen, aber einer der Polizisten nahm sie fest am Unterarm und schob sie vor sich her. Es hatte keinen Sinn, sich zu wehren.
Sie versuchte dann einige Informationen über EnergoBeben und deren Wohltätigkeitsprojekte zu recherchieren - ergebnislos. Im Internet fand sie keinerlei Hinweis, niemand hatte je davon gehört. Manchmal hatte Rosana den seltsamen Gedanken, dass sie sich das alles nur einbildete. Aber sie verscheuchte den Gedanken jedes Mal sofort. Sie war überzeugt, dass es so gewesen, und außerdem hatte war sie der Beweis für die Wirkung - sie konnte keinen Liebeskummer mehr empfinden und auch sonst keine menschlichen Gefühle.
Die Zeit verging und Rosana lebte wie gewohnt weiter: Sie arbeitete, joggte am Fluss und traf sich mit Freunden. Männer traten in ihr unbeschwertes Leben und verließen es ebenso unbeschwert wieder und ohne merkliche Spuren zu hinterlassen. Sie versuchte sich mit der Tatsache abzufinden, dass sich nie etwas ändern würde, aber von Zeit zu Zeit besuchte sie das verlassene Gebäude auf dem Feld außerhalb der Stadt: Vielleicht würde sie dort einmal etwas Seltsames bemerken, die Anwesenheit von jemandem? Vielleicht würde einer von denen eines Tages dorthin zurückkehren? Aber sie sah und hörte dort nie jemanden.
Es war Sommer, als Rosana wieder einmal das verlassene Gebäude aufsuchte. Wie üblich klopfte sie an die Tür, ging umher und wollte gerade gehen, als sie etwas im Schatten des Nachbarhauses bemerkte. Sie ging näher heran und sah, dass es ein Mann war. Er saß mit dem Rücken zur Wand im Gras und starrte auf etwas, das wie ein Stück Zeitung aussah. Anhand seines Aussehens war klar, dass er obdachlos war, so dachte Rosana zumindest. Der Mann hob langsam den Kopf, senkte ihn dann und starrte wieder auf das Zeitungsblatt. die junge Frau wollte ihn etwas fragen, aber er kam ihr zuvor: „Sie sind wieder da?“
„Was?“, wunderte sich Rosana. „Haben Sie mich schon hier gesehen?“
„Ja, und mehr als einmal“, bestätigte der Obdachlose.
„Was machen Sie hier?“
„Ich wohne jetzt hier“, antwortete der Mann ruhig.
„Haben Sie schon einmal jemanden in dieses Gebäude hinein- oder hinausgehen sehen?“, fragte Rosana und deutete hinter sich.
„Ich habe nie jemanden gesehen“, schüttelte der Obdachlose den Kopf.
„Ich verstehe“, seufzte Rosana. „Es tut mir leid, dass ich Sie gestört habe“, sagte sie und wollte gerade gehen, als der Obdachlose plötzlich fragte:
„Sie suchen die doch auch?" Rosana hielt den Atem an, erstarrte und drehte sich dann langsam zu dem Mann um:
„Wen suche ich?“
„Die Leute, die Sie beraubt haben.“
Jetzt sah der Mann Rosana direkt an. Er hatte ein graues, faltiges Gesicht mit sehr hellen, fast durchsichtigen Augen. Sein zotteliger Bart verdeckte die Hälfte seines Gesichts, aber seine Augen waren klar und durchdringend.
„Ich suche die Leute, die mich verletzt haben. Sie haben früher in diesem Gebäude gearbeitet. Aber jetzt sind sie nicht mehr hier, vielleicht gibt es ihre Firma auch nicht mehr.“
Warum hatte sie solche Angst vor den Fragen dieses Obdachlosen? Rosana verstand das nicht.
„Es gibt sie“, sagte der Mann selbstsicher, „wenn nicht hier, dann irgendwo anders, und sie tauchen immer wieder in verschiedenen Ländern der Welt auf.“
„Entschuldigen Sie, ich muss gehen ...“
„Sie stehlen den Schmerz der Menschen und verschwinden mit ihrem Raub.“
Rosana war verblüfft. „Was … was meinen Sie?“
Das Mädchen ging in die Hocke und fasste den alten Mann an den Schultern:
„Sie waren auch dort, Sie haben den Vertrag unterzeichnet?“
„Ja, ich war dort. Nicht hier, nicht in diesem Gebäude und nicht in dieser Gegend, aber sie waren da.“
„Was soll das heißen?“ fragte sie.
„Vor langer Zeit, ich war noch jung, habe ich meinen kleinen Sohn verloren und sehr gelitten. Mir schien, als würde ich nie darüber hinwegkommen. Und eines Tages, als ich am Ufer eines Sees saß und mir die Tränen übers Gesicht rannen, kam ein Mann auf mich zu. Er war älter, hatte graues Haar und freundliche Augen. Ich erinnere mich an ihn, als wäre es gestern gewesen. Er umarmte mich, und ich weinte noch mehr. Der Mann sagte, er könne mir helfen, er könne mir den Schmerz nehmen, und ich folgte ihm, ohne etwas zu fragen. Es war Winter, und die Winter in dieser nördlichen Region können besonders grausam sein. Ich folgte dem Mann, und die Tränen gefroren auf meinen Wangen. Er brachte mich in eine kleine Wohnung, in der es nach Verbranntem roch, da waren zwei weitere Personen, die setzten mir einen seltsamen Helm auf. Ich fragte nichts, denn selbst wenn sie mir ein Messer an die Kehle gehalten hätten, wäre es mit einerlei gewesen. Dann durchfuhr ein leichter Stromschlag meinen Körper. Sie nahmen mir den Helm ab und ich ging nach Hause.“
Rosana war schockiert, sie saß vor ihm und lauschte gespannt. Der Mann beendete seine Erzählung. „Danach weinte ich nicht mehr um meinen Sohn, aber ich war auch nicht glücklich. Ich ließ mich von meiner Frau scheiden, ich wollte keine Kinder mehr.“
„Mit mir haben die das Gleiche gemacht“, sagte sie schwer atmend und aufgeregt. „Sie haben etwas in unseren Körpern kaputtgemacht, uns irgendwie geschadet. Wir müssen herausfinden, wie wir das wieder in Ordnung bringen können...“
„Oh nein“, seufzte der alte Mann, „ich wünschte, es gäbe etwas, was wir machen könnten ... Aber es ist unmöglich. Es ist alles in Ordnung mit unseren Körpern, aber sie haben uns unserer Energie beraubt.“
„Aber mir haben sie gesagt, dass meine körperliche Energie wiederhergestellt wird, da bin ich mir sicher.“
„Ja, der Körper wird sich erholen, aber die Gefühle, die Seele ... Wie Sie sehen, bin ich viel älter als Sie, und ich habe den Rest meines Lebens - nachdem ich erkannt hatte, dass ich nie wieder leiden oder glücklich sein kann - damit verbracht, darüber nachzudenken. Sie wissen wahrscheinlich, dass nach den Gesetzen der Physik Energie nicht aus dem Nichts auftaucht und nicht spurlos verschwindet. Also“, fuhr der alte Mann fort, „gilt das auch für unsere emotionale Energie. Sie ist wie das Wasser auf unserem Planeten, das immer in einer konstanten Menge vorhanden ist. Wasser ist ständig in Bewegung: von der Erde zum Himmel, vom Himmel zur Erde; es wechselt seine Aggregatzustände: es gefriert, schmilzt, verdunstet und kondensiert wieder; es ist ständig in Bewegung - aber es ist immer noch dasselbe Wasser. Wenn die Ozeane sich in nichts auflösen und für immer verschwinden würden, bliebe nichts übrig, woraus Regen werden könnte. So ist es auch mit unseren Gefühlen: Schmerz wird zu Versöhnung, Versöhnung zu Liebe, Liebe zu Hingabe, Hingabe zu Enttäuschung, Enttäuschung zu Wut, Wut zu Schmerz und Schmerz zu Versöhnung. Dies ist ein ewiger Prozess. Wenn du die Energie des Zorns oder des Schmerzes verlierst, kann sie sich niemals in eine andere Emotion verwandeln.
