Aufbrüche in den Frühling (3)
Zur Reihe: In Aufs Jahr geschaut widmet sich jeweils eine Autorin oder ein Autor des Literaturportals Bayern auf literarisch-künstlerische Weise einer Jahreszeit und gewinnt dieser im Format eines monatlichen Beitrags poetische, politische, alltagssensibel-lyrische oder bildhafte Reflektionen ab, welche die Leserschaft einmal ganz anders „aufs Jahr schauen“ lässt. In den Monaten April, Mai und Juni „blickt“ für uns auf den Frühling, so wie er ihn sieht, der Autor Gerald Fiebig.
*
Es ist der 27. Juni 2024, und heute vor dreißig Jahren starb der RAF-Terrorist Wolfgang Grams. Wäre er noch am Leben und auf freiem Fuß, würde er heute vielleicht der Hamas dienlich sein. Denn jüdische Geiseln zu foltern und umzubringen fand die RAF ja schon 1972 „gleichzeitig antiimperialistisch, antifaschistisch und internationalistisch“, so Ulrike Meinhof in der Erklärung zum Münchner Olympia-Attentat, bei dem eine palästinensische Terrorgruppe elf israelische Sportler gefangen nahm und zwei der Athleten ermordete. Judenmord wurde damit in linksradikalen Zirkeln Deutschlands als Antifaschismus ‚gerechtfertigt‘, und das keine dreißig Jahre nach der Befreiung der Vernichtungslager des NS-Faschismus.
Man wäre geneigt, diese Wahnvorstellung der antizionistischen Linken für etwas sehr spezifisch Deutsches zu halten, gemäß dem Bonmot des österreichisch-israelischen Psychoanalytikers Zvi Rix: „Auschwitz werden uns die Deutschen niemals verzeihen!“ Aber dann schaut man sich heutige junge Aktivist:innen an – ohne biografischen Bezug zu deutschen Täter:innen und erst weitere dreißig Jahre nach dem Olympia-Attentat geboren –, die unter Slogans wie „Palestine is a queer issue“ oder „Gays for Gaza“ die Hamas feiern, in deren Weltbild für queere Menschen genauso wenig Platz ist wie für jüdische. Und man fragt sich: Kann das denn wahr sein? Und geht das immer so weiter? Wäre dieser antisemitische Blödsinn nicht so gefährlich, könnte man ihn für einen schlechten Witz halten – oder für einen Alptraum.
Dass die Geschichte ein Alptraum ist, aus dem man gerne aufwachen möchte – dieses Gefühl hat Stephen Dedalus in Ulysses ja schon auf den vielzitierten Punkt gebracht. Zitiert bis zur Klischeehaftigkeit, weil eben so vage und so postpubertär-pathetisch, wie Stephen Dedalus manchmal ist. Den ganz konkreten und real erlittenen Alptraum des Antisemitismus thematisiert Joyce jedoch in Gestalt von Leopold Bloom, dem jüdischen Protagonisten seines Romans. (Bloom beschäftigt sich im Roman stellenweise auch mit dem zionistischen Siedlungsprojekt in Palästina. Wahrscheinlich wird der Roman deshalb in Kürze auf jedem Campus von Berkeley bis Wien von engagierten Literaturstudent:innen als Ausdruck imperialistischer, „siedlerkolonialistischer“ Gesinnung verbrannt. Falls irgendjemand aus dem Lehrpersonal sich noch traut, Lehrveranstaltungen zu Ulysses anzubieten, wird es wohl nicht ohne Triggerwarnung abgehen: „Enthält sexistische und zionistische Inhalte“.)
Der eine Tag, an dem Ulysses spielt, der 16. Juni 1904, ist heute einhundertzwanzig Jahre und elf Tage her. Oder müsste man, da es sich ja um eine fiktive Handlung handelt, sagen: Der 16. Juni 1904, wie er in Ulysses erzählt wird, wäre heute einhundertzwanzig Jahre und elf Tage her gewesen, wenn es sich um eine reale Handlung gehandelt hätte. Also um reale Geschichte – den Alptraum, siehe oben – und nicht um einen Traum, genauer: einen Tagtraum. Und zwar einen Tagtraum von einem konkreten (aber fiktiven) Tag, nämlich eben dem 16. Juni 1904, also um eine erfundene Geschichte? Jenseits – oder diesseits, einigen wir uns vielleicht der Einfachheit halber auf abseits – solcher theoretischen Überlegungen hat sich die Praxis etabliert, am 16. Juni den Bloomsday zu begehen, sich also in Dublin an den Originalschauplätzen des Romans auf die Spuren von dessen Protagonist:innen zu begeben.
Der Aufbruch zu einer Bloomsday-Tour ist, nicht nur in Dublin, sondern überall auf der Nordhalbkugel, ein Aufbruch in den Frühling – denn der steht am 16. Juni ja noch in full bloom, bevor er fünf Tage später verblüht, um den Platz zu räumen für die Fruchtstände des Sommers.
Im Werk von Joyce dagegen stellt Ulysses zweifelsohne den Sommer der Hochmoderne dar, von dem aus er dann mit Finnegans Wake zum allmählich Richtung Postmoderne dämmernden, langen dunklen Fünf-Uhr-Tee der Sprache aufbrechen wird. Der Frühling zum Sommer von Ulysses ist selbstverständlich – da durch die Figur von Stephen eine direkte Verbindung besteht – in erster Linie Ein Porträt des Künstlers als junger Mann. Doch ob Frühling oder Sommer, der Ulysses ist natürlich wie sein antikes Vorbild eine Geschichte des Aufbruchs par excellence. Oder vielmehr: der Aufbrüche, im Plural. Denn genau das zeichnet die klassische und die moderne Odyssee ja aus: Dass der Held nicht bei A aufbricht, reist und bei B ankommt, sondern dass er immer wieder stecken-, stehen-, sitzen- oder hängenbleibt, am Fortkommen scheitert. Bis ihm dann doch ein erneuter Aufbruch gelingt: „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.“
Dieses ebenfalls stark strapazierte Zitat ist natürlich nicht von Joyce, sondern von einem anderen Iren, der wie sein Landsmann Joyce in biografischer wie literarischer Hinsicht aus dem englischen Sprachraum hinaus aufbrach. Während Joyce in Finnegan's Wake sozusagen die Mehrsprachigkeit ins Englische hineinholte (was sich in Ulysses ja bereits andeutet), erschloss sich Samuel Beckett, aus dessen Prosa Worstward Ho das Zitat stammt, mit seinem charakteristischen Französisch eine zusätzliche Literatursprache ganz eigener Prägung.
Glaubt man der Legende (also der Wikipedia), so war Samuel Beckett beim ersten Bloomsday dabei. Also nicht am 16. Juni 1904, da war er noch nicht geboren, bzw. wäre er noch nicht geboren gewesen, wenn es sich bei diesem Tag um einen realen Tag gehandelt hätte, sondern bei der ersten Begehung des Bloomsday als Ritual am 16. Juni 1929 – nicht am Originalschauplatz des Romans, sondern in Paris, wo Joyce und Beckett damals beide lebten. Im Wikipedia-Artikel Bloomsday heißt es: „Joyce hatte in der Nähe von Paris ein Hotel Leopold entdeckt und lud seine Familie, seine Verlegerin Sylvia Beach und einige befreundete Schriftsteller, darunter Samuel Beckett, dorthin zu einem ‚déjeuner Ulysses‘ ein.“
Da würde einen natürlich die Speisenfolge interessieren! Hätte sich ein französischer Maître de cuisine von Joyce überreden lassen, unter Aufgabe jeglicher Berufsehre ein Menü aus Gorgonzolabrot und angebrannter Schweineniere zu kredenzen, nur um einen Bezug zur Romanhandlung herzustellen? Doch über das Menü schweigt sich die Wikipedia aus. Stattdessen zitiert sie eine von David Norris überlieferte Anekdote, die spärlich belegt ist, aber viel zu gut, um sie nicht zu glauben: „Auf dem Rückweg nach Paris […] bestanden Joyce und Beckett darauf, an jeder Kneipe anzuhalten, um noch mehr Wein zu trinken. Irgendwann wurde es dem Kutscher, der die Gesellschaft begleitete, zu bunt. Er fuhr los und ließ den völlig betrunkenen Beckett in einer Kneipentoilette zurück, von der dieser erst am nächsten Tag wieder nach Paris zurück gelangte.“
Die Poesie dieser Anekdote liegt darin, dass uns Beckett darin erscheint wie eine seiner literarischen Figuren. Ausgestoßene, Vor-die-Tür-Gesetzte, doch auch Eingesperrte und Nicht-mehr-vom-Fleck-Kommende bevölkern ja allenthalben sein Werk.