„Also bin ich jetzt sozusagen in einer Dürreperiode?“, fragte Rosana.
„Ja“, nickte der Mann. „Du kannst nicht lieben, deine Liebe kann nicht aus dem Nichts kommen.“
„Diese Leute ... Wussten sie das?“
„Natürlich wussten sie es. Sie müssen es gewusst haben.“
„Aber warum sollten sie das wollen? Die Projekte, von denen sie mir erzählt haben, waren eine Lüge, sie existieren nicht.“
„Energie ist eines der wertvollsten Dinge auf der Welt. Jemand baut riesige Kraftwerke, um sie zu gewinnen, während ein anderer nur einen Helm auf den Kopf eines unglücklichen Menschen setzen und einen Knopf drücken muss. Und solange es Menschen auf der Welt gibt, die auf diese Weise reich werden wollen, sind Menschen, die sich in einem Zustand der Verzweiflung befinden, bedroht. Solche Menschen sind leichte Zielscheiben, sie sind verwirrt und überempfindlich, und sie werden ausgenutzt. Die Menschen verstehen nicht, dass ihr Schmerz auch ihre Stärke ist, denn so sehr man auch leiden mag, man kann wieder glücklich werden und sich freuen. Es braucht nur etwas Zeit, um die Phase des Übergangs der emotionalen Energie von einem Zustand zum anderen zu durchlaufen. Warten bis das Eis schmilzt und zu Wasser wird.“
„Was sollen wir jetzt machen?“
„Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts. Als ich die Gerüchte über ein Labor in dieser Gegend hörte, kam ich sofort hierher. Ich musste mich vergewissern, ob meine Annahme stimmte. Aber es war zu spät - sie waren verschwunden. Sie bleiben nie lange an einem Ort. Seit einigen Monaten treibe ich mich nun in der Gegend herum und hoffe, dass ich vielleicht einige von ihnen hier wiedersehe. Aber ich glaube, das die Hoffnung ist vergeblich. Und ich habe nicht mehr viel Zeit, um der Sache auf den Grund zu gehen und diese Verbrecher zu finden. Wenn ich nicht mehr da bin, musst du meine Arbeit fortsetzen.“
Rosana sah den alten Mann an, sein graues, faltiges Gesicht und seine hellen, durchdringenden Augen.
„Und ich schaffe das?“
„In einer verzweifelten Angelegenheit ist es das Wichtigste, keine Angst zu haben. Und du bist nicht imstande, Angst zu haben. Angst ist ein sehr energieaufwändiges Gefühl, du hast nicht genug Ressourcen dafür. Du bist die perfekte Kandidatin.“
Rosana entgegnete nichts. Sie nahm dem Mann einfach das Stück Zeitung ab, das er immer noch in den Händen hielt und nicht aus der Hand geben wollte. Unten auf der Seite stand eine kleine Notiz, dass eine ältere Frau zur Polizei gegangen war und behauptete, man habe ihr das Gefühl der Kränkung geraubt … und ihre Energie, und sie wolle sie zurück. Die Frau wurde in eine örtliche psychiatrische Klinik eingewiesen.
„Wir müssen mit ihr reden“, sagte Rosana entschlossen und nickte in Richtung der Zeitung. Ein Lächeln erschien in den Mundwinkeln des Mannes.
Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil
„Ein Superangebot“. Von Khrystyna Kozlovska>
Khrystyna Kozlovska, 1989 in Iwano-Frankiwsk, lebt zurzeit als Stipendiatin der Kulturstiftung Sachsen in Leipzig. Ihre in Literaturzeitschriften veröffentlichten Gedichte und ihre Prosawerke sind in viele Sprachen übersetzt und mit Preisen ausgezeichnet. So erhielt sie etwa 2014 und 2021 den Literaturpreis des Verlags Smoloskyp. Derzeit schreibt Khrystyna Kozlovska einen Roman, der dem Genre des magischen Realismus angehören soll und für den sie auf ihr Tagebuch zurückgreifen wird, das sie seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine führt. Weiterhin erstellt sie für eine geplante Ausstellung eine Landkarte zu Orten verbrannter Bücher und zerstörter Kultureinrichtungen der Ukraine. Die Stadtbibliothek Leipzig beauftragte sie, eine ukrainische Bibliothek einzurichten. 2022 nahm sie am Weimarer Schriftstellertreffen von „Eine Brücke aus Papier“ teil, über das das Literaturportal Bayern ausführlich berichtete.
Mit der folgenden auf Deutsch bislang unveröffentlichten Geschichte beteiligt sich Khrystyna Kozlovska an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.
*
Bis vor kurzem kannte Rosana kaum Schmerz, und wenn sie etwas kannte, dann waren es physische Schmerzen. Ein Sturz vom Fahrrad, eine Schnittwunde beim Zubereiten des Essens, Kopfschmerzen nach einem anstrengenden Tag, Regelschmerzen. Tja, vor so einer unangenehmen Sache wie Schmerz kann man sich eben nicht verstecken. Doch all das war nichts im Vergleich zum Seelenleid, das Rosana nun zum ersten Mal erlebte. Gegen solch ein Leid halfen keine Pillen. Rosana atmete tief durch, um sich zu beruhigen, doch das half nichts, im Gegenteil: Mit jedem Schnaufer schien es schlimmer zu werden. Rosana war von ihrem über alles geliebten Mann verlassen worden, eines Tages war er nach Hause gekommen, hatte seine Sachen in eine kleine Tasche gepackt und war ohne große Erklärung auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Wenig später rief er an und teilte ihr mit, dass er sich von ihr getrennt habe, da er Rosana nicht mehr liebe und nichts dagegen machen könne und es somit auch sinnlos sei, sich weiterhin zu sehen, denn es gäbe einfach nichts mehr, worüber man reden müsste. Der Hörer entglitt Rosana. Und dem Hörer hinterher stürzte ihr Herz und zersplitterte klirrend. Rosana weinte lange und heftig, lieber hätte sie sich tagtäglich in den Finger geschnitten, Kopfschmerzen gehabt, ganz gleich was, Hauptsache diesen schrecklich unmenschlichen Schmerz betäuben. Obwohl ihr Herz gebrochen war, musste es weiter schlagen und jeder Schlag war qualvoll.
Rosana sehnte sich danach, dass man ihr erkläre, worin der Sinn ihrer großen Liebe zu diesem Mann lag, welchen Sinn die gemeinsamen Jahre gehabt hatten, aber natürlich konnte es ihr keiner erklären, und so blieb Rosana nichts übrig als fortwährend sich selbst auszuforschen. Die Selbsterforschung quälte und erschöpfte sie, manchmal war sie von den endlosen inneren Monologen völlig mürbe und sie fiel in tiefe und zähflüssige Träume, die durch ihr Unterbewusstsein strömten wie blubbernd giftiges Pech. Solche Träume brachten keine Erholung, schenkten kein Vergessen, sondern waren vielmehr eine Parallelwelt, surrealer Wahn und ein aufdringlicher Nachgeschmack beim Aufwachen. Rosana versuchte ihre Würde wieder zu erlangen und wollte die Nummer des Mannes vom Handy löschen, doch die Würde schien Rosana auf immer verlassen zu haben, und so wischten die Finger eins ums andere Mal über das Handydisplay und wählten die bekannte Nummer. Der Mann reagierte nicht, schließlich verschwand er aus dem Netz, spurlos, als hätte es ihn nie gegeben. Tage vergingen, Wochen und schließlich Monate, doch der Schmerz blieb und ließ nicht nach. Rosana hörte immer wieder den Spruch „Zeit heilt alle Wunden“ und dass „alles im Leben endlich ist“, und dass alles, was uns nicht umbringt, uns stählt. Doch all diese Worte waren nur leere Hülsen für sie. Rosana wollte schreien und um sich schlagen, denn was mit ihr geschah, war einfach nur ungerecht, furchtbar ungerecht! Rosana wanderte durch die leeren Straßen der Stadt, über die Uferpromenaden zu später Stunde, ging zu Konzerten, die niemand besuchen wollte, trieb sich in den entlegensten Teilen der Parks herum - und die ganze Zeit über drückte sie das Foto ihres Mannes in der Tasche mit der Hand zusammen. Ihr Leben war unerträglich, ihre Tage waren grau, ihre Träume schwer, ihre Gedanken anstrengend und ihre Zukunft leer.
Rosana war bereits seit einigen Stunden im herbstlichen Park unterwegs, ein unangenehmer Sprühregen fiel, ihr Haar klebte in nassen Strähnen an ihrem Jackenkragen und der Schulter, ihre Arme waren völlig taub, aber das machte ihr nichts aus. Irgendwann wurde sie unglaublich müde, ihre Beine gaben nach, und Rosana ließ sich auf eine Bank fallen. Sie saß da und starrte zwischen den Bäumen in die Ferne. Es war gut, dass das Wetter so mies war, es vertrieb all die Tagediebe, die sonst vorbeikamen, all die Leute, die Rosana längst auf die Nerven gingen. Und jetzt, wo niemand da war, erlaubte sie sich etwas, was sie bisher nicht erlaubt hatte. Sie weinte. Die Tränen kullerten ihr über die regennassen Wangen, ihre Brust bebte, und braune Blätter fielen von den Bäumen.
„Guten Tag“, rief plötzlich jemand Rosana zu. Sie sah auf und erblickte einen Mann und eine Frau, die sie nicht kannte, unter einem gemeinsamen Regenschirm, sie lächelten sie an. Rosana wischte schnell mit beiden Händen die Tränen fort und sah die beiden nun mit vor Weinen roten Augen eingerahmt von geschwollenen Lidern an.
„Guten Tag“, entgegnete sie schließlich.
„Ich heiße Walentyn, und das ist Patrizia“, sagte der Mann. „Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?“
„Ja,“ antwortete sie verwirrt und rückte an den Rand der Bank.
„Dürfen wir ihren Namen erfahren?“, fragte diesmal die Frau mit sanfter Stimme.
„Rosana. Warum wollen Sie meinen Namen wissen?“
Sie war nicht in der Stimmung, jemanden kennen zu lernen. Sie wollte aufstehen und gehen und die beiden auf der Bank zurücklassen, auf der sie so gerne sitzen wollten. Übrigens bemerkte Rosana erst jetzt, dass alle Bänke in der Nähe frei waren. Sie blickte die beiden fragend an.
„Rosana“, fuhr die Frau fort, „wir haben bemerkt, dass du traurig bist, oder?“
„Was?“. Sie verstand nicht. „Was meinen Sie damit?“
„Bist du gerade traurig, Rosana?“, fragte die Frau erneut, nur diesmal jedes Wort langsam und deutlich.
„Nun ja … aber was soll das schon bedeuten?“
„Die Sache ist die, liebe Rosana, dass es viel mehr bedeutet, als du dir vorstellen kannst, und nicht nur für dich.“
„Was soll der Unsinn!“, ärgerte sich Rosana. „Und wie kommen Sie überhaupt darauf, dass ich traurig bin?“
„Du sitzt allein in einem kalten und verregneten Park und weinst“, sagte Patrizia ruhig. „Gerade bist du ein wenig gereizt, wirst wütend wegen einfacher Fragen, und das bedeutet, dass dein Nervensystem ein wenig überanstrengt ist. Meine Erfahrung sagt mir, dass du kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehst. Aus all diesen Umständen schließe ich, dass in deinem Leben nicht alles in Ordnung ist.
Rosana sagte nichts, sondern schaute abwechselnd Patrizia und Walentyn mit großen Augen an.
„Hat meine Kollegin denn nicht Recht mit all dem, was sie gerade gesagt hat, Rosana?“, fragte der Mann.
„Und selbst wenn, worum geht es denn?“
„Es geht darum, dass wir dir helfen können, Rosana.“
„Wie?“, schnaubte sie und hatte das Gefühl, dass dieses dumme Gespräch beendet werden sollte. „Wollen Sie mir Bücher mit irgend so einer coolen neuen Philosophie andrehen, die Körper und Seele heilt?“
„Nein, Rosana“, sagte der Mann, „es geht um etwas viel Realeres. Philosophie ist nur Selbstbetrug, eine Illusion, ja, eine Pseudowissenschaft. Wir dagegen“, und er sah Patricia an, „sind echte Wissenschaftler, und wenn wir etwas anbieten, dann sind es konkrete, effektive Mittel zur Lösung eines Problems. Wir arbeiten mit Daten und realen Fakten, und werfen nicht nur mit Worten um uns. Wenn wir Ihnen eine Lösung für Ihr Problem anbieten, bedeutet das, dass Ihr Problem gelöst werden kann.“
„Ich habe kein Problem", brummte Rosana und wollte gerade gehen, als Patrizia plötzlich sagte: „Rosana, leidest du nicht gerade jetzt so sehr, dass du lieber sterben möchtest, als weiter mit diesem Horror zu leben?“
Rosana erstarrte. Sie war bereits aufgestanden und stand nun mit dem Rücken zu den seltsamen Fremden unter dem Schirm.
„Willst du dein Leid nicht ein für alle Mal beenden?“, fuhr die Frau fort. „Wir haben viele Menschen wie dich gekannt. Wir spüren ihr Leid, wir erkennen es in ihren Gesichtern, und wir wollen helfen.“
Rosana setzte sich langsam wieder auf die Bank. Sie sah ihre Gesprächspartner nicht einmal an, starrte nur vor sich hin, ein Schluchzen stieg ihren Hals hoch und Tränen wollten hervorbrechen, aber sie hielt sie tapfer zurück. Plötzlich wollte sie alles erzählen, ihren Schmerz teilen. Bisher hatte keiner ihrer Freundinnen, denen sie davon erzählt hatte, sie richtig verstanden - aber aus irgendeinem Grund schien es, als könnten die beiden Fremden sie verstehen.
„Ja, ich bin wirklich verletzt“, hauchte sie, „ich wurde verraten, verlassen, mit Füßen getreten.“
„Wir verstehen dich“, sagte Patrizia leise und berührte Rosanas Schulter. „Wir wissen, wie schwer es ist, aber es wirklich gibt einen Ausweg aus dieser Situation.“.
„Welchen Ausweg denn?“ Rosana blickte sie an.
„Die Sache ist die“, begann Valentyn, „dass emotionaler Schmerz, der durch solch starke Gefühle wie unerwiderte Liebe, den Verlust eines geliebten Menschen, Trauer, Wut oder Hass verursacht wird, sehr mächtig und unglaublich energieintensiv ist. Die Wissenschaftler unseres Unternehmens haben eine revolutionäre Entdeckung gemacht, ja, eine Entdeckung, die bald die ganze Welt verändern und viele komplizierte Probleme lösen wird. Sie haben herausgefunden, wie man diese mächtige Energie aus dem menschlichen Energiefeld aussondern kann, die durch alle oben genannten Faktoren verursacht wird. Sie brauchen nur Ihr Einverständnis geben, und wir werden mittels eines speziellen Geräts diese schädliche Energie entfernen, und damit verschwindet auch die entsprechende Emotion. Einfach gesagt: Wir nehmen dir den Schmerz. Und das ist noch nicht alles. Die Energie, die wir deinem Körper entziehen, wird anschließend für verschiedene gute Zwecke verwendet. Wir haben bereits mehrere laufende Projekte, eines davon ist die Beleuchtung von Häusern in Bergregionen, die nicht an die normale Stromversorgung angeschlossen werden können. Wir versorgen solche Häuser mit tragbaren Laternen, die mit unserer Energie auf karitativer Basis betrieben werden. Außerdem arbeiten wir derzeit an der Entwicklung eines neuen, umweltfreundlichen Autos, das, wie du dir vorstellen kannst, ebenfalls mit unserer Energie betrieben werden soll. Wir sind ein junges, aber sehr ehrgeiziges Unternehmen. Du wirst also nicht nur ein lästiges Gefühl los, das dich daran hindert, ein erfülltes Leben zu führen, sondern du hilfst auch noch einer guten Sache“, beendete Valentyn seine Ausführungen. Rosana sah ihn unverwandt an. Sie brauchte Zeit, um das alles zu verdauen.