Beckett und sein Fan Fiebig (Collage Gerald Fiebig)
Während Stephen Dedalus am Bloomsday sich die Geschichte noch als einen in der Zeit verlaufenden Prozess vorstellen kann – ob man diesen nun durch Aufwachen verlassen kann oder nicht – , dreht sich bei Beckett alles um Stillstand. Sein Werk spielt am Doomsday, am Ende von allem, oder vielmehr: unmittelbar vorher oder nachher. Die Frage, ob es sich um ein Davor oder ein Danach handelt, ist meist sehr schwierig zu entscheiden, was nicht unwesentlich zur Faszination seiner Texte beiträgt. Das Endspiel etwa erschien seinen Zeitgenossen durchaus als „Atomstück“ (Theodor W. Adorno) über die Situation nach einer nuklearen (Kriegs-)Katastrophe, aber es war immer klar, dass es sich nicht darauf reduzieren lässt.
Und ein Text wie Der Verwaiser, der sich explizit auf Dantes Hölle (also eine Nach-Tod-Erfahrung) bezieht, irritiert immer wieder mit der Möglichkeit, dass es eben vielleicht doch noch nicht vorbei ist: „Alles geht vielleicht zu Ende.“ Aber wann? Und wo? Und wie oft? Der Verwaiser steht unverhohlen vor einem Doomsday-Horizont. Aber ist damit ein einmaliges Geschehen gemeint? Der französische Text Le dépeupleur spricht von „une fin de monde“, also „einem Weltenende“ (so hat es Elmar Tophoven übersetzt, aber das stärker zum Singular tendierende „Weltende“ wäre auch legitim) – könnte es also mehrere Enden (einer oder mehrerer Welten?) geben?
Becketts eigene englische Fassung The Lost Ones spricht von „the end of a world“, also das (einzige) Ende einer Welt. – Das dann wohl jeder Welt bevorsteht, aber wie viele Welten mag es wohl geben, denen es widerfährt? Widerfahren wird? Schon widerfahren ist?
„Seit jeher geht das Gerücht, oder noch besser, gilt der Gedanke, daß es einen Ausweg gibt.“ Dieser Satz aus Der Verwaiser ist ein Schlüssel dazu, warum einen das Werk von Beckett nicht in Ruhe lässt: Weil es einem die Nichtigkeit allen Strebens in einem entropischen Universum mit sinnlicher Prägnanz vor Augen führt – und einem gleichzeitig den quasimetaphysischen, nirvanagleichen Trost der Selbstaufgabe versagt, den die Vorstellung eines völligen Stillstands ja auch in sich birgt.
Doch nein, nicht einmal der Stillstand kann in einer zutiefst unperfekten Welt perfekt sein. Man weiß, dass es kein Alptraum ist, aus dem man erwachen könnte, und dass sich jede Hoffnung als „Gerücht“ erweisen wird. Man wird also immer wieder aufbrechen müssen, „to fail better“. – Aber manchmal reicht die Kraft eben nur für den Aufbruch zu einer Sauftour, um die nagende Stimme der Hoffnung kurz zum Verstummen zu bringen.
„Kunst“, schrieb Adorno in seinen Bemerkungen über Beckett in der Ästhetischen Theorie, „vermag mit ihrer eigenen Existenz nur dadurch zu versöhnen, daß sie die eigene Scheinhaftigkeit, ihren inwendigen Hohlraum nach außen kehrt.“ Oder eben diesen inwendigen Hohlraum mit Alkohol füllt, so wie Beckett zusammen mit Joyce am 16. Juni 1929, den Doomsday. Sic! Weil in der Welt, die Beckett uns gezeigt hat, jeder Tag Doomsday ist. Und der nächste auch. Egal zu welcher Jahreszeit.
In diesem Sinne: Cheers! Santé! Sláinte! Und auf in den Sommer. Der Frühling ist ja schon seit sieben Tagen vorbei.