„Wow“, war alles, was sie nach dieser Ansprache sagen konnte.
„Hast du irgendwelche Fragen?“, fragte Patrizia und lächelte sanft.
„Ist das wirklich möglich?“, fragte Rosana. „Oder ist das ein Scherz?"
„Kein Scherz“, entgegnete Patrizia. „Hier ist meine Visitenkarte“, sie hielt ihr ein rechteckiges Kärtchen hin. Da steht mein Name und alle Kontaktdaten unserer Firma. Alles ist legal. Du kannst jederzeit vorbeikommen und dich umsehen, mit unseren Fachkräften sprechen. Wir schließen mit unseren Kunden einen Kaufvertrag ab und gewähren außerdem eine lebenslange Garantie.“
„Lebensla-a-ange?“, stammelte Rosana und schaute auf die Visitenkarte.
„Ja, lebenslang“, bestätigte Valentyn.
„Ich weiß nicht ... Ich habe noch nie von solchen Dienstleistungen gehört,“ überlegte Rosana.
„Das liegt daran“, fuhr der Mann fort, „dass wir mit einer allgemeinen Markteinführung noch warten. Wir haben noch nicht die Kapazitäten dafür. Kannst du dir vorstellen, Rosana, wie viele Leute unsere Dienste in Anspruch nehmen wollen?“
„Wahrscheinlich viele“, hob Rosana schließlich den Blick von der Visitenkarte und schaute Valentyn an.
„Ganz genau“, bestätigte der Mann. „Das weiß auch unsere Geschäftsleitung, deshalb hat sie es nicht eilig, Werbung zu machen. Zuerst müssen wir uns vorbereiten, viele neue Mitarbeiter einstellen, die Ausrüstung aufstocken, die Räumlichkeiten erweitern. Das ist eine Menge Arbeit. Wir sind jetzt auf dem besten Weg zu expandieren, und gleichzeitig treiben wir die Arbeit voran.
„Aha, ich verstehe“, nickte die junge Frau.
„Wann können wir dich in unserem Büro erwarten?“, fragte Patrizia sanft. „Kann ich mir deine Telefonnummer notieren?“
„Meine Nummer?“, fragte Rosana erneut, als wäre sie aus einer Hypnose erwacht. „Ich werde sie selbst anrufen, wenn es nötig ist, danke", sagte sie, stand von der Bank auf und ging schnell zum Ausgang des Parks.
Zu Hause, nachdem sie sich ein wenig beruhigt und aufgewärmt hatte, begann Rosana über ihr Abenteuer mit den beiden Fremden und ihr seltsames Angebot nachzudenken und schaute sich Patrizias Visitenkarte noch einmal an, aber je weiter der Tag sich dem Ende zuneigte, desto mehr bezweifelte sie, dass all das echt war und dass sie das so oder so nicht brauchte. Rosana warf die Visitenkarte in eine der Schubladen und nahm sich fest vor, nicht mehr über diesen Unsinn nachzudenken. Aber das Leben ist natürlich unberechenbar - und schon bald, oder besser gesagt am nächsten Tag, kam Rosana die Visitenkarte gelegen. Und das ging so. Am Mittag beschloss sie, einen Abstecher zum Fluss zu machen. Sie schwang sich auf ihr Fahrrad und war nach einer halben Stunde bereits an der Uferpromenade. Sie stellte ihr Fahrrad ab und ging am Fluss entlang, als sie plötzlich in der Ferne eine bekannte Gestalt sah. Rosanas Herz rutschte augenblicklich bis in die Kniekehle und noch weiter, es wurde ihr schwarz vor Augen - sie hatte Glück, dass sie sich gerade noch an einer nahen Bank festhalten konnte, sonst wäre sie glatt umgekippt. Das war er, kein Zweifel, es war ihr Mann. Er ging Hand in Hand mit einem Mädchen, lachte fröhlich und schaute sie ab und zu an - es war dieses lächelnde Profil, an dem sie ihn erkannte. Rosana setzte sich auf die Bank und verharrte, wer weiß wie lange, in Benommenheit. Als sie sich von dem Schock erholt hatte, war es bereits dunkel geworden.
Es gelang ihr nicht gleich die Haustür zu öffnen, ihre Hände zitterten, so dass sie eine Weile brauchte, um mit dem Schlüssel ins Schloss zu treffen. In ihrem Zimmer brach sie dann wie ein Kind in Tränen aus, weinte laut und wollte noch lauter weinen; sie schleuderte ein gerahmtes Foto an die Wand und wollte alles zerschlagen und zerstören, was sie sah. Rosanas Seele schmerzte, und der Schmerz war unerträglich. Sie eilte zu jener Schublade und kippte den Inhalt auf den Boden und fand die Visitenkarte, die sie brauchte. Es war bereits dunkel, aber Rosana beachtete das nicht - es war ihr egal, sie wollte sofort die Dienste dieser verdammten Firma in Anspruch nehmen, sie war bereit, alles auf sich zu nehmen, Hauptsache es würde ihr bessergehen. Nachdem das Telefon zweimal geklingelt hatte, meldete sich eine Frauenstimme.
„Guten Tag“, - sagte sie mit bebender Stimme. „Sind Sie das, Patrizia?“
„Ja, wie kann ich helfen?“
„Ich heiße Rosana, wir haben uns gestern im Park getroffen.“
„Ja, Rosana, ich erinnere mich an Sie.“
„Ich habe nachgedacht und beschlossen ... Kurz gesagt, ich würde gerne Ihre Dienste in Anspruch nehmen.“
„Wunderbar, Rosana, wir werden gerne mit dir zusammenarbeiten. Wann kann ich dich im Büro erwarten?“
Rosana schaute aus dem Fenster und bemerkte erst jetzt, dass es Nacht war. „Es ist wahrscheinlich zu spät für heute Abend.“
„Ja, heute ist es schon zu spät.“
„Morgen früh dann?“
„Ja, natürlich, Rosana, wir werden auf dich warten.“
„Okay, ich werde da sein.“
Rosana wälzte sich die ganze Nacht im Bett hin und her, wachte hundertmal auf und schlief wieder ein, blickte nervös auf die Uhr, aber die Zeit schien wie zum Trotz noch langsamer als sonst zu vergehen. Sobald sie einschlief, tauchte das lächelnde Profil ihres Mannes vor ihr auf; das Einzige, worüber sie froh war, dass es bald vorbei sein würde.
Das Büro von „Energobeben“ befand sich am Stadtrand in einem verlassenen Geschäftsgebäude. Das Gebäude war riesig, wahrscheinlich eine Art Fabrik. Es war nicht leicht für Rosana, hierher zu finden, zunächst unterschätzte sie die Schwierigkeiten, nahm eine Marschrutka, die sie zur Endhaltestelle brachte, danach musste sie noch zwei Kilometer bis zur angegebenen Adresse laufen - zum Glück hatte Rosana halbwegs gutes Internet im Handy, so dass sie die Navigation einschalten konnte. Vor der hohen, rostigen Eisentür zweifelte Rosana jedoch daran, dass dies wirklich das Büro der gesuchten Firma war. Sie zog an der Klinke, aber die Tür war verschlossen. Wahrscheinlich hatte sie sich verlaufen, aber wie konnte die Karte auf ihrem Handy falsch sein? Sie rief Patrizia an und die antwortete ihr auch gleich.