Aufbrüche in den Frühling (3)>
Zur Reihe: In Aufs Jahr geschaut widmet sich jeweils eine Autorin oder ein Autor des Literaturportals Bayern auf literarisch-künstlerische Weise einer Jahreszeit und gewinnt dieser im Format eines monatlichen Beitrags poetische, politische, alltagssensibel-lyrische oder bildhafte Reflektionen ab, welche die Leserschaft einmal ganz anders „aufs Jahr schauen“ lässt. In den Monaten April, Mai und Juni „blickt“ für uns auf den Frühling, so wie er ihn sieht, der Autor Gerald Fiebig.
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Es ist der 27. Juni 2024, und heute vor dreißig Jahren starb der RAF-Terrorist Wolfgang Grams. Wäre er noch am Leben und auf freiem Fuß, würde er heute vielleicht der Hamas dienlich sein. Denn jüdische Geiseln zu foltern und umzubringen fand die RAF ja schon 1972 „gleichzeitig antiimperialistisch, antifaschistisch und internationalistisch“, so Ulrike Meinhof in der Erklärung zum Münchner Olympia-Attentat, bei dem eine palästinensische Terrorgruppe elf israelische Sportler gefangen nahm und zwei der Athleten ermordete. Judenmord wurde damit in linksradikalen Zirkeln Deutschlands als Antifaschismus ‚gerechtfertigt‘, und das keine dreißig Jahre nach der Befreiung der Vernichtungslager des NS-Faschismus.
Man wäre geneigt, diese Wahnvorstellung der antizionistischen Linken für etwas sehr spezifisch Deutsches zu halten, gemäß dem Bonmot des österreichisch-israelischen Psychoanalytikers Zvi Rix: „Auschwitz werden uns die Deutschen niemals verzeihen!“ Aber dann schaut man sich heutige junge Aktivist:innen an – ohne biografischen Bezug zu deutschen Täter:innen und erst weitere dreißig Jahre nach dem Olympia-Attentat geboren –, die unter Slogans wie „Palestine is a queer issue“ oder „Gays for Gaza“ die Hamas feiern, in deren Weltbild für queere Menschen genauso wenig Platz ist wie für jüdische. Und man fragt sich: Kann das denn wahr sein? Und geht das immer so weiter? Wäre dieser antisemitische Blödsinn nicht so gefährlich, könnte man ihn für einen schlechten Witz halten – oder für einen Alptraum.
Dass die Geschichte ein Alptraum ist, aus dem man gerne aufwachen möchte – dieses Gefühl hat Stephen Dedalus in Ulysses ja schon auf den vielzitierten Punkt gebracht. Zitiert bis zur Klischeehaftigkeit, weil eben so vage und so postpubertär-pathetisch, wie Stephen Dedalus manchmal ist. Den ganz konkreten und real erlittenen Alptraum des Antisemitismus thematisiert Joyce jedoch in Gestalt von Leopold Bloom, dem jüdischen Protagonisten seines Romans. (Bloom beschäftigt sich im Roman stellenweise auch mit dem zionistischen Siedlungsprojekt in Palästina. Wahrscheinlich wird der Roman deshalb in Kürze auf jedem Campus von Berkeley bis Wien von engagierten Literaturstudent:innen als Ausdruck imperialistischer, „siedlerkolonialistischer“ Gesinnung verbrannt. Falls irgendjemand aus dem Lehrpersonal sich noch traut, Lehrveranstaltungen zu Ulysses anzubieten, wird es wohl nicht ohne Triggerwarnung abgehen: „Enthält sexistische und zionistische Inhalte“.)
Der eine Tag, an dem Ulysses spielt, der 16. Juni 1904, ist heute einhundertzwanzig Jahre und elf Tage her. Oder müsste man, da es sich ja um eine fiktive Handlung handelt, sagen: Der 16. Juni 1904, wie er in Ulysses erzählt wird, wäre heute einhundertzwanzig Jahre und elf Tage her gewesen, wenn es sich um eine reale Handlung gehandelt hätte. Also um reale Geschichte – den Alptraum, siehe oben – und nicht um einen Traum, genauer: einen Tagtraum. Und zwar einen Tagtraum von einem konkreten (aber fiktiven) Tag, nämlich eben dem 16. Juni 1904, also um eine erfundene Geschichte? Jenseits – oder diesseits, einigen wir uns vielleicht der Einfachheit halber auf abseits – solcher theoretischen Überlegungen hat sich die Praxis etabliert, am 16. Juni den Bloomsday zu begehen, sich also in Dublin an den Originalschauplätzen des Romans auf die Spuren von dessen Protagonist:innen zu begeben.