„Guten Tag, Patrizia“, grüßte Rosana, „ich bin an der angegebenen Adresse, aber es gibt hier keine Firma. Ich habe mich anscheinend verlaufen?“
„Nein, schon gut, Rosana, es tut mir leid, dass ich dir nicht, wie sich’s gehört, entgegenkomme. Bitte warte einen Moment.“
Rosana wartete und tatsächlich, bevor sie Zeit gehabt hätte, sich richtig umzusehen, klickte das Schloss an der Innenseite und die schwere, knarrende Tür öffnete sich langsam. Patrizia, noch immer in ihrem perfekt sitzenden Kostüm, lächelte und lud Rosanna mit einer freundlichen Geste ein, einzutreten. Das Mädchen ging durch die offene Tür, Patrizia drückte mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Eisentür, die sich bedrohlich knarrend hinter ihnen wieder schloss. Die Frau ging einen langen, dunklen und kalten Korridor hinunter. Rosana folgte ihr und versuchte, Schritt zu halten. Ihre Schritte und vor allem das Klappern von Patrizias Absätzen hallten in dem riesigen Fabrikgebäude wider. Der Korridor war lang, und Rosana wurde es schon ein wenig mulmig zumute. Schließlich stieß Patrizia mit einer selbstbewussten Bewegung eine weitere, kleinere Tür auf, und Rosana betrat einen riesigen, perfekt beleuchteten Raum, in dem es vor Menschen nur so wimmelte; einige in weißen Kitteln, andere in dunklen Büroanzügen wie Patrizia. Viele Schreibtische, Papierstapel, seltsame Geräte in verschiedenen Größen und Ausführungen, Stromentladungen, die in diesen Geräten kleine Blitze bildeten, Lichtblitze ... Rosana blieb vor Erstaunen der Mund offen. Patrizia musste das bemerkt haben, denn sie wartete, damit sich die junge Frau umsehen konnte, dann sagte sie: „Rosana, komm mit zu unserem Spezialisten, der wird dir alles genau erklären und einen Kaufvertrag mit dir aufsetzen. Rosana riss sich schließlich von dem Anblick los und folgte Patrizia nickend.
Der Spezialist in einem eleganten Anzug und mit glatt nach hinten gekämmtem Haar sprach begeistert über die Besonderheit und Vorteile ihrer Dienstleistung und erläuterte, worum es in dem Vertrag ging, erläuterte die Rechte und Pflichten beider Parteien. Rosana versuchte, ihm zu folgen, aber aus irgendeinem Grund war sie zu zerstreut, ihre Gedanken schweiften zurück in die kummervolle Vergangenheit und dann wieder in eine theoretisch gute und glückliche Zukunft. Ehrlich gesagt, war ihr der Vertrag ziemlich egal - sie wollte von diesen Leuten nichts anderes, als dass sie sie aus ihrem Elend befreiten. Sie wollte alles so schnell wie möglich hinter sich haben und nach Hause zurückkehren. Schließlich war der Spezialist fertig und legte ein paar Blätter Papier vor ihr auf den Tisch - den Kaufvertrag. Rosana überflog ihn schnell und fragte, wo sie unterschreiben solle. Der Spezialist zeigte auf die richtige Stelle auf der letzten Seite, und sie unterschrieb voller Vertrauen.
Was danach kam, ist alles irgendwie verschwommen. Der lange Monolog des Spezialisten bereitete Rosana Kopfschmerzen, sie massierte ihre Schläfen, bat um ein Glas Wasser, aber nichts half, der Schmerz ließ nicht nach. Dann wurde Rosana ein Helm mit verschiedenfarbigen Drähten aufgesetzt, man bat sie, einige Sekunden lang den Atem anzuhalten, dann erhielt sie einen kleinen Stromschlag, der ihren ganzen Körper durchzuckte - und das war's, die Prozedur zur Übertragung negativer Energie auf EnergoBeben war abgeschlossen. Man nahm ihr den Helm ab, fragte sie, ob es ihr gut gehe, was sie bejahte, dann dankte man ihr für die Kooperation. Der Mitarbeiter im weißen Kittel, der die Energieentnahme durchgeführt hatte, wies sie darauf hin, dass, falls sie sich ein wenig erschöpft fühle, dies nicht auf einen Energieverlust zurückzuführen sei, denn emotionale und physische Energie seien unterschiedliche Dinge und existierten getrennt im Körper. Erschöpfung ist nur auf einen Mangel an körperlicher Energie zurückzuführen - und die erneuert sich bekanntlich mit der Zeit. Rosana bedankte sich und ging zum Ausgang. Patrizia begleitete sie wieder, das Geräusch ihrer Absätze hallte laut und deutlich durch die Gänge, genau wie beim ersten Mal; nur hatte sie diesmal keine Angst mehr vor dem langen, dunklen und kalten Korridor.
Rosana kehrte nach Hause zurück, warf die Tasche mit der Kopie des Vertrags in die Ecke und legte sich ins Bett. Sie schlief tief und fest und träumte nichts, und als sie am Morgen aufwachte, fühlte sie sich voller Energie. Sie schaute auf ihre Uhr und stellte überrascht fest, dass sie sehr lange geschlafen hatte. Gut nur, dass Wochenende war. Sie duschte, trank Kaffee und schaute sich einen Film an. Dann schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf sich selbst, um zu verstehen, was sie fühlte, aber sie konnte nichts Besonderes feststellen. „Vielleicht haben sie mir nur einen Streich gespielt?“, dachte sie. Dann ging Rosana in den Flur und zog ein Foto ihres Mannes aus ihrer Jackentasche, das sie immer bei sich trug. Sie sah es an und ... spürte nichts. Sie stand eine Minute lang da - vielleicht war die Beleuchtung im Flur schlecht? Sie ging zurück ins Zimmer, setzte sich ans Fenster und sah sich das Foto erneut an. Das Ergebnis war zweifellos dasselbe: Das Bild dieser Person rief keinerlei Gefühle in ihr hervor. Hatte es wirklich funktioniert? Ein leichter Schauer durchlief ihren Körper. Rosana eilte zu der Schublade, in der sie die Habseligkeiten ihres Mannes aufbewahrte, die er nicht mitgenommen hatte. Sie hatte nicht die Kraft gehabt, sie wegzuwerfen. Sie roch sofort seinen vertrauten Duft. Da lagen ordentlich gefaltete Hemden, ein Notizbuch, ein Rasierapparat - alles, was sie bis gestern nicht ansehen konnte, ohne in Tränen auszubrechen. Alles war an seinem Platz, genau wie gestern - nur Rosanas Blick war nicht mehr derselbe. Sie betrachtete all diese Dinge ein paar Minuten lang, dann verließ sie das Zimmer und kam mit einer großen Tüte zurück. Sie schüttete den Inhalt der Schublade in die Tüte, knotete sie zu und stellte sie neben die Wohnungstür. Als sie später nach draußen ging, warf sie die Tüte in die Mülltonne.
Für Rosana begann nun ein völlig anderes Leben. Ihr Liebeskummer war verschwunden und machte sich nie mehr bemerkbar. Sie schlief gut, hatte einen guten Appetit und begann sogar, Sport zu treiben. Bei der Arbeit konnte sie sich besser konzentrieren und erledigte ihre Aufgaben schnell und effizient, da sie nicht mehr durch persönliche Probleme abgelenkt wurde. Sie stieg nun schnell auf. Manchmal war Rosana überrascht, wie einfach und angenehm das Leben sein konnte. Es war schade, dass sie das nicht schon früher erkannt und so viel Zeit damit verbracht hatte, sich über dumme Dinge Gedanken zu machen. Und wie gut war es, dass sie diese beiden damals im Park getroffen hatte ...
Der erste Schnee fiel, und Rosana betrachtete ihn am Fenster stehend. Sie hatte den Moment immer geliebt, wenn der erste Schnee fiel. Das Mädchen lächelte. Dann läutete jemand an der Tür. Sie war überrascht, denn es war noch zu früh für Besuch. Sie ging zur Tür und öffnete sie, ohne durch den Spion zu schauen, wer es war. Ihr Mann stand auf der Schwelle. Er hielt einen großen Blumenstrauß in der Hand und starrte ihn aus irgendeinem Grund an. Rosana schaute ihren Mann an, und er schaute auf die Blumen und wagte es nicht, den Blick zu heben. Als er sie schließlich ansah, waren seine Augen voller Tränen und stummem Flehen.
„Verzeih mir“, sagte er leise. „Ich habe einen Fehler gemacht, einen schweren Fehler, als ich dich verlassen habe. Ich habe noch nie in meinem Leben jemanden so sehr geliebt wie dich, und ich werde auch nie eine andere lieben. Du bist das Beste, was mir je passiert ist.“
Rosana blieb stumm. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Sie wollte, dass er zum Ende kam, aber der Mann fuhr fort: „Ich bedauere es so sehr. Ich liebe dich und ich weiß, dass du mich liebst. Ich weiß, dass ich dir sehr verletzt habe, es wird nie wieder vorkommen.
Dann verstummte er. Rosana wusste, dass sie nun etwas sagen musste. Sie wollte diesen Mann, der ihr schon lange fremd war, nicht kränken, aber sie konnte ihm auch nicht helfen. Also sagte sie: „Sorry, aber ich kann dir nicht helfen. Ich bin dir nicht mehr böse, wenn es das ist, worüber du dir Sorgen machst, aber ich kann nicht mit dir zusammenleben, weil ich dich einfach nicht liebe.“
„Was?“ Der Mann wurde blass. „Warum liebst du mich nicht mehr? So lange ist es doch noch gar nicht her. Bist du mit einem anderen zusammen?“
„Erstens will ich mit dir nicht darüber reden, und zweitens komme ich zu spät zur Arbeit, ich kann dieses Gespräch nicht fortsetzen.“
Der Mann versuchte, vor Aufregung etwas zu entgegnen, die Blumen fielen ihm aus der Hand, aber Rosana schlug ihm einfach die Tür vor der Nase zu, und die Sache war für sie zum Glück vorbei. Sie setzte sich an den Küchentisch und dachte nach. Wie dumm, lächerlich und unansehnlich war dieser Mann, warum hatte sie ihn so sehr geliebt? Der Mann stand noch lange vor der geschlossenen Tür, aber schließlich gab er auf und ging. Die Blumen blieben vor Rosanas Tür liegen. Sie hob sie dann auf und stellte sie in eine Vase in der Küche - sie waren doch zu schön, um sie wegzuwerfen. Nach diesem Vorfall kam der Mann noch einige Male und sagte etwas über seine Gefühle, aber Rosana hörte nicht wirklich zu, sondern erklärte nur, dass sie ihn nicht liebte und nicht mehr mit ihm zusammen sein könne. Und all die Male wie beim ersten Mal fragte sie sich, warum er sie nicht verstand, sie nicht in Ruhe ließ. Das einzig Positive an diesen quälenden Besuchen waren die Blumen, die dieser Mann jedes Mal mitbrachte. Rosana freute sich immer auf den Moment, wenn er endlich ging, um sie aufzusammeln. Die Liebe war vergangen, aber nicht die Liebe zu den Blumen. Schließlich gab der Mann endgültig auf, und Rosana atmete erleichtert auf.
Etwas mehr als ein Jahr war vergangen, seit Rosana Demid kennengelernt hatte. Er war ein kluger, lustiger und überraschend netter Kerl. Am Anfang waren Demid und Rosana Freunde, sie redeten viel, spazierten durch die Stadt und gingen ins Kino. Rosana mochte Demid, sie hatte noch nie einen so guten Freund gehabt. Sie konnte Demids Vor- und Nachteile klar erkennen, und er hatte definitiv mehr Vor- als Nachteile. Einmal küsste Demid Rosana, und es war wunderschön, und später bat er sie, mit ihm auszugehen, und sie wehrte sich nicht mehr. Bald lebten Rosana und Demid zusammen. Sie war glücklich, zugleich war diese Veränderung auch nicht leicht für sie. Rosana ärgerte sich etwa über Demids Angewohnheit, sein nasses Handtuch nicht über den Heizkörper zu hängen, über die dämlichen Klingeltöne auf seinem Handy, und sein Schnarchen rief bei ihr ein nervöses Zucken des rechten Augenlids hervor. Mit der Zeit schien Rosana das gemeinsame Bett zu eng zu sein, und seine Angewohnheit das Bad zu benutzen, während sie duschte, empörte sie. Einmal lud Demid Rosana in ein Restaurant ein und machte ihr fast unter Tränen einen Heiratsantrag. Diese ganze Szene kam Rosana lächerlich und sogar vulgär vor, aber sie stimmte natürlich zu. Ja, sie wollte Demid wirklich heiraten und Kinder mit ihm haben, denn sie hatte nie einen besseren Kandidaten für die Rolle des Ehemanns und Vaters kennen gelernt. So ging das häusliche Leid mit Demid noch eine Weile weiter, bis sie sich eines Tages, als er bei der Arbeit war, endlich eingestand, was sie vor sich selbst verheimlicht hatte. Sie liebte Demid nicht - und das war eine Tatsache. Sie wusste nicht, wie sie das ändern sollte, also packte sie ihre sieben Sachen und ging. Dann rief sie Demid an und bat ihn, sie nicht sehen zu wollen, da sie ihn nicht liebe. Demid, schockiert von dem, was er da hörte, rief wieder Rosana an. Das Mädchen ignorierte ein paar Anrufe und schaltete dann einfach das Handy aus. Ihr kam es so vor, als sei ihr schon einmal etwas Ähnliches passiert, aber sie wollte nicht weiter nachforschen, also beschloss sie einfach, nicht mehr an Demid zu denken - und es gelang ihr.
Mit der Zeit verblasste das Bild von Demid und verschwand schließlich ganz aus ihrem Gedächtnis. Nur ein paar Fotos erinnerten an ihn und in solchen Momenten fühlte Rosana diese Verbindung wie eine unerträgliche Last. Sie konnte sich jedoch nicht erinnern, warum. Nach Demid gab es noch andere Männer in Rosanas Leben, aber die Beziehungen hielten nicht lange und die Erinnerungen an sie waren schemenhaft und gerieten still und leise in Vergessenheit. Stattdessen wurde das Gefühl der Einsamkeit immer stärker. Eines Tages, als Rosana allein zu Abend aß, wurde ihr bewusst, dass die schönste Zeit ihres Lebens jene gewesen war, in der sie und ihr Ex-Mann zusammengelebt hatten; und selbst die schreckliche Zeit, in der sie wegen ihm gelitten hatte, erschien ihr wie etwas Unglaubliches, Reines und Intimes. Rosana weinte - das letzte Mal, dass sie geweint hatte, war, als ihr Mann sie verlassen hatte. Aber jetzt weinte sie nicht vor Kummer, nein - sie weinte vor Müdigkeit, und es war eine Müdigkeit durch zu viel Ruhe. Diese Ruhe ließ ihr Leben schnell und unmerklich vergehen, als hätte jemand es vorgespult. Warum war das so? Vielleicht war es wegen der seltsamen Firma, deren Angebot sie genutzt hatte. Hatten sie ihrer Gesundheit geschadet? Vielleicht haben sie ihr Nervensystem oder ihr Immunsystem in irgendeiner Weise geschädigt? Sie wird sie aufsuchen und ihre Unzufriedenheit mit der Dienstleistung äußern. Nein, mehr als das: Sie wird verlangen, dass alles wieder so wird, wie es vorher war; sie will sich wieder in jemanden verlieben, auch wenn sie danach leiden muss. Sollen sie doch die Nebenwirkungen beseitigen, die sich bei ihr jetzt zeigen.
Rosana machte sich zu dem bekannten Gebäude am Stadtrand auf. Es war seltsam: So viele Jahre waren vergangen, und nichts hatte sich hier verändert: dieselbe massive rostige Tür und keine Menschenseele in der Nähe. Zu ihrer eigenen Überraschung hatte Rosana die Visitenkarte von Patrizia zu Hause gefunden und angerufen, aber die Nummer funktionierte nicht mehr. Nun, beruhigte sie sich, die Nummer könnte sich geändert haben. Es wäre so oder so besser, sich direkt an die Firma zu wenden. Also stand sie vor der Tür des Gebäudes und klopfte laut hörbar. Keine Reaktion. Das Mädchen hob einen Stein auf und begann damit gegen die Tür zu hämmern. Es war sehr laut, aber auch das half nichts. Rosana wurde langsam nervös. Sie musste irgendwie hineingelangen. Warum ignorierte man sie? Dazu haben die kein Recht, sie ist schließlich ihre Kundin, sie müssen ihr zuhören. Also donnerte sie weiter gegen die Tür, das Echo hallte über das hohe, verwelkte Gras und rollte dann zurück zu ihr, was sie noch hoffnungsloser stimmte. Schließlich ließ sie sich erschöpft neben der Tür auf den Boden sinken. Aus irgendeinem Grund war sie sich sicher, dass all die Menschen in dem riesigen Labor sie bemerkt hatten und sich jetzt drinnen versteckten. Rosana rief die Polizei, und innerhalb von zehn Minuten traf ein Streifenwagen ein.