Der Aufbruch zu einer Bloomsday-Tour ist, nicht nur in Dublin, sondern überall auf der Nordhalbkugel, ein Aufbruch in den Frühling – denn der steht am 16. Juni ja noch in full bloom, bevor er fünf Tage später verblüht, um den Platz zu räumen für die Fruchtstände des Sommers.
Im Werk von Joyce dagegen stellt Ulysses zweifelsohne den Sommer der Hochmoderne dar, von dem aus er dann mit Finnegans Wake zum allmählich Richtung Postmoderne dämmernden, langen dunklen Fünf-Uhr-Tee der Sprache aufbrechen wird. Der Frühling zum Sommer von Ulysses ist selbstverständlich – da durch die Figur von Stephen eine direkte Verbindung besteht – in erster Linie Ein Porträt des Künstlers als junger Mann. Doch ob Frühling oder Sommer, der Ulysses ist natürlich wie sein antikes Vorbild eine Geschichte des Aufbruchs par excellence. Oder vielmehr: der Aufbrüche, im Plural. Denn genau das zeichnet die klassische und die moderne Odyssee ja aus: Dass der Held nicht bei A aufbricht, reist und bei B ankommt, sondern dass er immer wieder stecken-, stehen-, sitzen- oder hängenbleibt, am Fortkommen scheitert. Bis ihm dann doch ein erneuter Aufbruch gelingt: „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.“
Dieses ebenfalls stark strapazierte Zitat ist natürlich nicht von Joyce, sondern von einem anderen Iren, der wie sein Landsmann Joyce in biografischer wie literarischer Hinsicht aus dem englischen Sprachraum hinaus aufbrach. Während Joyce in Finnegan's Wake sozusagen die Mehrsprachigkeit ins Englische hineinholte (was sich in Ulysses ja bereits andeutet), erschloss sich Samuel Beckett, aus dessen Prosa Worstward Ho das Zitat stammt, mit seinem charakteristischen Französisch eine zusätzliche Literatursprache ganz eigener Prägung.
Glaubt man der Legende (also der Wikipedia), so war Samuel Beckett beim ersten Bloomsday dabei. Also nicht am 16. Juni 1904, da war er noch nicht geboren, bzw. wäre er noch nicht geboren gewesen, wenn es sich bei diesem Tag um einen realen Tag gehandelt hätte, sondern bei der ersten Begehung des Bloomsday als Ritual am 16. Juni 1929 – nicht am Originalschauplatz des Romans, sondern in Paris, wo Joyce und Beckett damals beide lebten. Im Wikipedia-Artikel Bloomsday heißt es: „Joyce hatte in der Nähe von Paris ein Hotel Leopold entdeckt und lud seine Familie, seine Verlegerin Sylvia Beach und einige befreundete Schriftsteller, darunter Samuel Beckett, dorthin zu einem ‚déjeuner Ulysses‘ ein.“
Da würde einen natürlich die Speisenfolge interessieren! Hätte sich ein französischer Maître de cuisine von Joyce überreden lassen, unter Aufgabe jeglicher Berufsehre ein Menü aus Gorgonzolabrot und angebrannter Schweineniere zu kredenzen, nur um einen Bezug zur Romanhandlung herzustellen? Doch über das Menü schweigt sich die Wikipedia aus. Stattdessen zitiert sie eine von David Norris überlieferte Anekdote, die spärlich belegt ist, aber viel zu gut, um sie nicht zu glauben: „Auf dem Rückweg nach Paris […] bestanden Joyce und Beckett darauf, an jeder Kneipe anzuhalten, um noch mehr Wein zu trinken. Irgendwann wurde es dem Kutscher, der die Gesellschaft begleitete, zu bunt. Er fuhr los und ließ den völlig betrunkenen Beckett in einer Kneipentoilette zurück, von der dieser erst am nächsten Tag wieder nach Paris zurück gelangte.“
Die Poesie dieser Anekdote liegt darin, dass uns Beckett darin erscheint wie eine seiner literarischen Figuren. Ausgestoßene, Vor-die-Tür-Gesetzte, doch auch Eingesperrte und Nicht-mehr-vom-Fleck-Kommende bevölkern ja allenthalben sein Werk.