Als Rosana gebeten wurde, alles genau zu erklären, begann sie von der Firma EnergoBeben zu erzählen, die sich in diesem Gebäude befinden soll.
„Aber unter dieser Adresse ist kein Unternehmen registriert“, unterbrach sie der Polizist. „Das muss ein Irrtum sein“, entgegnete Rosana, „oder sie sind nicht offiziell registriert. Aber sie sind dort“, sie zeigte auf die Tür, „drinnen. Es gibt viele Angestellte und ein riesiges Labor. Mit ist das früher nicht eingefallen, aber jetzt scheint mir doch, dass sie im Geheimen arbeiten.“
„Sind Sie sicher?“, fragte der Polizist erneut.
„Ja, natürlich, ich bin mir hundertprozentig sicher, ich war dort. Diese Firma hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Menschen die Energie negativer Emotionen zu entziehen und sie für ihre eigenen Zwecke zu nutzen.“
Nach diesen Worten zogen die Polizisten die Augenbrauen verwundert hoch und sahen sich an. Rosana fuhr fort:
„Die Sache ist die, dass ich, nachdem ich ihre Dienste in Anspruch genommen hatte, anfing, mich seltsam zu fühlen ... Wie soll ich sagen ... Zuerst war alles in Ordnung, ich mochte es sogar, aber dann ... Ich glaube, die haben etwas falsch gemacht ... Sie lassen mich nicht rein, obwohl sie doch müssen, ich bin ihr Kunde. Sie haben mir versprochen, dass ich mit allen Fragen zu ihnen kommen kann, sie haben mir eine lebenslange Garantie gegeben - und jetzt ... Bringen Sie sie dazu, die Tür aufzumachen und alles zu erklären.“
Die Polizeibeamten entschuldigten sich und traten zur Seite, um die Sache zu besprechen. Rosana blieb an der Tür stehen und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Nach ein paar Minuten kehrten die Polizisten zurück: „Wir haben den Eigentümer des Hauses kontaktiert“, sagte einer von ihnen, „glücklicherweise wohnt er in der Stadt und kann kommen, um die Tür zu öffnen“.
„Großartig,“ sagte Rosana und rieb sich nervös die Hände.
Etwa eine Stunde später hielt tatsächlich ein Auto, und ein dicker Mann mit einem sehr unzufriedenen Gesichtsausdruck stieg aus.
„Ich habe niemandem etwas vermietet“, begann er sofort, ohne auch nur zu grüßen, „aber wenn wirklich irgendein Gesindel hier ist, werden die es schwer haben, wieder herauszukommen.“
Der Hausbesitzer schloss die Tür auf, und sie gingen alle hinein. Es war kalt und dunkel, genau wie damals, als Rosana mit Patrizia hereingekommen war. Sie gingen einen langen Korridor entlang und blieben schließlich vor der nächsten Tür stehen. Rosana wusste, was sie dahinter sehen würde - das Labor. Sie konnte sich schon die überraschten und verwirrten Gesichter der Arbeiter vorstellen. Sie würde ihnen eine Lektion erteilen, ihnen allen, für das, was sie ihr angetan hatten. Der Mann schloss die Tür auf, und ein muffiger Geruch drang heraus. Der schmutzige Raum war leer, nur ein paar Trümmer lagen auf dem Boden.
„Aber das kann doch nicht sein ...“, flüsterte Rosana, die über die Schulter des Hausbesitzers hineinschaute.
„Wollt ihr mich verarschen?“, knurrte er und drehte sich zu Rosana und den Polizisten um. „Glaubt ihr nicht, dass ich was Besseres zu tun habe, als hier spazierenzufahren?“
„Entschuldigen Sie“, sagten die Polizisten. „Reden wir draußen weiter.“
„Aber ja“, sagte der Hausbesitzer.
„Nein-nein, Sie verstehen das nicht! Die waren hier! In diesem Raum befand sich ein großes Labor, sie hatten auch verschiedene Apparaturen ... Schauen Sie sich um, vielleicht finden Sie Spuren, irgendwelche Beweise ...“
„Ist mit der was nicht in Ordnung?", fragte der Mann die Polizisten unfreundlich.
Sie sahen sich gegenseitig an.
„Doch, mit mir ist alles okay!“, rief Rosana und verursachte ein Echo. „Hier war das Labor der Firma EnergoBeben!“
„Gute Frau, verlassen Sie bitte meine Räumlichkeiten. Ich habe wirklich keine Zeit.“
„Aber ...“ Rosana wollte noch etwas sagen, aber einer der Polizisten nahm sie fest am Unterarm und schob sie vor sich her. Es hatte keinen Sinn, sich zu wehren.
Sie versuchte dann einige Informationen über EnergoBeben und deren Wohltätigkeitsprojekte zu recherchieren - ergebnislos. Im Internet fand sie keinerlei Hinweis, niemand hatte je davon gehört. Manchmal hatte Rosana den seltsamen Gedanken, dass sie sich das alles nur einbildete. Aber sie verscheuchte den Gedanken jedes Mal sofort. Sie war überzeugt, dass es so gewesen, und außerdem hatte war sie der Beweis für die Wirkung - sie konnte keinen Liebeskummer mehr empfinden und auch sonst keine menschlichen Gefühle.
Die Zeit verging und Rosana lebte wie gewohnt weiter: Sie arbeitete, joggte am Fluss und traf sich mit Freunden. Männer traten in ihr unbeschwertes Leben und verließen es ebenso unbeschwert wieder und ohne merkliche Spuren zu hinterlassen. Sie versuchte sich mit der Tatsache abzufinden, dass sich nie etwas ändern würde, aber von Zeit zu Zeit besuchte sie das verlassene Gebäude auf dem Feld außerhalb der Stadt: Vielleicht würde sie dort einmal etwas Seltsames bemerken, die Anwesenheit von jemandem? Vielleicht würde einer von denen eines Tages dorthin zurückkehren? Aber sie sah und hörte dort nie jemanden.
Es war Sommer, als Rosana wieder einmal das verlassene Gebäude aufsuchte. Wie üblich klopfte sie an die Tür, ging umher und wollte gerade gehen, als sie etwas im Schatten des Nachbarhauses bemerkte. Sie ging näher heran und sah, dass es ein Mann war. Er saß mit dem Rücken zur Wand im Gras und starrte auf etwas, das wie ein Stück Zeitung aussah. Anhand seines Aussehens war klar, dass er obdachlos war, so dachte Rosana zumindest. Der Mann hob langsam den Kopf, senkte ihn dann und starrte wieder auf das Zeitungsblatt. die junge Frau wollte ihn etwas fragen, aber er kam ihr zuvor: „Sie sind wieder da?“
„Was?“, wunderte sich Rosana. „Haben Sie mich schon hier gesehen?“
„Ja, und mehr als einmal“, bestätigte der Obdachlose.
„Was machen Sie hier?“
„Ich wohne jetzt hier“, antwortete der Mann ruhig.
„Haben Sie schon einmal jemanden in dieses Gebäude hinein- oder hinausgehen sehen?“, fragte Rosana und deutete hinter sich.
„Ich habe nie jemanden gesehen“, schüttelte der Obdachlose den Kopf.
„Ich verstehe“, seufzte Rosana. „Es tut mir leid, dass ich Sie gestört habe“, sagte sie und wollte gerade gehen, als der Obdachlose plötzlich fragte:
„Sie suchen die doch auch?" Rosana hielt den Atem an, erstarrte und drehte sich dann langsam zu dem Mann um:
„Wen suche ich?“
„Die Leute, die Sie beraubt haben.“
Jetzt sah der Mann Rosana direkt an. Er hatte ein graues, faltiges Gesicht mit sehr hellen, fast durchsichtigen Augen. Sein zotteliger Bart verdeckte die Hälfte seines Gesichts, aber seine Augen waren klar und durchdringend.