Beckett und sein Fan Fiebig (Collage Gerald Fiebig)
Während Stephen Dedalus am Bloomsday sich die Geschichte noch als einen in der Zeit verlaufenden Prozess vorstellen kann – ob man diesen nun durch Aufwachen verlassen kann oder nicht – , dreht sich bei Beckett alles um Stillstand. Sein Werk spielt am Doomsday, am Ende von allem, oder vielmehr: unmittelbar vorher oder nachher. Die Frage, ob es sich um ein Davor oder ein Danach handelt, ist meist sehr schwierig zu entscheiden, was nicht unwesentlich zur Faszination seiner Texte beiträgt. Das Endspiel etwa erschien seinen Zeitgenossen durchaus als „Atomstück“ (Theodor W. Adorno) über die Situation nach einer nuklearen (Kriegs-)Katastrophe, aber es war immer klar, dass es sich nicht darauf reduzieren lässt.
Und ein Text wie Der Verwaiser, der sich explizit auf Dantes Hölle (also eine Nach-Tod-Erfahrung) bezieht, irritiert immer wieder mit der Möglichkeit, dass es eben vielleicht doch noch nicht vorbei ist: „Alles geht vielleicht zu Ende.“ Aber wann? Und wo? Und wie oft? Der Verwaiser steht unverhohlen vor einem Doomsday-Horizont. Aber ist damit ein einmaliges Geschehen gemeint? Der französische Text Le dépeupleur spricht von „une fin de monde“, also „einem Weltenende“ (so hat es Elmar Tophoven übersetzt, aber das stärker zum Singular tendierende „Weltende“ wäre auch legitim) – könnte es also mehrere Enden (einer oder mehrerer Welten?) geben?
Becketts eigene englische Fassung The Lost Ones spricht von „the end of a world“, also das (einzige) Ende einer Welt. – Das dann wohl jeder Welt bevorsteht, aber wie viele Welten mag es wohl geben, denen es widerfährt? Widerfahren wird? Schon widerfahren ist?
„Seit jeher geht das Gerücht, oder noch besser, gilt der Gedanke, daß es einen Ausweg gibt.“ Dieser Satz aus Der Verwaiser ist ein Schlüssel dazu, warum einen das Werk von Beckett nicht in Ruhe lässt: Weil es einem die Nichtigkeit allen Strebens in einem entropischen Universum mit sinnlicher Prägnanz vor Augen führt – und einem gleichzeitig den quasimetaphysischen, nirvanagleichen Trost der Selbstaufgabe versagt, den die Vorstellung eines völligen Stillstands ja auch in sich birgt.
Doch nein, nicht einmal der Stillstand kann in einer zutiefst unperfekten Welt perfekt sein. Man weiß, dass es kein Alptraum ist, aus dem man erwachen könnte, und dass sich jede Hoffnung als „Gerücht“ erweisen wird. Man wird also immer wieder aufbrechen müssen, „to fail better“. – Aber manchmal reicht die Kraft eben nur für den Aufbruch zu einer Sauftour, um die nagende Stimme der Hoffnung kurz zum Verstummen zu bringen.
„Kunst“, schrieb Adorno in seinen Bemerkungen über Beckett in der Ästhetischen Theorie, „vermag mit ihrer eigenen Existenz nur dadurch zu versöhnen, daß sie die eigene Scheinhaftigkeit, ihren inwendigen Hohlraum nach außen kehrt.“ Oder eben diesen inwendigen Hohlraum mit Alkohol füllt, so wie Beckett zusammen mit Joyce am 16. Juni 1929, den Doomsday. Sic! Weil in der Welt, die Beckett uns gezeigt hat, jeder Tag Doomsday ist. Und der nächste auch. Egal zu welcher Jahreszeit.
In diesem Sinne: Cheers! Santé! Sláinte! Und auf in den Sommer. Der Frühling ist ja schon seit sieben Tagen vorbei.