„Ich suche die Leute, die mich verletzt haben. Sie haben früher in diesem Gebäude gearbeitet. Aber jetzt sind sie nicht mehr hier, vielleicht gibt es ihre Firma auch nicht mehr.“
Warum hatte sie solche Angst vor den Fragen dieses Obdachlosen? Rosana verstand das nicht.
„Es gibt sie“, sagte der Mann selbstsicher, „wenn nicht hier, dann irgendwo anders, und sie tauchen immer wieder in verschiedenen Ländern der Welt auf.“
„Entschuldigen Sie, ich muss gehen ...“
„Sie stehlen den Schmerz der Menschen und verschwinden mit ihrem Raub.“
Rosana war verblüfft. „Was … was meinen Sie?“
Das Mädchen ging in die Hocke und fasste den alten Mann an den Schultern:
„Sie waren auch dort, Sie haben den Vertrag unterzeichnet?“
„Ja, ich war dort. Nicht hier, nicht in diesem Gebäude und nicht in dieser Gegend, aber sie waren da.“
„Was soll das heißen?“ fragte sie.
„Vor langer Zeit, ich war noch jung, habe ich meinen kleinen Sohn verloren und sehr gelitten. Mir schien, als würde ich nie darüber hinwegkommen. Und eines Tages, als ich am Ufer eines Sees saß und mir die Tränen übers Gesicht rannen, kam ein Mann auf mich zu. Er war älter, hatte graues Haar und freundliche Augen. Ich erinnere mich an ihn, als wäre es gestern gewesen. Er umarmte mich, und ich weinte noch mehr. Der Mann sagte, er könne mir helfen, er könne mir den Schmerz nehmen, und ich folgte ihm, ohne etwas zu fragen. Es war Winter, und die Winter in dieser nördlichen Region können besonders grausam sein. Ich folgte dem Mann, und die Tränen gefroren auf meinen Wangen. Er brachte mich in eine kleine Wohnung, in der es nach Verbranntem roch, da waren zwei weitere Personen, die setzten mir einen seltsamen Helm auf. Ich fragte nichts, denn selbst wenn sie mir ein Messer an die Kehle gehalten hätten, wäre es mit einerlei gewesen. Dann durchfuhr ein leichter Stromschlag meinen Körper. Sie nahmen mir den Helm ab und ich ging nach Hause.“
Rosana war schockiert, sie saß vor ihm und lauschte gespannt. Der Mann beendete seine Erzählung. „Danach weinte ich nicht mehr um meinen Sohn, aber ich war auch nicht glücklich. Ich ließ mich von meiner Frau scheiden, ich wollte keine Kinder mehr.“
„Mit mir haben die das Gleiche gemacht“, sagte sie schwer atmend und aufgeregt. „Sie haben etwas in unseren Körpern kaputtgemacht, uns irgendwie geschadet. Wir müssen herausfinden, wie wir das wieder in Ordnung bringen können...“
„Oh nein“, seufzte der alte Mann, „ich wünschte, es gäbe etwas, was wir machen könnten ... Aber es ist unmöglich. Es ist alles in Ordnung mit unseren Körpern, aber sie haben uns unserer Energie beraubt.“
„Aber mir haben sie gesagt, dass meine körperliche Energie wiederhergestellt wird, da bin ich mir sicher.“
„Ja, der Körper wird sich erholen, aber die Gefühle, die Seele ... Wie Sie sehen, bin ich viel älter als Sie, und ich habe den Rest meines Lebens - nachdem ich erkannt hatte, dass ich nie wieder leiden oder glücklich sein kann - damit verbracht, darüber nachzudenken. Sie wissen wahrscheinlich, dass nach den Gesetzen der Physik Energie nicht aus dem Nichts auftaucht und nicht spurlos verschwindet. Also“, fuhr der alte Mann fort, „gilt das auch für unsere emotionale Energie. Sie ist wie das Wasser auf unserem Planeten, das immer in einer konstanten Menge vorhanden ist. Wasser ist ständig in Bewegung: von der Erde zum Himmel, vom Himmel zur Erde; es wechselt seine Aggregatzustände: es gefriert, schmilzt, verdunstet und kondensiert wieder; es ist ständig in Bewegung - aber es ist immer noch dasselbe Wasser. Wenn die Ozeane sich in nichts auflösen und für immer verschwinden würden, bliebe nichts übrig, woraus Regen werden könnte. So ist es auch mit unseren Gefühlen: Schmerz wird zu Versöhnung, Versöhnung zu Liebe, Liebe zu Hingabe, Hingabe zu Enttäuschung, Enttäuschung zu Wut, Wut zu Schmerz und Schmerz zu Versöhnung. Dies ist ein ewiger Prozess. Wenn du die Energie des Zorns oder des Schmerzes verlierst, kann sie sich niemals in eine andere Emotion verwandeln.
„Also bin ich jetzt sozusagen in einer Dürreperiode?“, fragte Rosana.
„Ja“, nickte der Mann. „Du kannst nicht lieben, deine Liebe kann nicht aus dem Nichts kommen.“
„Diese Leute ... Wussten sie das?“
„Natürlich wussten sie es. Sie müssen es gewusst haben.“
„Aber warum sollten sie das wollen? Die Projekte, von denen sie mir erzählt haben, waren eine Lüge, sie existieren nicht.“
„Energie ist eines der wertvollsten Dinge auf der Welt. Jemand baut riesige Kraftwerke, um sie zu gewinnen, während ein anderer nur einen Helm auf den Kopf eines unglücklichen Menschen setzen und einen Knopf drücken muss. Und solange es Menschen auf der Welt gibt, die auf diese Weise reich werden wollen, sind Menschen, die sich in einem Zustand der Verzweiflung befinden, bedroht. Solche Menschen sind leichte Zielscheiben, sie sind verwirrt und überempfindlich, und sie werden ausgenutzt. Die Menschen verstehen nicht, dass ihr Schmerz auch ihre Stärke ist, denn so sehr man auch leiden mag, man kann wieder glücklich werden und sich freuen. Es braucht nur etwas Zeit, um die Phase des Übergangs der emotionalen Energie von einem Zustand zum anderen zu durchlaufen. Warten bis das Eis schmilzt und zu Wasser wird.“
„Was sollen wir jetzt machen?“
„Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts. Als ich die Gerüchte über ein Labor in dieser Gegend hörte, kam ich sofort hierher. Ich musste mich vergewissern, ob meine Annahme stimmte. Aber es war zu spät - sie waren verschwunden. Sie bleiben nie lange an einem Ort. Seit einigen Monaten treibe ich mich nun in der Gegend herum und hoffe, dass ich vielleicht einige von ihnen hier wiedersehe. Aber ich glaube, das die Hoffnung ist vergeblich. Und ich habe nicht mehr viel Zeit, um der Sache auf den Grund zu gehen und diese Verbrecher zu finden. Wenn ich nicht mehr da bin, musst du meine Arbeit fortsetzen.“
Rosana sah den alten Mann an, sein graues, faltiges Gesicht und seine hellen, durchdringenden Augen.
„Und ich schaffe das?“
„In einer verzweifelten Angelegenheit ist es das Wichtigste, keine Angst zu haben. Und du bist nicht imstande, Angst zu haben. Angst ist ein sehr energieaufwändiges Gefühl, du hast nicht genug Ressourcen dafür. Du bist die perfekte Kandidatin.“
Rosana entgegnete nichts. Sie nahm dem Mann einfach das Stück Zeitung ab, das er immer noch in den Händen hielt und nicht aus der Hand geben wollte. Unten auf der Seite stand eine kleine Notiz, dass eine ältere Frau zur Polizei gegangen war und behauptete, man habe ihr das Gefühl der Kränkung geraubt … und ihre Energie, und sie wolle sie zurück. Die Frau wurde in eine örtliche psychiatrische Klinik eingewiesen.
„Wir müssen mit ihr reden“, sagte Rosana entschlossen und nickte in Richtung der Zeitung. Ein Lächeln erschien in den Mundwinkeln des Mannes.
Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil